Rz. 80
Analoge Anwendung von § 50d Abs. 1 Satz 2 gemäß BFH. Allerdings hat der BFH eine analoge Anwendung von § 50d Abs. 1 Satz 2 im Fall einer unionsrechtswidrig einbehaltenen Kapitalertragsteuer zugelassen. Diesem Urteil liegt die besondere Konstellation zugrunde, dass eine französische S.A.S. (société par actions simplifiée) als Muttergesellschaft und Kapitalertragsteuergläubigerin nur deshalb nicht von der Steuerbefreiung des § 43b EStG erfasst wurde, weil sie in dem dortigen streitigen Zeitraum (noch) nicht unter den entsprechenden Katalog begünstigter Kapitalgesellschaften i.S.d. § 43b EStG fiel. Bei der Verabschiedung der Richtlinie und bei deren Umsetzung in nationales Recht gab es die Rechtsform der S.A.S. nämlich noch nicht. In der Nicht-Erfassung der S.A.S. sah der BFH unter Hinweis auf das EuGH-Urteil vom 1.10.2009 keinen Verstoß gegen Unionsrecht. Aus diesem Grund war § 43b EStG und der dazu ergangene, abschließende Katalog begünstigter Kapitalgesellschaften aus verfassungs- oder unionsrechtlichen Gründen nicht erweiternd und auch nicht aufgrund der Annahme einer Regelungslücke analog auf die S.A.S. anzuwenden.
Rz. 81
Anwendungsbereich von § 50d Abs. 1 analog und dessen Begründung. Der BFH sah jedoch eine Diskriminierung der ausländischen Muttergesellschaft insoweit, als Dividenden, die an Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten ausgeschüttet werden, in Deutschland anders als Dividenden, die an Gesellschaften mit Sitz in Deutschland ausgeschüttet werden, wirtschaftlich einer höheren Besteuerung unterworfen werden, weil die einbehaltene Kapitalertragsteuer bei ihr weder angerechnet (vgl. § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG) noch vergütet (vgl. § 36 Abs. 4 Satz 2 EStG) wird, sondern nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 KStG abgeltenden Charakter hat und sonach bei ihr definitiv wird. Hierin erkannte der BFH eine Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit. Vor diesem Hintergrund entschied der BFH, dass die ausländische Muttergesellschaft – nicht anders als Steuerinländer – gehalten ist, den Steuerabzug zunächst hinzunehmen (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 3 EStG) und ihr Begehren sodann im Rahmen eines (nachträglichen) Erstattungsverfahrens auf anderer Rechtsgrundlage – in entsprechender Anwendung von § 50d Abs. 1 Satz 1 und gerichtet auf Erlass eines entsprechenden Freistellungsbescheids gem. § 155 Abs. 1 Satz 3 AO – durchzusetzen. Die Entscheidungszuständigkeit darüber obliegt dem örtlich und sachlich zuständigen Finanzamt (vgl. § 20 Abs. 3 und 4 AO), nicht aber dem Bundeszentralamt für Steuern, dessen Sachzuständigkeit im Finanzverwaltungsgesetz abschließend bestimmt wird.
Rz. 82
Beschränkung der analogen Anwendung. Somit betrifft die Analogie nur die verfahrensrechtliche Erstattung und nicht auch die Zuständigkeit oder die Verjährungsfrist. Die Analogie betrifft nur den Rechtsgedanken und die Rechtsfolge von § 50d Abs. 1, nicht aber die gesamte Regelung, d.h. nicht die beschränkte Antragsfrist und auch nicht die Möglichkeit der Freistellung nach Abs. 2.
Rz. 83
Weitere Fallgruppe einer analogen Anwendung. Eine analoge Anwendung der Erstattung nach § 50d Abs. 1 Satz 2 wurde vom BFH auch dann gewährt, wenn das Finanzamt die Lohnsteuer unter Hinweis auf eine bestehende unbeschränkte oder beschränkte Steuerpflicht einbehält und der Steuerpflichtige geltend macht, nicht unbeschränkt steuerpflichtig zu sein. Erlässt das Finanzamt einen Einkommensteuerbescheid wegen angeblich bestehender unbeschränkter Steuerpflicht, so muss zunächst dessen Aufhebung und anschließend die Erstattung der einbehaltenen Lohnsteuer beantragt werden.