Entscheidungsstichwort (Thema)
Zurechnung von USt-Zahlungen des Organs beim Organträger
Leitsatz (NV)
Gegen eine Organgesellschaft festgesetzte und von dieser gezahlte Umsatzsteuer kann auf die Umsatzsteuerschulden des Organträgers erst dann angerechnet werden, wenn die Umsatzsteuer-Festsetzungen ge genüber der Organgesellschaft aufgehoben worden sind.
Normenkette
AO 1977 § 174 Abs. 1, § 218 Abs. 1-2; UStG § 2 Abs. 2 Nr. 2
Tatbestand
Im Anschluß an eine bei der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) durchgeführte Betriebsprüfung nahm der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) an, daß zwischen der Klägerin und einer GmbH eine umsatzsteuerliche Organschaft bestünde. Die Klägerin und die GmbH hatten bisher jeweils eigene Umsatzsteuervoranmeldungen bzw. Jahreserklärungen abgegeben und die entsprechenden Umsatzsteuerzahlungen entrichtet. Das für die Klägerin zuständige FA rechnete nunmehr die von der GmbH erbrachten Umsätze der Klägerin als Organträger zu und setzte mit -- inzwischen bestandskräftigen -- Steueränderungsbescheiden die Umsatzsteuern für 1986 und für 1987 entsprechend höher fest. Bei der GmbH, die seit 1989 wegen Vermögenslosigkeit im Handelsregister gelöscht ist, wurde von dem für sie zuständigen FA eine Aufhebung des Umsatzsteuerbescheids 1986 und der Umsatzsteuervorauszahlungsbescheide für 1987 nicht mehr vorgenommen. Nachdem zwischen den Beteiligten Streit darüber entstanden war, ob und ggf. in welcher Höhe die von der GmbH geleisteten Zahlungen auf die Steuerschuld der Klägerin anzurechnen seien, erließ das FA Abrechnungsbescheide, die die Tilgungsleistungen der GmbH unberücksichtigt ließen.
Die von der Klägerin erhobene Sprungklage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) änderte die Abrechnungsbescheide zur Umsatzsteuer 1986 und 1987 dahingehend ab, daß die für die Streitjahre verbleibenden Zahlungsansprüche gegen die Klägerin wegen Anrechnung der von der GmbH geleisteten Zahlungen im Umfang des Klageantrags herabgesetzt wurden. Das FG führte im wesentlichen aus:
Die Zurechnung der Umsätze der GmbH bei der Klägerin als Organträger ohne eine tilgungswirksame Anrechnung der von der GmbH geleisteten Umsatzsteuerzahlungen widerspreche der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), nach der dem Organträger nicht nur die Umsätze, sondern auch die Umsatzsteuerzahlungen der Organgesellschaft zuzurechnen seien. Der Senat folge nicht der vom FA vertretenen Auffassung, daß die Anrechnung der Zahlungen zunächst die Aufhebung der gegenüber der GmbH er gangenen Umsatzsteuerbescheide erfordere.
Aus dem Wesen der umsatzsteuerlichen Organschaft folge, daß die Umsatzbesteuerung (Besteuerung der Umsätze allein beim Organträger) nicht der zivilrechtlichen Gestaltung (zwei zivilrechtlich selbständige Unternehmen) entspreche. Vielmehr werde für die Umsatzsteuer von lediglich einem Steuerschuldverhältnis zwischen den beiden zivilrechtlich selbständigen Unternehmen und der Finanzverwaltung ausgegangen. Diese Beurteilung dürfe nicht nur auf das Festsetzungsverfahren beschränkt bleiben, sondern müsse auch im Erhebungsverfahren Berücksichtigung finden. Nur so sei die Auffassung des BFH nachvollziehbar, nach der ein auf Zahlung der Organgesellschaft beruhender Erstattungsanspruch dem Organträger zustehen solle. Das habe zur Folge, daß die auf die vermeintlich eigene Steuerschuld der Organgesellschaft geleisteten Zahlungen auf die Steuerschuld des Organträgers angerechnet würden, und zwar unabhängig da von, ob die gegenüber der Organgesellschaft ergangenen Bescheide bereits aufgehoben worden seien oder nicht. Die gegenüber der Organgesellschaft (hier GmbH) ergangenen Bescheide könnten allenfalls gegenüber dieser -- gegenüber der jedoch materiell-rechtlich ein entsprechender Anspruch nicht bestehe -- als Rechtsgrund wirken, nicht aber gegenüber dem Organträger (Klägerin). Die Grundsätze von Treu und Glauben geböten es, den wirtschaftlichen Gegebenheiten entsprechend die Zahlungen der Organgesellschaft dem Organträger zuzurechnen und diesen nicht zu einer nochmaligen Umsatzsteuerzahlung für dieselben Umsätze zu zwingen. Dies gelte auch dann, wenn -- wie im Streitfall -- unterschiedliche FÄ für die Besteuerung von Organträger und Organgesellschaft zuständig seien.
Die vom FA vertretene Auffassung, die für die Anrechnung eine Aufhebung der gegenüber der Organgesellschaft ergangenen Bescheide voraussetzte, führe wirtschaftlich zu demselben Ergebnis. Denn auch in diesem Falle wäre allein der Organträger erstattungsberechtigt. Das vom FA angeführte BFH-Urteil vom 30. Oktober 1984 VII R 70/81 (BFHE 142, 207, BStBl II 1985, 114) stehe der vorstehenden Beurteilung nicht entgegen. Denn es unterscheide sich vom Streitfall in dem wesentlichen Punkt, daß ihm ein organschaftliches Verhältnis zugrunde gelegen habe, dessen umsatzsteuerliche Anerkennung zum Zeitpunkt der Entscheidung von der Rechtsprechung des BFH schon aufgegeben worden war. Dies habe zur Folge gehabt, daß auch umsatzsteuerlich zwei selbständige Unternehmen vorgelegen hätten.
Mit der Revision macht das FA u. a. geltend, wenn das FG die Notwendigkeit verneine, zunächst die Steuerfestsetzungen gegenüber der GmbH aufzuheben, so verkenne es die Bedeutung des § 218 Abs. 1 der Abgaben ordnung (AO 1977), wonach die Steuerbescheide bzw. -anmeldungen Grundlage für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis sind. Daß die sog. Bescheidlage in diesem Zusammenhang auch maßgeblich sei, wenn sie der materiellen Rechtslage widerspreche, habe der VII. Senat des BFH mit Urteil in BFHE 142, 207, BStBl II 1987, 114 ausdrücklich klargestellt und dabei den Weg aufgezeigt, wie die Erhebung der Umsatzsteuer in Fällen der Organschaft abzuwickeln sei. Stehe die Bescheid lage -- wie im Streitfall -- nicht im Einklang mit dem materiellen Recht, so seien die bisher ergangenen Steuerfestsetzungen zu ändern. Soweit dies jedoch nicht mehr möglich sei, müßten die Steuerbescheide ihrem formellen Inhalt nach gemäß § 218 Abs. 1 AO 1977 vollzogen werden.
Das FG stelle demgegenüber allein auf die materielle Rechtslage ab, wonach nur die Klägerin als Organträger Umsatzsteuerschuldnerin sei. Es verkenne, daß daneben auch steuerschuldrechtliche Beziehungen zwischen der GmbH als Organgesellschaft und dem für diese zuständigen FA bestünden, aufgrund deren dieses FA auf der Grundlage der bestandskräftigen Steuerfestsetzungen gemäß § 218 Abs. 1 AO 1977 mit Rechtsgrund Zahlungen von der GmbH vereinnahmt habe. Erst wenn die formelle Bestandskraft der gegenüber der GmbH wirkenden Steuerfestsetzungen beseitigt würde, könnten Tilgungsleistungen der Organgesellschaft auf die vermeintlich eigene Steuerschuld im Rahmen des hierdurch geprägten Steuerschuldverhältnisses zwischen der Organgesellschaft und dem für sie zuständigen FA rückabgewickelt werden.
Die Korrektur der Steuerfestsetzungen gegenüber der GmbH sei nach § 174 Abs. 1 AO 1977 möglich gewesen. Eine Aufhebung der fehlerhaften Steuerbescheide sei aber bei dem für die GmbH zuständigen FA nicht beantragt worden. Die Klägerin hätte auch nach der Löschung der GmbH im Handelsregister wegen Vermögenslosigkeit als deren Alleingesellschafterin die Einsetzung eines Nachtragsliquidators veranlassen können, der dann seinerseits berechtigt gewesen wäre, Anträge für die GmbH zu stellen. Weshalb sie diesen Weg nicht beschritten habe, bleibe unerfindlich. Jedenfalls bestehe kein Anlaß, dem FA "Förmelei" oder treuwidriges Verhalten vorzuwerfen, wenn es ohne Änderung der formellen Bescheidlage nicht bereit sei, der Klägerin die von der GmbH erbrachten Tilgungsleistungen zuzurechnen.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie meint, maßgeblich sei allein, daß dieselben Umsätze nicht zweimal der Besteuerung unterliegen könnten. Wie die fehlerhaften Steuerfestsetzungen gegenüber der GmbH beseitigt würden, sei allein Sache der beteiligten FÄ.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet.
Das FA ist in den angefochtenen Abrechnungsbescheiden -- entgegen der Vorentscheidung -- zu Recht davon ausgegangen, daß eine Anrechnung der von der GmbH geleisteten Umsatzsteuerzahlungen auf die Umsatzsteuerschuld der Klägerin erst dann in Betracht kommt, wenn die Steuerfestsetzungen gegenüber der GmbH, aufgrund deren die Tilgungsleistungen erbracht wurden, aufgehoben worden sind.
1. Zwischen der Klägerin und der GmbH bestand in den Streitjahren 1986 und 1987 eine umsatzsteuerliche Organschaft in dem Sinne, daß die GmbH als steuerlich unselbständige Organgesellschaft finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen der Klägerin (Organträger) eingegliedert war (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes -- UStG --). Das ist zwischen den Beteiligten nicht streitig und entspricht auch den Feststellungen des FG.
Das Vorliegen einer Organschaft hat materiell-rechtlich zur Folge, daß die Umsätze der Organgesellschaft, der die Unternehmereigenschaft fehlt (§ 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 2 UStG) bei dem Organträger erfaßt werden. Wird -- wie im Streitfall -- das Bestehen der Organschaft erst nachträglich festgestellt, so ist die formelle Bescheidlage der materiellen Rechtslage anzupassen: d. h. bereits ergangene Umsatzsteuerfestsetzungen gegenüber der Organgesellschaft sind aufzuheben und bisher bei der Organgesellschaft erfaßte Um sätze und Vorsteuerabzüge sind im Wege der Änderung der bisherigen Steuerfestsetzungen dem Organträger zuzurechnen. Im Streitfall sind die formellen Rechtsfolgen aus der Aufdeckung der Organschaft bei der Klägerin (Organträger) gezogen worden; ihr sind durch Umsatzsteueränderungsbescheide 1986 und 1987 die Umsätze der GmbH zugerechnet worden, während die zu Unrecht gegenüber der GmbH ergangenen Umsatzsteuerfestsetzungen (Steuerbescheid 1986 und Vorauszahlungsbescheide 1987) nicht aufgehoben worden sind.
Nach der Rechtsprechung des V. Senats des BFH sind dem Organträger nicht nur die Umsätze, sondern auch Umsatzsteuerzahlungen der Organgesellschaft zuzurechnen. Der V. Senat hat zur Begründung ausgeführt, es sei selbstverständlich, daß die bereits von dem beherrschten Unternehmen gezahlte Umsatzsteuer auf die Mehrwertsteuer des herrschenden Unternehmens "irgendwie" angerechnet werden müsse, weil es rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechen würde, die selben Umsätze doppelt zu besteuern (Urteil vom 16. Dezember 1965 V 82/60 S, BFHE 85, 250, BStBl III 1966, 300, 301, zum organschaftsähnlichen Verhältnis). Daraus ist weiter hergeleitet worden, daß eine etwaige Erstattungsforderung dem Organträger selbst dann zusteht, wenn die Organgesellschaft Umsatzsteuer aufgrund eines an sie gerichteten Umsatzsteuerbescheides ge zahlt hat, sofern die Berufung der Organ gesellschaft auf den Wegfall der Steuerschuld nach einer Aufhebung der Steuerfestsetzungsbescheide gegen Treu und Glauben verstoßen würde (BFH-Urteil vom 17. September 1981 V R 35/79, nicht veröffentlicht -- NV --, und Beschluß vom 31. August 1987 V B 53/87, BFH/NV 1988, 201). Ferner hat der BFH für den Fall der Organschaft entschieden, es laufe der Forderung der Folgerichtigkeit steuerlichen Verhaltens gemäß den Vorschriften des Gesetzes zuwider und sei mit den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigem nicht vereinbar, wenn ein Organträger über die Tochtergesellschaft den Wegfall der Steuerschuld bei dieser erkämpfe, der automatischen Erhöhung der eigenen Steuerschuld über einen Änderungsbescheid nach § 94 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsabgabenordnung aber widerspreche (Urteil vom 7. Juli 1966 V 20/64, BFHE 86, 541, BStBl III 1966, 613).
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kann aus den vorstehenden Entscheidungen nicht hergeleitet werden, daß im Streitfall unabhängig von einer Aufhebung der gegenüber der GmbH ergangenen Umsatzsteuerbescheide die von dieser geleisteten Umsatzsteuerzahlungen auf die Umsatzsteuerschulden der Klägerin anzurechnen seien.
2. a) Die vorgenannten Entscheidungen des V. Senats des BFH unterscheiden sich, soweit sie die Frage der Zurechnung (Anrechnung) von Steuerzahlungen der Organgesellschaft beim Organträger ausdrücklich bejahen (so Urteile vom 17. September 1981 V R 35/79, NV, und in BFH/NV 1988, 201), von dem Streitfall dadurch, daß sie zur Rechtslage nach Aufhebung der gegenüber der Organgesellschaft ergangenen Umsatzsteuerbescheide ergangen sind. Die unbestimmte Äußerung (in BFHE 85, 250, BStBl III 1966, 300, 301), daß die Umsatzsteuerzahlungen "irgendwie" angerechnet werden müßten, ist im Rahmen der Prüfung der Beschwer für die Anfechtbarkeit des Umsatzsteuer bescheids durch den herrschenden Unternehmer und nicht -- wie hier -- im Abrechnungsverfahren gemacht worden. Die ihr zugrundeliegende Intention des V. Senats, eine doppelte Besteuerung derselben Um sätze zu vermeiden, kann zudem nunmehr ohne weiteres dadurch erreicht werden, daß die Steuerfestsetzungen gegenüber der Organgesellschaft zunächst aufgehoben werden (vgl. § 174 Abs. 1 AO 1977, dazu unten 4.). Das Urteil in BFHE 86, 541, BStBl III 1966, 613 betrifft darüber hinaus einen vom Streitfall völlig verschiedenen Sachverhalt, weil dort nicht um die Anrechnung von Zahlungen (Steuererhebungsverfahren), sondern nur um die Verpflichtung des Organträgers zur Hinnahme des (steuererhöhenden) Änderungsbescheids nach Aufhebung des Umsatzsteuerbecheids ge genüber der Organgesellschaft (Steuerfestsetzungsverfahren) gestritten wurde. Im Streitfall ist dagegen im Verfahren über Abrechnungsbescheide gemäß § 218 Abs. 2 AO 1977 (Steuererhebungsverfahren) streitig, ob die Umsatzsteuerzahlungen, die die Organgesellschaft (GmbH) auf die vermeintlich eigene Steuerschuld geleistet hat, auf die Umsatzsteuerschuld des Organträgers (Klägerin) anzurechnen sind, obwohl die Umsatzsteuerbescheide gegenüber der GmbH aufgrund deren diese gezahlt hat, weiterhin Bestand haben. Nach Auffassung des Senats kann eine Anrechnung der Zahlungen nicht erfolgen, solange die Steuerfestsetzungen gegenüber der Organgesellschaft noch nicht aufgehoben worden sind, weil bis zu diesem Zeitpunkt formell eine eigene Steuerschuld der GmbH besteht und somit die geleisteten Zahlungen zur Tilgung der Steuerschuld der Klägerin nicht zur Verfügung stehen.
b) Der erkennende Senat hat in BFHE 142, 207, BStBl II 1985, 114 für organschaftsähnlich verbundene Personengesellschaften entschieden, daß sich die herrschende Gesellschaft auf ihren Umsatzsteuererstattungsanspruch, der sich nach den gesamten Umsätzen des Organkreises ergab, die bereits an die beherrschte Gesellschaft ausgezahlte Umsatzsteuer nicht anrechnen lassen muß, sondern das FA diese Umsatzsteuer nach Aufhebung des entsprechenden Umsatzsteuerbescheids von der beherrschten Gesellschaft zurückzufordern hat. Der Senat hat dabei ausgeführt, die Frage der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Abrechnungsbescheids müsse nach der Rechtslage beurteilt werden, wie sie sich aufgrund der bestandskräftigen Verwaltungsakte und deren Verwirklichung durch Leistungen der Beteiligten ergebe. ... Die Steuerbescheide seien ihrem formellen Inhalt gemäß zu vollziehen, indem die Erstattung an das beherrschte Unternehmen zurückgefordert werde und die festgesetzte Umsatzsteuererstattung an die Klägerin (herrschendes Unternehmen) zu leisten sei.
Die vorstehenden Ausführungen, nach denen im Abrechnungsverfahren gemäß § 218 Abs. 2 AO 1977 auf die formelle und nicht auf die materielle Rechtslage abzustellen ist, sind auch auf den Streitfall, bei dem es nicht um die doppelte Steuererstattung, sondern um eine doppelte Steuerzahlung geht, übertragbar und zutreffend. Die Beachtung der formellen Bescheidlage ge mäß dem zitierten Senatsurteil führt hier zu dem Ergebnis, daß die Umsatzsteuerzahlungen der GmbH jedenfalls solange nicht auf die Umsatzsteuerschuld der Klägerin angerechnet werden können, wie die Steuerfestsetzungen gegenüber der Organgesellschaft von Bestand sind. Das gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, daß sich das Urteil in BFHE 142, 207, BStBl II 1985, 114 vom Streitfall dadurch unterscheidet, daß dort der Steuerbescheid gegenüber der beherrschten Gesellschaft (Organ) bereits aufgehoben und die ausgezahlten Beträge von dieser zurückgefordert worden waren und daß es sich dort um ein organschaftsähnliches Verhältnis handelte, dessen umsatzsteuerrechtliche Anerkennung zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats von der neueren Rechtsprechung des BFH bereits aufgegeben worden war. Wesentlich und insoweit auf den Streitfall übertragbar sind die vorstehenden Ausführungen des Senats über die Maßgeblichkeit der formellen Bescheidlage für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Ab rechnungsbescheids und nicht -- wie das FG meint -- die sich aus der Aufgabe des Rechtsinstituts des organschaftsähnlichen Verhältnisses ergebende Rechtsfolge, daß zum Zeitpunkt der zitierten Entscheidung auch umsatzsteuerrechtlich von zwei selbständigen Unternehmen auszugehen war.
3. Das FG stellt demgegenüber allein auf die materielle Rechtslage ab, indem es von einem einheitlichen Steuerschuldverhältnis der beiden zivilrechtlich selbständigen, aber organschaftlich verbundenen Unternehmen zur Finanzverwaltung ausgeht und den Grundsatz von Treu und Glauben als Begründung dafür heranzieht, daß die Zahlungen der Organgesellschaft dem Organträger zur Vermeidung einer doppelten Umsatzsteuerzahlung für dieselben Umsätze zuzurechnen seien. Die hier maßgebliche Frage der Rechtmäßigkeit von Abrechnungsbescheiden und die Anrechnungen von Steuerzahlungen auf eine festgesetzte Steuerschuld ist aber nicht Gegenstand des Steuerfestsetzungsverfahrens, für das die materiell-rechtliche Regelung über die Organschaft (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG) ihre Bedeutung hat, sondern des steuerlichen Erhebungsverfahrens, bei dem es um die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis geht. Die Verwirklichung (Durchsetzung) von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis richtet sich nicht nach der materiellen, sondern nach der formellen Rechtslage, denn Grundlage für die Verwirklichung dieser Ansprüche sind nach § 218 Abs. 1 AO 1977 die Steuerbescheide und sonstige Festsetzungsverwaltungsakte; die Steuer anmeldungen i. S. des § 168 AO 1977 stehen den Steuerbescheiden gleich (§ 218 Abs. 1 Satz 2 AO 1977), was hier für die Umsatzsteuervoranmeldungen der Organgesellschaft von Bedeutung ist. Gegenstand des Abrechnungsbescheids nach § 218 Abs. 2 AO 1977 ist demgemäß nur, inwieweit die in dem Steuerbescheid etc. festgestellten Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis noch bestehen oder bereits erfüllt sind. Die Entstehung des Anspruchs wird vorausgesetzt, über die materielle Richtigkeit des geltend gemachten Steueranspruchs wird durch den Verwaltungsakt nach § 218 Abs. 2 AO 1977 nicht entschieden (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 218 AO 1977, Tz. 5 m. w. N.).
Das bedeutet für den Streitfall, daß im Verfahren über die Abrechnungsbescheide das Bestehen der umsatzsteuerrechtlichen Or ganschaft zwischen der Klägerin und der GmbH jedenfalls solange ohne Bedeutung ist, wie die Umsatzsteuerfestsetzungen (Jahresbescheide und Vorauszahlungsbescheide) gegenüber der GmbH nicht aufge hoben worden sind. Bis zu diesem Zeitpunkt sind aufgrund der formellen Be scheidlage die Zahlungen der Organgesellschaft als auf ihre eigene, durch Bescheid festgesetzte Steuerschulden geleistet anzusehen, auch wenn dies der materiellen Rechtslage widerspricht. Die Zahlungen der GmbH stehen deshalb als Zahlung eines Dritten auf dessen eigene Steuerschulden für eine Anrechnung auf die Umsatzsteuerschulden der Klägerin nicht zur Verfügung. Wenn schon ein und derselbe Steuerpflichtige, der aufgrund eines zu Unrecht ergangenen Steuerbescheids Zahlungen auf die materiell-rechtlich nicht geschuldete Steuerschuld geleistet hat, nicht deren Erstattung oder Verrechnung mit anderen Steuerschulden verlangen kann, solange der unrechtmäßige Steuer bescheid Bestand hat, so muß dies umso mehr gelten für das Anrechnungsbegehren des Organträgers für Zahlungen, die die Organgesellschaft aufgrund des gegen sie ergangenen Umsatzsteuerbescheids geleistet hat. Denn hier ist aufgrund der Beteiligung mehrerer Personen/Gesellschaften -- hier sogar auch noch unterschiedlicher FÄ -- eine strenge Beachtung der formellen Bescheidlage geboten. Daß umsatzsteuerrechtlich nur ein Steuerpflichtiger (Unternehmer) gegeben ist, muß als Ausfluß der hier unerheblichen materiellen Rechtslage außer Betracht bleiben. Solange die Bescheide gegenüber der GmbH (Organgesellschaft) nicht aufgehoben worden sind, das zuständige FA also Umsatzsteuer ansprüche gegen sie geltend macht, ist im übrigen auch diese Beteiligte eines Steuerschuldverhältnisses. Das zuständige FA hat somit aufgrund der gegen diese ergangenen Steuerfestsetzungen die Zahlungen der GmbH mit Rechtsgrund erlangt. Dieser sich aus der formellen Rechtslage ergebende Rechtsgrund wirkt -- entgegen der Auffassung der Vorinstanz -- auch gegenüber der Klägerin als Organträger.
4. Zur Vermeidung einer doppelten Bezahlung der Umsatzsteuer für dieselben Umsätze durch die Organgesellschaft und durch den Organträger aufgrund der dargestellten formellen Rechtslage bedarf es regelmäßig nicht des Rückgriffs auf die Grundsätze von Treu und Glauben, auf die sich das FG wiederum unter Hinweis auf die materielle Rechtslage beruft. Das Verfahrensrecht stellt vielmehr -- wie die Revision zutreffend ausführt -- in § 174 Abs. 1 AO 1977 für den Fall der mehrfachen Erfassung von Steuertatbeständen in verschiedenen Bescheiden eine Aufhebungs- bzw. Änderungsvorschrift zur Verfügung, mit der die formelle Bescheidlage der materiellen Rechtslage angepaßt werden kann, soweit dies nicht schon aufgrund anderer Vorschriften möglich sein sollte. Ist ein bestimmter Sachverhalt (hier: die Umsätze der GmbH) in mehreren Steuerbescheiden zu Ungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden (hier: der GmbH und der Klägerin), obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen (bei der Klägerin), so ist nach dieser Vorschrift der fehlerhafte Steuerbescheid (der GmbH) auf Antrag aufzuheben oder zu ändern. Da sich hier die Gefahr der doppelten Zahlung derselben Steuerschuld aufgrund widerstreitender Steuerfestsetzungen ergibt, ist es auch sachgerecht, sie allein durch Aufhebung dieser widerstreitenden Festsetzungen, d. h. auf der Ebene des Steuerfestsetzungsverfahrens zu beseitigen.
Nach § 174 Abs. 1 AO 1977 hätte also die Bestandskraft des Umsatzsteuerbescheids 1986 und der Umsatzsteuervorauszahlungsbescheide 1987 der GmbH durchbrochen und diese Bescheide im Hinblick auf die Erfassung der Umsätze bei der Klägerin aufgehoben werden können. Dem steht die Zuständigkeit verschiedener FÄ für die Klägerin und die GmbH nicht entgegen. Die Revision weist mit Recht darauf hin, daß die Klägerin als Alleingesellschafterin der GmbH auch nach deren Löschung im Handelsregister die Einsetzung eines Nachtragsliquidators hätte veranlassen können, der den Antrag auf Aufhebung der Umsatzsteuerbescheide und auf Rückzahlung bzw. Verrechnung der geleisteten Steuerzahlungen bei dem für die GmbH zuständigen FA hätte stellen können (vgl. § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die Auflösung und Lö schung von Gesellschaften und Genossenschaften vom 9. Oktober 1934, RGBl I, 914). Aus welchen Gründen sich die Klägerin nicht um die Aufhebung der Umsatzsteuerbescheide gegenüber der GmbH be müht hat, ist nicht ersichtlich. Wenn eine Aufhebung dieser Bescheide nunmehr wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung (vgl. § 174 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AO 1977) oder aus sonstigen Gründen nicht möglich sein sollte, so muß das Ergebnis der widerstreitenden Steuerfestsetzungen hingenommen werden; d. h. die Umsatzsteuerbescheide gegenüber der GmbH stellen nach § 218 Abs. 1 AO 1977 die Grundlage für die Verwirklichung (Zahlung) dieser Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis dar, für eine Anrechnung der Zahlungen der GmbH auf die Umsatzsteuerschulden der Klägerin ist dann kein Raum. Auch in sonstigen Fällen kann das materiell-rechtlich gewünschte Ergebnis nicht allein unter Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben verwirklicht werden, wenn die Aufhebung oder Änderung eines fehlerhaften Steuerbescheids nach der formellen Rechtslage nicht mehr möglich ist.
Ob im Falle der Aufhebung der Umsatzsteuerbescheide gegenüber der GmbH sich ein unmittelbarer Erstattungsanspruch der Klägerin als Organträger ergeben würde -- wie der V. Senat des BFH meint (vgl. oben 1.) -- mit der Folge, daß er auch eine Aufrechnung des FA mit sonstigen Steuerschulden der Organgesellschaft ausschließen würde, braucht im vorliegenden Verfahren nicht entschieden zu werden, da es nicht zur Aufhebung dieser Bescheide gekommen ist.
Die Vorentscheidung, die auf einer anderen Rechtsauffassung beruht, war demnach aufzuheben und die Klage gegen die Abrechnungsbescheide des FA abzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 65454 |
BFH/NV 1995, 580 |