Erste Tätigkeitsstätte bei Auslandssemester im Rahmen eines Vollzeitstudiums
Nach § 9 Abs. 4 EStG ist erste Tätigkeitsstätte die ortsfeste betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers, eines verbundenen Unternehmens oder eines vom Arbeitgeber bestimmten Dritten, der der Arbeitnehmer dauerhaft zugeordnet ist. Die Zuordnung wird durch die dienst- oder arbeitsrechtlichen Festlegungen sowie die diese ausfüllenden Absprachen und Weisungen bestimmt. Von einer dauerhaften Zuordnung ist insbesondere auszugehen, wenn der Arbeitnehmer unbefristet, für die Dauer des Dienstverhältnisses oder über einen Zeitraum von 48 Monaten hinaus an einer solchen Tätigkeitsstätte tätig werden soll.
Bildungseinrichtung als erste Tätigkeitsstätte
Als erste Tätigkeitsstätte gilt aber auch eine Bildungseinrichtung, die außerhalb eines Dienstverhältnisses zum Zwecke eines Vollzeitstudiums oder einer vollzeitigen Bildungsmaßnahme aufgesucht wird. Ein Vollzeitstudium oder eine vollzeitige Bildungsmaßnahme i. S. der Regelung des § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG liegt insbesondere vor, wenn der Steuerpflichtige im Rahmen des Studiums oder im Rahmen der Bildungsmaßnahme für einen Beruf ausgebildet wird und daneben entweder keiner Erwerbstätigkeit nachgeht oder während der gesamten Dauer des Studiums oder der Bildungsmaßnahme eine Erwerbstätigkeit mit durchschnittlich bis zu 20 Stunden regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit oder in Form eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses ausübt.
Beispiel: Vollzeitstudium mit Auslandssemester
A lebt bei ihren Eltern und nahm nach seiner abgeschlossenen Erstausbildung ein Studium (Vollzeit) im Inland auf. Im Rahmen des Studiums ist vorgeschrieben, dass ein Auslandssemester von 6 Monaten absolviert werden muss, welches in 2017 an einer Universität in Dänemark stattfand. Nach Ablauf des Auslandssemesters studiert A wieder an der Universität im Inland.
Für FG Münster ist das Aufsuchen entscheidend
Das FG Münster (Urteil v. 24.1.2018, 7 K 1007/17 E, F) schließt aus § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG, dass die für Arbeitnehmer geltenden Regelungen nicht für Studenten gelten, sondern allein für das Vorliegen einer ersten Tätigkeitsstätte entscheidend ist, dass eine Bildungseinrichtung aufgesucht wird. Die Bildungseinrichtung im Inland könne während des Auslandssemesters nicht als erste Tätigkeitsstätte angesehen werden, weil diese tatsächlich nicht aufgesucht wird. Anders als bei der ersten Tätigkeitsstätte eines Arbeitnehmers, bei der in erster Linie die Zuordnung durch den Arbeitgeber entscheidend sei, stelle der Wortlaut allein auf das tatsächliche Aufsuchen der Bildungseinrichtung ab.
Die Regelung sei vor dem Hintergrund entstanden, dass der Steuerpflichtige in Fällen eines Vollzeitstudiums keinem Direktionsrecht unterliegt, sondern selbst die Entscheidung für die jeweilige Bildungseinrichtung trifft, er aber insoweit mit einem Arbeitnehmer gleichzustellen ist, als er die Möglichkeit hat, sich auf die ihm entstehenden Wegekosten einzurichten und deren Höhe zu beeinflussen. Auch wenn nach der Studienordnung zwingend ein Auslandssemester zu absolvieren sei, könne man sich die ausländische Hochschule selbst aussuchen und unterliege man insoweit keinem Direktionsrecht.
Folgt man dieser Auffassung, kann A seine Kosten allenfalls im Rahmen einer doppelten Haushaltsführung geltend machen. Eine doppelte Haushaltsführung liegt aber nur dann vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Orts seiner ersten Tätigkeitsstätte einen eigenen Hausstand unterhält und auch am Ort der ersten Tätigkeitsstätte wohnt. Das Vorliegen eines eigenen Hausstandes setzt das Innehaben einer Wohnung sowie eine finanzielle Beteiligung an den Kosten der Lebensführung voraus. Die Fahrten von der Wohnung in Dänemark zur ersten Tätigkeitsstätte sind dabei nur im Rahmen der Entfernungspauschale absetzbar.
Abweichende Auffassung in der Literatur
Nach anderer Auffassung in der Literatur (Maciejewski, FR 2016 S. 882) wollte der Gesetzgeber durch die Fiktion erreichen, dass der Student einem dauerhaft an eine bestimmte Tätigkeitsstätte abgeordneten Arbeitnehmer gleichgestellt wird. Bei einem Auslandssemester ist von vornherein klar, dass der Student an die Heimathochschule zurückkehrt; der Auslandsaufenthalt erfolgt als unselbstständiger, nicht völlig frei wählbarer Teil einer Gesamtausbildung im Inland. Ein vorübergehender Aufenthalt von nur wenigen Monaten würde auch bei einem Arbeitnehmer nicht für eine dauerhafte Zuordnung und damit für die Begründung einer ersten Tätigkeitsstätte ausreichen.
Die organisatorische Verzahnung zwischen Inlands- und Auslandsstudium spreche vielmehr dafür, dass die erste Tätigkeitsstätte des Studenten auch für die Zeit des Auslandsaufenthalts weiterhin an seiner Heimathochschule liegt. Nur in Bezug auf diese hat er auch langfristig die Möglichkeit, seine Anreisekosten zu reduzieren. Dies hätte zur Folge, dass A die tatsächlichen Übernachtungskosten am ausländischen Studienort, Verpflegungsmehraufwendungen und Fahrtkosten nach Reisekostengrundsätzen geltend machen könnte.
Revisionsverfahren anhängig
Gegen die Entscheidung des FG Münster lief ein Revisionsverfahren vor dem BFH.
Aktualisierung vom 13.7.2018: Zwischenzeitlich weitere Revisionsverfahren anhängig
Zu dem Thema erste Tätigkeitsstätte am Ort der Bildungseinrichtung war zwischenzeitlich ein weiteres Revisionsverfahren (VI R 24/18) anhängig. Hier hatte sich das FG Nürnberg (Urteil v. 9.5.2018, 5 K 167/17) mit der Frage zu beschäftigen, ob bei einem mehr als drei Monate angelegten, in Vollzeit außerhalb eines Arbeitsverhältnisses absolvierten Fortbildungslehrgang am Ort der Bildungseinrichtung eine erste Tätigkeitsstätte besteht. Der Kläger absolvierte in Vollzeit einen Schweißtechnikerlehrgang vom 8.9. bis 18.12.2014. Das FG kam auch hier zu dem Ergebnis, dass die Bildungseinrichtung als erste Tätigkeitsstätte anzusehen ist. Dem stehe auch die befristete Lehrgangsdauer von gut drei Monaten nicht entgegen, weil der Gesetzeswortlaut nicht von einer Zuordnung für einen bestimmten Zeitraum spricht, sondern vom tatsächlichen Aufsuchen (siehe oben auch die Begründung des FG Münster).
M. E. ist der Auffassung des FG Nürnberg im Urteilsfall grundsätzlich zuzustimmen. Hierfür spricht entsprechend der Literaturmeinung ein Vergleich mit dem Arbeitnehmer. Denn auch bei Arbeitnehmern gibt es keine Mindestdauer für die Annahme einer ersten Tätigkeitsstätte, sondern eine erste Tätigkeitsstätte liegt z. B. auch dann vor, wenn der Arbeitnehmer für die Dauer des Dienstverhältnisses an einer ortsfesten betrieblichen Einrichtung des Arbeitgebers tätig werden soll. Interessanterweise zieht das FG aber trotzdem eine praktikable Lösung entsprechend der Dreimonatsfrist für Verpflegungsmehraufwendungen nach § 9 Abs. 4a Satz 6 EStG in Erwägung. Der der Regelung zugrundeliegende Gedanke, dass eine auf mehr als drei Monate angelegte Tätigkeit es dem Steuerpflichtigen ermöglicht, seine Lebensumstände kostenmindernd zu organisieren, sei durchaus für die Auslegung des Begriffs der "vollzeitigen Bildungsmaßnahme" zur Ermittlung der ersten Tätigkeitsstätte, wobei es ebenfalls um die mögliche Kostenminderung aufgrund der Absehbarkeit eines längeren Tätigwerdens an einem bestimmten Ort geht, heranzuziehen.
Aktualisierung v. 30.10.2020: BFH schließt sich Literaturmeinung und dem FG Nürnberg an
Bezüglich des Auslandssemesters hat sich der BFH aktuell der Meinung der Literatur angeschlossen (Urteil v. 14.5.2020, VI R 3/18). Die inländische Hochschule bleibt auch während des Auslandssemesters die erste Tätigkeitsstätte, sodass Kosten für Unterkunft und Verpflegungsmehraufwand im Ausland als vorweggenommen Werbungskosten geltend gemacht werden können. Es liegt eine Auswärtstätigkeit vor. Der Stpfl. sucht die Bildungseinrichtung in Vollzeitausbildung und damit seine erste Tätigkeitsstätte vorübergehend nicht auf, weil er nach der Studienordnung Teile der Ausbildung (wie z. B. Auslands-, ein Praxissemester oder ein Praktikum) an einer auswärtigen Bildungseinrichtung absolvieren kann bzw. muss. Dies gilt jedenfalls dann, soweit der Stpfl. nach der Ausbildungs-/Studienordnung weiterhin der bisherigen Bildungsreinrichtung zugeordnet (eingeschrieben) bleibt. Nur diese Auslegung bewirkt eine Gleichstellung mit einem Arbeitnehmer, der am auswärtigen Tätigkeitsort keine erste Tätigkeitsstätte begründet, wenn er dort nicht dauerhaft, sondern nur vorübergehend seinen Beruf ausübt.
Hinweis: Aus dem Urteil ergibt sich m. E. noch ein interessanter Hinweis. Die Stpfl. lebte noch – wie hier - bei seinen Eltern und hat bei einem Auslandsaufenthalt eine Unterkunft angemietet. Anders als bei einer doppelten Haushaltsführung, ist es bei einer Auswärtstätigkeit nicht entscheidend, ob der Stpfl. eine Wohnung/Unterkunft aus eigenem Recht oder als Mieter innehat und sich an den Kosten der Lebensführung finanziell beteiligt. Ein Zimmer bei den Eltern reicht also aus, um Kosten für eine Auswärtstätigkeit geltend zu machen.
Im Urteilsfall leistete die Stpfl. neben dem Auslandssemester auch noch ein Praxissemester in London. Während des Praxissemesters war sie Vollzeit als Arbeitnehmerin tätig und erhielt hierfür eine Vergütung. Der BFH erkannte zurecht, dass die Stpfl. bei dem ausländischen Arbeitgeber eine erste Tätigkeitsstätte besitzt (pro Dienstverhältnis kann eine erste Tätigkeitsstätte vorliegen, hier das Kriterium für die Dauerhaftigkeit = für die Dauer des Dienstverhältnisses). Es liegt nun die Vermutung nahe, dass die Kosten für die Unterkunft in London nur dann geltend gemacht werden können, wenn die Stpfl. die Kriterien der doppelten Haushaltsführung erfüllt. Der BFH vertritt aber die Auffassung, dass zwar die Kosten auch im Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis stehen; dieser Erwerbsaufwand aber zugleich durch das in Form des Praxissemesters fortgesetzte Studium im Inland veranlasst ist. In diesem Rechtsverhältnis sei der engere und wirtschaftlich vorrangige Veranlassungszusammenhang der Aufwendungen zu verorten. Denn das maßgebliche auslösende Moment für die Entstehung der Unterkunftskosten und Verpflegungsmehraufwendungen sei der Umstand, dass die Stpfl. dieses Praxissemester aufgrund der Vorgaben der Prüfungsordnung im Rahmen ihres Vollzeitstudiums im Ausland zu absolvieren hatte. Bezogen auf dieses Rechtsverhältnis handele es sich bei der Tätigkeit im Ausland um eine auswärtige Tätigkeit i. S. des § 9 Abs. 4a Satz 2 EStG.
Die Auffassung des BFH stellt einen erheblichen Vorteil dar, weil es trotz Dienstverhältnis und erster Tätigkeitsstätte nicht auf das Vorliegen einer doppelten Haushaltsführung ankommt. Ein zusätzlicher Vorteil ist m. E. in der Frage der Besteuerung zu sehen. Wird der Arbeitslohn im Ausland besteuert, wären Kosten nur im Rahmen des Progressionsvorbehalts (Ermittlung des Werts für den Progressionsvorbehalt nach inländischen Maßstäben Einnahmen-Werbungskosten) zu berücksichtigen. Da die Kosten aber dem inländischen Vollzeitstudium zuzurechnen sind, kommt es hierauf nicht an.
Bei dem mehr als drei Monate angelegten Fortbildungslehrgang (in Vollzeit außerhalb eines Arbeitsverhältnisses) hat sich der Der BFH (Urteil vom 14.05.2020 - VI R 24/18) im Ergebnis dem FG angeschlossen; auf die Dauer der Bildungsmaßnahme kommt es dabei aber nicht an. Eine vollzeitige Bildungsmaßnahme liegt - in Abgrenzung zu einer nur in Teilzeit durchgeführten Maßnahme - vor, wenn die berufliche Fort- oder Ausbildung - wie hier - typischerweise darauf ausgerichtet ist, dass sich der Steuerpflichtige ihr zeitlich vollumfänglich widmen muss und die Lerninhalte vermittelnden Veranstaltungen jederzeit besuchen kann. Eine Bildungseinrichtung gilt auch dann als erste Tätigkeitsstätte, wenn sie vom Steuerpflichtigen im Rahmen einer nur kurzzeitigen Bildungsmaßnahme aufgesucht wird. Davon ist auszugehen, wenn der Steuerpflichtige die Bildungseinrichtung anlässlich der regelmäßig zeitlich befristeten Bildungsmaßnahme nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit, d.h. fortdauernd und immer wieder (dauerhaft) aufsucht. Eine zeitliche Mindestdauer der Bildungsmaßnahme ist nicht erforderlich. § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG setze nach ihrem Wortlaut lediglich eine vollzeitige Bildungsmaßnahme außerhalb eines Dienstverhältnisses, nicht aber eine bestimmte Zeitdauer einer solchen Bildungsmaßnahme voraus.
Auch der Umstand, dass der Gesetzgeber Steuerpflichtige in Vollzeitausbildung mit Arbeitnehmern vergleicht, die aufgrund der dauerhaften Zuordnung zu einer betrieblichen Einrichtung über eine erste Tätigkeitsstätte verfügen, spreche gegen eine solche Zeitkomponente, weil sich beide Personengruppen insoweit auf bestimmte Werbungskosten einrichten und deren Höhe beeinflussen können. Das die Dauer des jeweiligen Arbeitsverhältnisses für das Auffinden der ersten Tätigkeitsstätte unerheblich ist, wird insbesondere in § 9 Abs. 4 Satz 3 EStG deutlich, wonach auch bei kurzzeitigen Arbeits- oder Dienstverhältnissen (für die Dauer des Dienstverhältnisses) eine erste Tätigkeitsstätte vorliegen kann.
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