BFH Kommentierung: EuGH-Vorlage zur Organschaft

Der BFH hat dem EuGH mehrere Fragen im Zusammenhang mit einer umsatzsteuerlichen Organschaft zur Vorabentscheidung vorgelegt. Bei Bejahung dieser Fragen durch den EuGH drohen dem deutschen Fiskus Steuerausfälle in 3-stelliger Milliardenhöhe und Beratern, die betroffene Veranlagungen nicht rechtzeitig offen halten, erhebliche Regressforderungen.

Um diese zwei Fragen geht es im Kern:

1. Ist nach EU-Recht nicht der „Organträger“, sondern die im deutschen Recht bislang unbekannte „Mehrwertsteuergruppe“ als Steuerschuldner der Organschaftsumsätze anzusehen?

2. Verhindert eine einschränkende Auslegung des EuGH-Urteils VNLTO die Entnahmebesteuerung bei hoheitlicher und ideeller Verwendung?

Vorabveröffentlichung aus der BFH/PR, Heft 8 (August) 2020

Die monatlich erscheinende Zeitschrift mit allen Kommentierungen zu den amtlich veröffentlichten BFH-Entscheidungen, wichtigen NV-Entscheidungen sowie zu Urteilen des BVerfG sowie des EuGH

Leitsatz

Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist die in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG für die Mitgliedstaaten vorgesehene Ermächtigung, in ihrem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln, in der Weise auszuüben,

a) dass die Behandlung als ein Steuerpflichtiger bei einer dieser Personen erfolgt, die Steuerpflichtige für alle Umsätze dieser Personen ist oder in der Weise,

b) dass die Behandlung als ein Steuerpflichtiger zwingend – und damit auch unter Inkaufnahme erheblicher Steuerausfälle – zu einer von den eng miteinander verbundenen Personen getrennten Mehrwertsteuergruppe führen muss, bei der es sich um eine eigens für Mehrwertsteuerzwecke zu schaffende fiktive Einrichtung handelt?

2. Falls zur ersten Frage die Antwort a) zutreffend ist: Folgt aus der EuGH-Rechtsprechung zu den unternehmensfremden Zwecken i.S. von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG (EuGH-Urteil VNLTO, EU:C:2009:88), dass bei einem Steuerpflichtigen,

a) der zum einen eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt und dabei entgeltliche Leistungen i.S. von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG erbringt und

b) der zum anderen zugleich eine Tätigkeit ausübt, die ihm im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegt (Hoheitstätigkeit), für die er nach Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 77/388/EWG nicht als Steuerpflichtiger gilt,

die Erbringung einer unentgeltlichen Dienstleistung aus dem Bereich seiner wirtschaftlichen Tätigkeit für den Bereich seiner Hoheitstätigkeit keine Besteuerung nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG vorzunehmen ist?

BFH Beschluss vom 07.05.2020 - V R 40/19

Normenkette: § 2 Abs. 2 Nr. 2, § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG, Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2, Art. 6 Abs. 2 6. EG-RL (= EWGRL 388/77)

Praxis-Hinweise

1. Sucht man im Umsatzsteuerrecht nach einem Pendant zur Büchse der Pandora, wird man aus Sicht des Fiskus bei der Mehrwertsteuergruppe fündig.

a) Die nationale Regelung zur Organschaft in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG leitet sich unionsrechtlich aus Art. 11 MwStSystRL (Art. 4 Abs. 4 UA 2 der 6 RL) ab. Danach können die Mitgliedstaaten mehrere eng miteinander verbundene Personen zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln.

Den Begriff der Mehrwertsteuergruppe verwendet die Richtlinie weder hier noch anderweitig. Gleichwohl hat sich dieser Begriff zur Umschreibung der Zusammenfassung nach Art. 11 MwStSystRL mittlerweile eingebürgert. Dies beruht zum einen darauf, dass die Bezeichnung der zusammenfassenden Behandlung mehrerer eng miteinander verbundener Personen zu einem Steuerpflichtigen zwar sprachlich genau ist, aber schwerfällig wirkt. Zum anderen verwendete die Europäische Kommission den Begriff der Mehrwertsteuergruppe in mehreren Vertragsverletzungsverfahren zu Art. 11 MwStSystRL.

Schließlich hatte der EuGH zweimal über die Bedeutung dieser Bestimmung mit Bezug zum schwedischen Recht zu entscheiden, das anstelle des Begriffs der Organschaft den der Mehrwertsteuergruppe verwendet.

b) Mit der Begriffsverschiebung zur Mehrwertsteuergruppe geht die Vorstellung einher, dass die Zusammenfassung nach Art. 11 MwStSystRL nicht bei einer der eng verbundenen Person erfolgt, sondern bei einer von dieser getrennten „fiktiven Einrichtung“.

So hat der BFH erst kürzlich den EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen um Klärung gebeten, ob die Richtlinie es einem Mitgliedstaat (Deutschland) gestattet, anstelle der Mehrwertsteuergruppe eines ihrer Mitglieder (den Organträger) zum Steuerpflichtigen zu bestimmen (BFH-Beschluss vom 11. Dezember 2019,XI R 16/18; EuGH C- 141/20, Rechtssache Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie).

c) Das sich hieraus für den Fiskus im Inland ergebende Aufkommensrisiko wird auf einen dreistelligen Milliardenbetrag geschätzt (Szabó/Joost, UVR 2020, 153, 157). Dies erklärt sich daraus, dass sich für Organträger nunmehr die Möglichkeit abzeichnet, sich jeglicher Besteuerung zu entziehen, sollte der EuGH die ihm gestellte Frage dahingehend beantworten, dass anstelle des Organträgers die im nationalen Recht unbekannte Mehrwertsteuergruppe Steuerschuldner für die Umsätze der Organschaft ist.

2. In dieser Gemengelage hatte der BFH nunmehr über einen weiteren Fall mit Bezug zur Organschaft zu entscheiden.

a) Hier geht es im Kern um die Frage, ob ein Organträger, der Leistungen von seiner Organgesellschaft für außerunternehmerische Zwecke (unternehmensfremde Zwecke) bezieht, zur Besteuerung einer sog. Dienstleistungsentnahme nach § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG (Art. 26 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL und zuvor Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der 6. RL) verpflichtet ist.

b) Grundlage ist hierfür die Rechtsprechung des BFH, nach der die Organschaft auch zu einer juristischen Person des öffentlichen Rechts vollumfänglich besteht, so dass der Leistungsbezug von einer Organ-GmbH stets als Innenumsatz nicht steuerbar ist, aber zu einer Entnahmebesteuerung führen kann (BFH-Urteil vom 20. August 2009 V R 30/06, BStBl II 2010, 863).

c) Dies beruht auf der früher nie in Frage gestellten Annahme, dass Entnahmen eines Hoheitsträgers aus seinem Unternehmen für seine Hoheitstätigkeit zu einer Entnahmebesteuerung führen (BFH, Urteil vom 10. Februar 1994, V R 33/92, BFH/NV 1994, 57, HI 65253, BStBl II 1994, 668).

Ob dies auch unionsrechtlich zutrifft, ist durch das EuGH-Urteil VNLTO vom 12. Februar 2009, C-515/07, EU:C:2009:88, fraglich geworden, wie im Schrifttum bereits vielfach geltend gemacht wurde. Die Bedeutung des in seiner vollen Tragweite bis heute rätselhaft gebliebenen EuGH-Urteils könnte sich allerdings auch auf eine bloße Einschränkung des Vorsteuerabzugs ohne weitergehende Folgen für die eigenständige Entnahmebesteuerung beschränken. Hieraus erklärt sich die zweite Frage des hier vorliegenden Vorlagebeschlusses, die für die Umsatzbesteuerung von Hoheitsträgern von großer Bedeutung ist.

3. Die Sprengkraft der dem EuGH in der Rechtssache C-141/20 vorgelegten Frage (s. oben 1.) zeigt sich auch daran, dass der BFH in seiner neuen Vorlage die Frage zur Bedeutung des EuGH-Urteils VNLTO (s. oben 2.) nur subsidiär stellt und stattdessen vorrangig in Erfahrung bringen muss, ob die Organschaft mit einer Steuerschuld des Organträgers unionsrechtlich zwingend durch die Steuerschuld einer Mehrwertsteuergruppe als eigenständiger, aber fiktiver Einrichtung zu ersetzen ist.

Denn sollte dies zu bejahen sein, wäre der vom Organträger angefochtene Steuerbescheid bereits deshalb aufzuheben, weil der Organträger überhaupt nicht Steuerschuldner für die vom ihm ausgeführten Umsätze ist. Diese wären unionsrechtlich dann bei einer Mehrwertsteuergruppe zu erfassen, wobei sich eine Besteuerung dieser Gruppe mangels Existenz im nationalen Recht wohl als unmöglich erweisen würde.

Es käme dann zu dem im Schrifttum bereits beschriebenen Desaster für den Fiskus (s. oben 1.c). Um diesen Fragenkreis geht es bei der ersten Vorlagefrage, zu der der BFH auf die möglichen Aufkommensfolgen hinweist. Dies soll den EuGH nicht zu einer Rechtsprechung nach Kassenlage veranlassen, sondern ihm lediglich verdeutlichen, dass es sich hier nicht um eine Fragestellung mit esoterischem Charakter geht.

4. Welchen Ausgang die Sache nimmt, ist nicht abzusehen.

a) In Bezug auf die Organschaft könnte der EuGH die bislang h. M. im Inland, die in der Steuerschuld des Organträgers keinen Verstoß gegen das Unionsrecht sieht, mit dem bloßen Hinweis bestätigen, dass der Richtlinie der Begriff der Mehrwertsteuergruppe fremd ist und zudem aus einem bloßen Begriff keinerlei Rechtsfolgen abzuleiten sind.

Sachgründe, die für eine zwingende Besteuerung bei der Mehrwertsteuergruppe sprechen, sind nicht bekannt und werden auch nicht vom BFH in den von ihm eingeleiteten Vorabentscheidungsersuchen dargelegt.

b) Auch bei der Entnahmebesteuerung sind abgesehen von Ableitungen aus dem EuGH-Urteil VNLTO keine Sachargumente ersichtlich, die der Entnahmebesteuerung entgegenstehen.

Dies gilt insbesondere bei einer auf die entgeltliche Leistungstätigkeit (wirtschaftliche Tätigkeit) bezogenen Betrachtungsweise. Nimmt man diese zum Maßstab, ist eine Entnahme aus dem wirtschaftlichen Tätigkeitsbereich zu erfassen, ohne danach zu differenzieren, ob die Entnahme privaten oder hoheitlichen Zwecken dient. Dieselbe Frage stellt sich im Übrigen auch für Vereine bei Entnahmen aus dem Unternehmen für nichtwirtschaftliche ideelle Tätigkeiten.

c) Es bliebe dann alles wie bisher. Wer aber darauf vertraut, dass der EuGH bisherige Sichtweisen bestätigt, wurde schon häufig enttäuscht. Insbesondere für die steuerrechtliche Beratung ist die somit bestehende Gemengelage nicht unproblematisch. So wenig wahrscheinlich ein Ende von bisheriger Organschaft und Entnahmebesteuerung bei hoheitlicher sowie ideeller Verwendung vielleicht auch sein mag, könnte einer gleichwohl möglichen zukünftigen Sichtweise dieser Art bereits jetzt Rechnung zu tragen sein.

Sachverhalt

Die Klägerin, eine Stiftung des öffentlichen Rechts, ist Trägerin einer Universität mit Universitätsklinikum. Sie ist zugleich Organträgerin einer GmbH nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG. Die GmbH erbrachte insbesondere Reinigungsleistungen an die Klägerin, die sie sowohl für den unternehmerischen Klinikteil als auch für den hoheitlichen Ausbildungsteil des Universitätsklinikums verwendete. Das Finanzamt ging aufgrund der Organschaft von einer nichtsteuerbaren Innenleistung der GmbH an die Klägerin aus, meinte aber, dass die Reinigungsleistungen, soweit sie auf hoheitlich genutzte Hörsäle etc. entfallen, zur Besteuerung einer Verwendungsentnahme bei der Klägerin als Organträgerin führen. Der hiergegen gerichteten Klage gab das Finanzgericht (Niedersächsisches FG Entscheidung vom 16.10.2019 - 5 K 309/17, Haufe-Index 13768031) statt.

Entscheidung

Der BFH setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die in den Leitsätzen bezeichneten Fragen vor. Das Verfahren ist nunmehr beim EuGH als Rechtssache Finanzamt T unter dem Az: C-269/20 anhängig.

Dr. Christoph Wäger, Richter am BFH

BFH Beschluss vom 07.05.2020 - V R 40/19 (veröffentlicht am 18.06.2020)

Alle am 18.06.2020 veröffentlichten Entscheidungen.