Leitsatz (amtlich)
1. Die auf Grund des § 9 Abs. 2 FVG von den Finanzämtern erlassenen Umsatzsteuerbescheide sind auch dann gültig, wenn § 9 Abs. 2 FVG verfassungswidrig sein sollte.
2. Zur Frage der verfassungskonformen Auslegung des § 9 FVG.
Normenkette
FVG § 9 Abs. 2; GG Art. 108 Abs. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Steuerpflichtige) beantragte nach Erhebung der Sprungklage gegen die Umsatzsteuerveranlagungsbescheide 1962 bis 1965 beim FG Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 FGO wegen der mit den Bescheiden 1963 bis 1965 angeforderten Umsatzsteuerbeträge.
Das FG gab dem Antrag statt, weil nach seiner Auffassung an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide ernstliche Zweifel bestehen. Die Zweifel an der Rechtmäßigkeit begründete das FG damit, daß die Bescheide von einer örtlichen Landesbehörde im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Finanzverwaltung (FVG) erlassen worden seien, obwohl die Umsatzsteuer nach dem Grundgesetz durch Bundesfinanzbehörden zu verwalten sei (Art. 108 Abs. 1 Satz 1 GG). Die Vorschrift des § 9 Abs. 2 FVG, die für die OFD die Möglichkeit vorsehe, bei der Bearbeitung der Umsatzsteuer und der Beförderungsteuer die Hilfe der Finanzämter in Anspruch zu nehmen, halte der II. Senat des BFH für unvereinbar mit dem GG, soweit sich die Vorschrift auf die Verwaltung der Beförderungsteuer beziehe. Das FG verweist insoweit auf die Beschlüsse des BFH II S 8/67 vom 27. März 1968 (BFH 91, 547, BStBl II 1968, 491) und II 68 und 91/64 vom 15. Oktober 1968 (BFH 94, 268, BStBl II 1969, 126). Diese Auffassung, die für die Umsatzsteuer entsprechend gelte und überwiegend auch vom Schrifttum vertreten werde, sei so gewichtig, daß die Aussetzung der Vollziehung in dem beantragten Umfange geboten erscheine.
In der Beschwerde macht der Beklagte und Beschwerdegegner (FA) geltend, daß die Beschlüsse des II. Senats des BFH die Verwaltung der Beförderungsteuer beträfen und das FG sich stillschweigend über das Urteil des BFH V R 128/66 vom 27. Juni 1968 (BFH 92, 144, BStBl II 1968, 488), das die Verfassungsmäßigkeit des § 9 Abs. 2 FVG bezüglich der Verwaltung der Umsatzsteuer bejaht habe, hinweggesetzt habe. Das FA hält auch eine Aussetzung aus sachlich-rechtlichen Gründen nicht für gerechtfertigt.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Beschwerde führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
1. a) Im Gegensatz zum FG hält der erkennende Senat die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide nicht für gegeben. Zwar rechtfertigen ernstliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit eines Gesetzes, auf dem der streitige Steueranspruch beruht, die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheides (Urteil des BVerfG 1 BvR 314/60 vom 21. Februar 1961, BStBl I 1961, 63). Der Senat hat keine Bedenken, diese zu § 251 AO a. F. ergangene Entscheidung auch für die neue Regelung der Aussetzung der Vollziehung in § 69 Abs. 3 FGO als maßgebend anzusehen (vgl. BFH-Beschluß V B 53/68 vom 17. April 1969, BStBl II 1969, 415).
Nach § 69 Abs. 2, 3 FGO soll die Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheids angeordnet werden, wenn bei summarischer Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Steuerbescheide kann, wie der Senat bereits im Urteil V R 128/66 vom 27. Juni 1968, a. a. O., dargelegt hat, und wie noch weiter auszuführen sein wird, nicht aus dem Grunde angezweifelt werden, weil die Bescheide vom FA, einer örtlichen Landesbehörde, erlassen worden sind, obwohl die Umsatzsteuer nach Art. 108 Abs. 1 Satz 1 GG durch Bundesfinanzbehörden zu verwalten ist.
Der Senat weicht damit allerdings von dem Beschluß des BFH II S 8/67 vom 27. März 1968, a. a. O., ab, durch den die Vollziehung eines Beförderungsteuerbescheides gerade deswegen ausgesetzt worden ist, weil die Beförderungsteuer nach dem GG durch Bundesfinanzbehörden zu verwalten ist, der angefochtene Bescheid aber von einer örtlichen Finanzbehörde im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 FVG erlassen worden war. Dennoch ist eine Anrufung des Großen Senats nach § 11 Abs. 3 FGO nicht geboten; denn mit dem Beschluß, die Vollziehung auszusetzen, hat der II. Senat die hier in Rede stehende Rechtsfrage nicht entschieden, sondern nur dargelegt, daß er ihre Beurteilung für unsicher und unklar halte und deshalb ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheides bestehen. Wegen dieser Unklarheit in der Beurteilung der Rechtsfrage hat der II. Senat mit dem späteren Beschluß II 68 und 91/64 vom 15. Oktober 1968, a. a. O., das Verfahren ausgesetzt und die Entscheidung des BVerfG eingeholt.
b) Ebensowenig ist es geboten, den Großen Senat mit Rücksicht auf den zuletzt genannten Beschluß des II. Senats anzurufen; denn auch insoweit liegt keine Entscheidung vor. Im übrigen ist zwischen den Senaten allein eine verfassungsrechtliche Frage streitig, die der Große Senat mit Bindungswirkung nicht entscheiden könnte (BVerfG-Beschluß 1 BvL 13/54 vom 19. Februar 1957, BVerfGE 6, 222).
c) Eine Abweichung besteht auch nicht gegenüber dem Beschluß des BFH Vl B 87/68 vom 22. November 1968 (BFH 94, 206, BStBl II 1969, 145). Nach diesem Beschluß ist eine Rechtsfrage ernstlich zweifelhaft im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO, die von zwei obersten Bundesgerichten unterschiedlich entschieden worden ist. Im Streitfall liegen abweichende Entscheidungen von zwei obersten Bundesgerichten nicht vor. Es fehlt aber auch an zwei sich widersprechenden Entscheidungen. Denn durch keinen der Beschlüsse des II. Senats ist die streitige Rechtsfrage entschieden worden. Im übrigen handelt es sich um eine verfassungsrechtliche Streitfrage, um deren verbindliche Entscheidung der Große Senat überhaupt nicht angegangen werden könnte.
2. Der II. Senat führt im Vorlagebeschluß vom 15. Oktober 1968 (a. a. O.) aus: § 9 Abs. 2 FVG sei verfassungswidrig und müsse vom BVerfG für nichtig erklärt werden. Im Falle einer solchen Entscheidung seien die FÄ unzuständig gewesen, die Beförderungsteuerbescheide zu erlassen. Von einer sachlich absolut unzuständigen Behörde erlassene Hoheitsakte seien nichtig.
Der erkennende Senat ist der Auffassung, daß es dahingestellt bleiben kann, ob § 9 Abs. 2 FVG verfassungswidrig ist. Denn auch dann, wenn das BVerfG auf den Vorlagebeschluß des II. Senats hin § 9 Abs. 2 FVG für verfassungswidrig erklären würde, hätte dies nicht zugleich auch die Nichtigkeit der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide zur Folge. Es gilt zwar der Grundsatz, von dem offenbar auch der II. Senat ausgeht, daß verfassungswidrige Gesetze von Anfang an rechtsunwirksam sind (BVerfG-Urteil 2 BvG 1/51 vom 23. Oktober 1951, BVerfGE 1, 14, Leitsatz 6). Dies besagt aber noch nicht, daß alle Wirkungen, die ein für verfassungswidrig erklärtes Gesetz geäußert hat, von der anfänglichen Unwirksamkeit betroffen werden. Die Folgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes sind in § 79 BVerfGG lediglich für Hoheitsakte geregelt. Diese Beschränkung beruht auf der Vorstellung, daß ein Gesetz hauptsächlich in Form von vollstreckbaren hoheitlichen Eingriffsakten rechtserhebliche Wirkungen äußert und die Bestandskraft der Hoheitsakte eine Grenze für die rückwirkende Vernichtung bildet. Daneben gibt es aber (vgl. Böckenförde, Die sogenannte Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, 1966 S. 97) die verschiedenartigsten Verfahrens- und Organisationsgesetze, die unmittelbar und unabhängig von Hoheitsakten ihre Wirkung entfalten.
Offenbar aus der Erkenntnis, daß ein Unterschied besteht, ob ein verfassungswidriges Gesetz die Ermächtigungsgrundlage für Einzeleingriffe in Form von Hoheitsakten bildet oder Fragen der Staatsorganisation regelt, hat das BVerfG in der Frage der Verfassungswidrigkeit von sogenannten Organisationsgesetzen Folgerungen aus der anfänglichen Unwirksamkeit verfassungswidriger Gesetze nicht gezogen. Es hat vielmehr beispielsweise im sogenannten Süd-Weststaat-Urteil (BVerfG-Urteil 2 BvG 1/51 vom 23. Oktober 1951, a. a. O.) trotz der ausdrücklichen Feststellung, daß das erste Neugliederungsgesetz, das die im Frühjahr 1951 ablaufende Wahlperiode der Landtage von Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern bis zum 31. März 1952 verlängerte, nichtig ist, sämtliche bis zur Verkündung des Urteils des BVerfG ergangenen Akte der Landtage als rechtlich voll wirksam - auch für die Zukunft - anerkannt. Dies ist in folgender Weise begründet: "Die Handlungen (Maßnahmen, Beschlüsse usw.), die sie" (ergänze die Landtage) "bis zur Verkündung dieses Urteils vorgenommen haben, können dagegen in ihrem Rechtsbestand und in ihrer Verbindlichkeit durch dieses Urteil nicht in Frage gestellt werden. Das widerspräche nicht nur dem Ablauf des Geschehens in der Vergangenheit und der Bewertung, die er allgemein in der Öffentlichkeit erfahren hat ..., sondern wäre auch unvereinbar mit dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit."
Dieselbe Auffassung hat das BVerfG auch in dem Beschluß 1 BvR 444/53 vom 11. November 1953 (BVerfGE 3, 41) vertreten und ausgeführt, daß Handlungen eines Gemeinderats oder Kreistages, der nach einem später für nichtig erklärten Gesetz gewählt wurde, im Hinblick auf das Bedürfnis für Rechtssicherheit und Rechtsklarheit rechtsbeständig und verbindlich bleiben.
Ähnlich verhält es sich mit den Entscheidungen des BVerfG über die Friedensgerichtsbarkeit im Gebiet des früheren Landes Württemberg-Baden. Obwohl das BVerfG das Gesetz über die Friedensgerichtsbarkeit in vollem Umfang für nichtig erklärt hatte (BVerfG-Beschluß 1 BvR 88/56, 59/57, 212/59 vom 17. November 1959, BVerfGE 10, 200), hat es im Beschluß 1 BvR 312/53, 362, 819, 925/59 vom 5. April 1960 (BVerfGE 11, 61) ausgesprochen, daß die Urteile des Friedensgerichts keine Nichturteile sind. Es kann dahingestellt bleiben, ob unter diesen Umständen überhaupt noch von einer anfänglichen Unwirksamkeit verfassungswidriger Gesetze gesprochen werden kann oder nicht vielmehr, wie Spanner, Der Steuerbürger und das Bundesverfassungsgericht, Berlin 1967 S. 47, meint, eine Unwirksamkeit ex nunc vorliegt.
Das FVG regelt den Aufbau der Finanzverwaltung des Bundes und der Länder und weist den Behörden die von ihnen wahrzunehmenden Aufgaben zu. Dies geschieht insbesondere durch § 9 FVG, der anordnet, daß die Umsatzsteuer und die Beförderungsteuer durch die OFD verwaltet werden (Abs. 1) und die OFD bei der Bearbeitung dieser Steuer die Hilfe der FÄ in Anspruch nehmen können (Abs. 2). Das FVG regelt demnach die Organisation der Finanzverwaltung. § 9 FVG ist insoweit eine Norm, die nicht durch Hoheitsakte in Form von belastenden Einzeleingriffen, sondern durch organisatorische Maßnahmen verwirklicht wird. Diese Vorschrift ist den in der oben angeführten Rechtsprechung des BVerfG behandelten Gesetzen vergleichbar. Denn es besteht kein Unterschied, ob ein Landtag, ein Gemeinderat, ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde auf Grund eines verfassungswidrigen Gesetzes tätig wird. Ist dies aber der Fall, dann sind zwar bei festgestellter Verfassungswidrigkeit des § 9 FVG die FÄ zum Erlaß von Umsatzsteuer- und Beförderungsteuerbescheiden nicht ermächtigt gewesen, die dennoch erlassenen Steuerbescheide aber bleiben im Hinblick auf das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit rechtsbeständig und verbindlich. Dies ist insbesondere auch im Hinblick darauf gerechtfertigt, daß in beinahe 20jähriger Verwaltungs- und Gerichtspraxis § 9 Abs. 2 FVG als verfassungsmäßig angesehen und diese Auffassung durch die Rechtsprechung ausdrücklich bestätigt worden ist (vgl. die im Vorlagebeschluß II 68 und 91/64 vom 15. Oktober 1968, a. a. O., unter C III 2 angeführte Rechtsprechung des BFH). Demgegenüber kann es nicht entscheidend ins Gewicht fallen, daß im Schrifttum - zum Teil unter Änderung der Auffassung - § 9 Abs. 2 FVG für verfassungswidrig erklärt worden ist.
Zusammenfassend ist demnach festzustellen, daß im Streitfall die erlassenen Umsatzsteuerbescheide auch dann rechtswirksam sind, wenn das BVerfG § 9 Abs. 2 FVG für nichtig erklären sollte.
3. Aber auch wenn in Übereinstimmung mit dem Beschluß des II. Senats II S 8/67 vom 27. März 1968, a. a. O., davon auszugehen wäre, daß es für die Entscheidung über den Aussetzungsantrag auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 9 Abs. 2 FVG ankommt, wäre der Antrag abzulehnen. Denn der erkennende Senat ist der Auffassung, daß § 9 Abs. 2 FVG Art. 108 Abs. 1 GG entspricht. Für die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift sprechen außer den in dem Urteil V R 128/66 vom 27. Juni 1968, a. a. O., dargelegten Gründen noch die folgenden Gesichtspunkte: Maßgeblich für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut und aus dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Gesetzesbestimmung. Der Entstehungsgeschichte kommt eine beschränkte Bedeutung insofern zu, als sie die Richtigkeit einer nach diesen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg nicht ausgeräumt werden können (BVerfG-Urteil 2 BvH 2/52 vom 21. Mai 1952, BVerfGE 1, 299; BVerfG-Beschluß 2 BvL 11/59, 11/60 vom 17. Mai 1960, BVerfGE 11, 126, 130). Darüber hinaus ist aber dann, wenn bei Auslegung eines Gesetzes Zweifel auftreten, ob es mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht, davon auszugehen, daß ein Gesetz nicht verfassungswidrig ist, wenn es im Einklang mit der Verfassung ausgelegt werden kann; denn es spricht nicht nur eine Vermutung dafür, daß ein Gesetz mit dem GG vereinbar ist, sondern das in dieser Vermutung zum Ausdruck kommende Prinzip verlangt auch im Zweifel eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes (BVerfG-Beschluß 1 BvL 104/52 vom 7. Mai 1953, BVerfGE 2, 266, 282). Voraussetzung für die Zulässigkeit einer verfassungskonformen Auslegung ist, daß das Gesetz bei dieser Auslegung sinnvoll bleibt (Sammlung der Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, neue Folge - Bayer. VerfGE - Bd. 5 Teil II, 1952, 19). Um zu einer verfassungskonformen Auslegung zu gelangen, kann es unter Umständen geboten sein, den erkennbaren gesetzgeberischen Willen als unmaßgeblich auszuscheiden (vgl. Beschlüsse des BVerfG 1 BvR 668/52 vom 17. Juni 1953, BVerfGE 2, 336, 340, und 1 BvL 21/60 vom 20. Dezember 1960, BVerfGE 12, 46, 61). Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze kommt es demnach auf die Entstehungsgeschichte, auf Äußerungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen, auf die es vornehmlich der II. Senat in dem Vorlagebeschluß II 68 und 91/64 vom 15. Oktober 1968, a. a. O., abstellt, nicht entscheidend an.
Der Wortlaut des § 9 Abs. 1 FVG läßt sich ohne weiteres in dem Sinn verstehen, daß die OFD als Bundesfinanzbehörden abweichend von der ihnen sonst zugewiesenen Stellung als Aufsichtsbehörden bei der Verwaltung der Umsatzsteuer und der Beförderungsteuer unmittelbar als sachlich zuständige Behörden tätig werden. Damit obliegen nach dieser Vorschrift den OFD grundsätzlich alle mit der Verwaltung dieser beiden Steuern zusammenhängenden Arbeiten. Nur wenn das FVG eine Einschränkung oder Abgrenzung des Umfanges der Bearbeitung durch die OFD und die FÄ vorgenommen hätte, dann hätten allerdings Zweifel darüber aufkommen können, ob die Umsatzsteuer und Beförderungsteuer durch die OFD nicht nur teilweise verwaltet werden.
§ 9 Abs. 2 FVG tastet aber nach seinem Wortlaut die Verwaltungszuständigkeit der OFD hinsichtlich der Umsatzsteuer und Beförderungsteuer nicht an; denn nach dem Wortlaut dieser Vorschrift sollen die FÄ den OFD bei der mit der Verwaltung zusammenhängenden Bearbeitung nur Hilfe leisten. In dem Vorlagebeschluß II 68 und 91/64 vom 15. Oktober 1968, a. a. O., ist der II. Senat selbst der Auffassung, daß gegen § 9 Abs. 2 FVG keine verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben werden können, wenn die FÄ den OFD bei der Verwaltung der Beförderungsteuer durch einzelne oder eine Mehrheit von Hilfeleistungen beistehen. Ist sonach eine verfassungskonforme Auslegung des § 9 Abs. 2 FVG unter Berücksichtigung des Sinnes und Zweckes des § 9 Abs. 1 FVG grundsätzlich auch nach Ansicht des II. Senats möglich und, wie der erkennende Senat in dem Urteil V R 128/66 vom 27. Juni 1968, a. a. O., dargelegt hat, auch sinnvoll, dann muß dieser der Vorzug vor anderen Deutungsmöglichkeiten gegeben werden, auch wenn diese etwa dem Willen des Gesetzgebers besser entsprächen. Im übrigen ist die Annahme, daß der Gesetzgeber von vornherein die Verfassungsdirektive des Art. 108 Abs. 1 Satz 1 GG hinsichtlich der Umsatzsteuer und der Beförderungsteuer in einer der Verfassung widersprechenden oder von ihr abweichenden Weise verwirklichen wollte, nach Auffassung des erkennenden Senats nicht begründet. Die in dem Vorlagebeschluß II 68 und 91/64 vom 15. Oktober 1968, a. a. O., angeführte Ablehnung eines Abänderungsantrages im Gesetzgebungsverfahren und die Unterlassung von Änderungen von Vorschriften der AO und des UStG lassen nicht den sicheren Schluß zu, daß der Gesetzgeber "entsprechend der vorgefaßten Absicht" der Verfassung zuwiderhandeln wollte.
Die der Entscheidung zugrunde liegenden Steuerbescheide könnten deshalb nur dann aus Zuständigkeitsgründen rechtswidrig sein, wenn die tatsächliche Organisation der Umsatzsteuerverwaltung dem § 9 Abs. 2 FVG in der verfassungskonformen Auslegung widerspräche. Eine solche Abweichung ist aber nach der sich aus den Gründen des Urteils V R 128/66 vom 27. Juni 1968, a. a. O., ergebenden Auffassung des Senats nicht feststellbar.
4. Allerdings hat die verfassungskonforme Auslegung auch ihre Grenzen. Sie darf nicht einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz durch eine verfassungskonforme Auslegung einen entgegengesetzten Sinn geben (Beschluß des BVerfG 1 BvL 149/52 vom 11. Juni 1958, BVerfGE 8, 28). Damit würde nicht nur in die Kompetenzen des Gesetzgebers, sondern auch in die des BVerfG eingegriffen werden. Könnte in Übereinstimmung mit dem Vorlagebeschluß des II. Senats II 68 und 91/64 vom 15. Oktober 1968, a. a. O., davon ausgegangen werden, daß durch § 9 Abs. 2 FVG nach dem eindeutigen und einer Interpretation nicht zugänglichen Willen des Gesetzgebers die Verwaltung der Umsatzsteuer und Beförderungsteuer den FÄ übertragen werden sollte, so müßte bei Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide noch folgendes beachtet werden:
In dem Urteil 1 BvR 320/57, 70/63 vom 20. Dezember 1966 (BVerfGE 21, 12) hat das BVerfG entschieden, daß das UStG in der damals geltenden Fassung infolge des Mangels an Wettbewerbsneutralität der Steuergerechtigkeit (Art. 3 GG) nicht genüge. Gleichwohl hat das BVerfG es aber abgelehnt, das UStG "jedenfalls z. Z." für nichtig zu erklären oder eine Grundrechtsverletzung festzustellen. Dabei hat es zur Begründung auf die besonders große Bedeutung, die das UStG für die Einnahmen des Bundes, aber auch für die Selbstkosten der Unternehmer und die allgemeine Preisgestaltung habe, hingewiesen und im Hinblick auf die bereits im Gange befindliche Umsatzsteuerreform dem Gesetzgeber eine angemessene Frist gegeben, die festgestellte Ungleichheit in absehbarer Zeit zu beseitigen.
Diese Überlegungen zum materiellen Recht müssen erst recht im Bereich bloßer Zuständigkeitsnormen durchgreifen. Würde § 9 Abs. 2 FVG für nichtig erklärt werden, könnten Umsatzsteuer und Beförderungsteuer zunächst nicht erhoben werden. Die FÄ müßten insoweit ihre Tätigkeit einstellen, der Bund erlitte einen erheblichen Steuerausfall. Da anderseits das UStG in Kraft bliebe, würde die Umsatzsteuer jeweils entstehen, sie könnte nur nicht festgesetzt und gezahlt werden. Die nach einer Neuregelung von den Unternehmern später auf einmal nachzuzahlenden erheblichen Beträge könnten zu Schwierigkeiten bei den Unternehmen, aber auch zu allgemeinen geldwirtschaftlichen Reibungen führen.
Im übrigen hat das BVerfG, obwohl im Verfahren 1 BvR 320/57, 70/63 ausdrücklich auch die Verfassungswidrigkeit des § 9 Abs. 2 FVG gerügt worden war, die Rechtmäßigkeit der Umsatzsteuerbescheide insoweit nicht beanstandet (vgl. Urteil des FG Münster V u 15-20/65 vom 26. März 1969, EFG 1969, 367 - nicht rechtskräftig -).
Schließlich ist durch das Einundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Finanzreformgesetz) vom 12. Mai 1969 (BGBl I S. 359) ab 1. Januar 1970 den Landesfinanzbehörden die Verwaltung der Steuern, die dem Bund teilweise zufließen, als Auftragsverwaltung übertragen (vgl. Art. 108 Abs. 3 GG in der Fassung des Finanzreformgesetzes). Zu diesen Steuern gehört die Umsatzsteuer (vgl. Art. 106 Abs. 3 GG in der Fassung des Finanzreformgesetzes). Von dem Inkrafttreten des Finanzreformgesetzes an, nämlich am 1. Januar 1970, ist also eine von der bisherigen Regelung abweichende Regelung hinsichtlich der Verwaltung der Umsatzsteuer und Beförderungsteuer getroffen, wonach die Tätigkeit der FÄ unzweifelhaft auch den Erlaß von Umsatzsteuer- und Beförderungsteuerbescheiden umfaßt. Die dem Gesetzgeber vom BVerfG im Urteil 1 BvR 320/57, 70/63 vom 20. Dezember 1966, a. a. O., nahegelegte Gesetzesänderung ist hinsichtlich der Umsatzsteuerverwaltung schon durchgeführt. Die Nichtigkeitserklärung des § 9 Abs. 2 FVG könnte nur mehr für eine ganz beschränkte Übergangszeit Wirkung haben. Hielt im Beschluß vom 20. Dezember 1966, a. a. O., das BVerfG eine Nichtigkeitserklärung des UStG "zur Zeit" u. a. auch deshalb nicht für möglich, weil eine Reform des Umsatzsteuerrechts in absehbarer Zeit die festgestellte Ungleichheit beseitigen würde, so muß diese Erwägung für die Umsatzsteuerverwaltung um so mehr gelten, als diese Verwaltung im Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG bereits in einer Weise geregelt ist, die keine Zweifel über die Zuständigkeit aufkommen läßt.
5. Eine Aussetzung der Vollziehung kann aber auch aus sachlichen Gründen nicht gewährt werden. Die Auffassung des FA, daß die ... GmbH eine Organgesellschaft der Steuerpflichtigen ist, kann nicht beanstandet werden. Es reicht für die Annahme der finanziellen Eingliederung aus, daß die Steuerpflichtige über ihren Komplementär ... nur mittelbar an der GmbH beteiligt ist (vgl. BFH-Urteil V 35/64 vom 2. Februar 1967, BFH 89, 3, BStBl III 1967, 499). Da der Komplementär ... in den fraglichen Veranlagungszeiträumen Alleingesellschafter der GmbH gewesen ist, kann die finanzielle Eingliederung nach dem Inhalt der Akten nicht in Zweifel gezogen werden.
Die GmbH bezieht ihren gesamten Bedarf an den von ihr als Sportgeräte vertriebenen Stahlfedern von der Steuerpflichtigen. Dadurch ist auch die Annahme der wirtschaftlichen Eingliederung gerechtfertigt. Der Umstand schließlich, daß Herr ... als geschäftsführender Komplementär der Steuerpflichtigen gleichzeitig allein vertretungsberechtigter Geschäftsführer der GmbH ist, ist Kennzeichen der organisatorischen Eingliederung.
Unter diesen Umständen war die Vorentscheidung aufzuheben.
Fundstellen
Haufe-Index 68291 |
BStBl II 1969, 564 |
BFHE 1969, 467 |