Leitsatz (amtlich)
Gutschriften einer Genossenschaft auf den Geschäftsguthaben der Genossen sind diesen nur dann als Kapitalerträge zugeflossen, wenn sie dadurch von einer sonst bestehenden Verpflichtung zur Einzahlung auf ihre Geschäftsanteile befreit werden. Beträge, die den Geschäftsguthaben nach Erhöhung der Geschäftsanteile aus den offenen Rücklagen der Genossenschaft gutgeschrieben werden, dienen regelmäßig nicht der Erfüllung einer solchen Verpflichtung.
Normenkette
EStG § 44 Abs. 3 S. 2; KapStDV § 6 Abs. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine eingetragene Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht, betreibt eine Molkerei. Sie hatte aufgrund einer Vereinbarung vom 15. August 1969 das Vermögen der Molkerei X-eGmbH im Wege der Verschmelzung nach § 93 a des Genossenschaftsgesetzes (GenG) übernommen. Dabei wurde vereinbart, daß die Geschäftsguthaben der Mitglieder der übertragenden Genossenschaft "aus den Rücklagen aufgestockt" werden sollten. In der am 24. August 1969 abgehaltenen Generalversammlung beschloß die übertragende Genossenschaft nach Genehmigung des Verschmelzungsvertrages und der Schlußbilanz zum 31. Juli 1969, einen Betrag von ca. 87 000 DM "aus Gewinn und Kapital" an ihre Genossen auszuschütten. Verteilerschlüssel sollte die Menge der von Januar bis September angelieferten Milch sein.
Der Betrag wurde wie folgt verteilt: 6 690 DM wurden zur Angleichung der Geschäftsanteile der übertragenden Genossenschaft (150 DM) und der übernehmenden Genossenschaft (160 DM) verwendet. Ein weiterer Teilbetrag von 19 833 DM wurde den Genossen - zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuererstattung von 996 DM - als Warenrückvergütung und der verbleibende Betrag von 60 445 DM als "zusätzliche Milchgeldnachzahlung" für vergangene Jahre erstattet. Die Warenrückvergütung wurde zu Lasten des laufenden Gewinnes verrechnet, die übrigen Beträge den offenen Rücklagen entnommen. Aus dem Betrag von 60 445 DM behielt die Klägerin vorsorglich Kapitalertragsteuer ein, führte diese jedoch nicht an den Beklagten und Revisionsbeklagten (FA) ab, sondern bildete eine Rückstellung.
Das FA zog die Klägerin mit den zur Aufstockung der Geschäftsguthaben und den für die "Milchgeldnachzahlungen" verwendeten Teilen der offenen Rücklagen als Haftungsschuldnerin zur Kapitalertragsteuer und Ergänzungsabgabe heran. Einspruch und Klage blieben erfolglos.
Mit der Revision beantragt die Klägerin, die Vorentscheidung und den Kapitalertragsteuerhaftungsbescheid des FA aufzuheben. Sie rügt Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist teilweise begründet.
I. Die Verfahrensrüge greift nicht durch. Insoweit braucht die Entscheidung des Senats nicht begründet zu werden (Art. 1 Nr. 8 BFH-EntlastG vom 8. Juli 1975, BGBl I, 1861).
II. Der angefochtene Haftungsbescheid ist in der Höhe aufzuheben, in der auf den zur Angleichung der Geschäftsanteile verwendeten Betrag von 6 690 DM Kapitalertragsteuer und Ergänzungsabgabe festgesetzt wurde.
1. Steuerschuldner der Kapitalertragsteuer ist der Gläubiger der Kapitalerträge (§ 44 Abs. 5 Satz 1 EStG). Der Schuldner der Kapitalerträge hat die Kapitalertragsteuer für den Gläubiger einzubehalten (§ 44 Abs. 3 Satz 1 EStG). Dasselbe gilt für die Einbehaltung der Ergänzungsabgabe (§ 3 Nr. 3 des Gesetzes über eine Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer vom 21. Dezember 1967 - BGBl I, 1254, BStBl I, 484 -). Zu den Kapitalerträgen gehören auch inländische Bezüge aus Anteilen an Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, gleichgültig, welcher Einkunftsart diese Erträge beim Empfänger zuzurechnen sind. Unter diese Bezüge fallen grundsätzlich alle Ausschüttungen durch die Genossenschaften, wobei nicht entscheidend ist, ob sie aus dem laufenden Gewinn oder aus einer Rücklage geleistet werden.
Den Steuerabzug hat der Schuldner der Kapitalerträge in dem Zeitpunkt vorzunehmen, in dem die Kapitalerträge dem Gläubiger zufließen, und die einbehaltenen Steuerabzüge innerhalb eines Monats an das FA abzuführen (§ 44 Abs. 3 Satz 2 EStG, § 6 Abs. 1 KapStDV). Maßgeblich ist auch für Kapitalerträge allein der tatsächliche Zufluß (Urteil des BFH vom 1. März 1972 I R 214/70, BFHE 105, 39, BStBl II 1972, 591). Der Schuldner der Kapitalerträge haftet für die Einbehaltung und Abführung der Kapitalertragsteuer (§ 44 Abs. 5 Satz 2 EStG). Das gilt auch dann, wenn der Gläubiger veranlagt wird, aber besondere Gründe für die Inanspruchnahme des Schuldners sprechen (BFH-Urteil vom 3. Juli 1968 I 191/65, BFHE 93, 373, BStBl II 1969, 4).
2. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall hinsichtlich der "zusätzlichen Milchgeldnachzahlungen", nicht aber auch hinsichtlich der Gutschriften für die Geschäftsguthaben der Genossen erfüllt.
a) Erhöhung der Geschäftsguthaben
Die einkommensteuerrechtliche Behandlung von Beträgen, die eine Genossenschaft den Geschäftsguthaben ihrer Genossen nach Erhöhung der Geschäftsanteile aus ihren offenen Rücklagen gutschreibt, ist - anders als der Erwerb neuer Anteilsrechte bei Erhöhung des Nennkapitals aus Gesellschaftsmitteln bei einer Aktiengesellschaft (AG), einer Kommanditgesellschaft (KG) auf Aktien und einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) im Kapitalerhöhungssteuergesetz (KapErhStG) - im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Solche Gutschriften sind insbesondere keine Freianteile i. S. von § 1 Abs. 4 Satz 2 KapStDV. Sie können auch nicht wie Freianteile behandelt werden. Zwar hat der RFH in seinem Urteil vom 17. Oktober 1933 I A 349/32 (RStBl 1934, 359) die Auflösung offener Rücklagen durch eine Genossenschaft zum Zweck der Erhöhung der Geschäftsguthaben der Genossen als einen Vorgang bezeichnet, der sich wirtschaftlich und rechtlich nicht von der Ausgabe von Gratisaktien durch eine AG oder von Freianteilen durch eine GmbH unterscheide. Dieser Gleichstellung lag die - damals auch im Handelsrecht vorherrschende - Vorstellung zugrunde, daß sich Kapitalerhöhungen aus Gesellschaftsmitteln bei Kapitalgesellschaften in zwei Akten vollziehe: Die Gesellschaft stelle den Gesellschaftern den Anspruch auf Ausschüttung des aus der Auflösung offener Rücklagen stammenden Gewinns zur Verfügung; dieser Anspruch werde bei Zeichnung der Anteile wieder in die Gesellschaft eingelegt (zur Begründung und Entwicklung dieser sogenannten handelsrechtlichen Doppelmaßnahmetheorie vgl. RFH-Gutachten vom 14. Dezember 1920 I D 4/20, RFHE 4, 222, und BFH-Urteil vom 17. September 1957 I 165/54 S, BFHE 65, 437, BStBl III 1957, 401, mit weiteren Nachweisen). Die Vorstellung einer Ausschüttung und Wiedereinlage lag auch in der Folgezeit der Rechtsprechung des RFH und BFH zugrunde (vgl. z. B. RFH-Urteile vom 28. März 1940 IV 324/39, RStBl 1940, 570, und vom 19. November 1942 IV 136/42, RStBl 1943, 226; BFH-Urteile I 165/54 S und vom 1. August 1958 VI 13/57 U, BFHE 67, 300, BStBl III 1958, 390). Die Gerichte rückten jedoch von der ursprünglichen Begründung ab; sie gingen nunmehr davon aus, daß Zahlungen aus den Rücklagen der Gesellschaft für die Gesellschafter die Umwandlung von steuerpflichtigen in steuerfreie Erträge bedeute. Denn Rückzahlungen aus dem Stamm- bzw. Grundkapital seien im Gegensatz zu Ausschüttungen aus den offenen Reserven steuerfrei.
Der Senat braucht im Streitfall nicht zu entscheiden, ob diese - auch vom FA vertretene - Ansicht für Umwandlungen von Rücklagen in Nennkapital, die die Voraussetzungen des Gesetzes über die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln und über die Gewinn- und Verlustrechnung vom 23. Dezember 1959 - KapErhG - (BGBl I, 789) und der in den §§ 207 ff. des Aktiengesetzes vom 6. September 1965 (AktG 1965) getroffenen Regelung nicht erfüllen, aufrechterhalten werden kann. Zur Beurteilung der steuerrechtlichen Auswirkungen einer Erhöhung der Geschäftsanteile bei Genossenschaften und einer gleichzeitigen Erhöhung der Geschäftsguthaben durch Gutschriften aus aufgelösten offenen Rücklagen bedarf es der Annahme einer Doppelmaßnahme weder aus handelsrechtlichen noch aus steuerrechtlichen Gründen.
aa) die handelsrechtliche Lehre von der Doppelmaßnahme hat den Schutz der Gläubiger der Gesellschaft und den Schutz der künftigen Erwerber der Freianteile zum Ziel. Sie will durch die Haftung des zeichnenden Aktionärs oder übernehmenden Gesellschafters einer GmbH sicherstellen, daß der Betrag der Erhöhung des Grund- bzw. Stammkapitals auch wirklich durch Vermögenswerte gedeckt wird. Bei der Erhöhung der Geschäftsanteile und Geschäftsguthaben von Genossen durch Gesellschaftsbeschluß ist eine solche Sicherung nicht erforderlich. Die eingetragene Genossenschaft verfügt nicht über ein Kapital i. S. des nominell festgelegten Grund- oder Stammkapitals einer Kapitalgesellschaft. Die Summe der von den Mitgliedern übernommenen Geschäfts anteile bildet nicht das Vermögen der Gesellschaft; sie bezeichnet als bloße Rechnungsgröße nur den Höchstbetrag, bis zu dem sich Genossen mit Einlagen beteiligen können (§ 7 Nr. 2 des Gesetzes betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften i. d. F. vor dem Änderungsgesetz vom 9. Oktober 1973 - GenG a. F.-, BGBl I, 1451). Sie bestimmt zugleich im Regelfall den Umfang der Haftsumme (§ 131 GenG a. F.). Die Erhöhung des Geschäftsanteils führt deshalb - ohne zusätzliche Zeichnung oder Übernahme der erhöhten Anteile - zu einer entsprechenden Erhöhung der Haftsumme. Die Haftung wird mit der Eintragung des satzungsändernden Erhöhungsbeschlusses wirksam (§ 16 Abs. 2 und Abs. 3 GenG a. F.). Interessen eines künftigen Erwerbers werden durch den Beschluß, den Geschäftsanteil zu erhöhen, nicht berührt. Der Geschäftsanteil ist - im Gegensatz zur Aktie oder zum Geschäftsanteil einer GmbH - nicht veräußerlich. Veräußert werden kann nur das Geschäfts guthaben. Die Erwerber dieses Guthabens bedürfen jedoch keines besonderen Schutzes. Geschäftsanteile an einer Genossenschaft werden nicht zur Kapitalanlage, sondern zur Förderung des gemeinsamen Erwerbs oder der Wirtschaft der Genossen erworben (§ 1 Abs. 1 GenG a. F.). Die vermögensrechtliche Beteiligung ist nicht Voraussetzung, sondern Ausfluß der Mitgliedschaft (vgl. z. B. Urteil des RG in Zivilsachen vom 6. Februar 1934 II 250/33, RGZ 143, 296 [300]). Die Veräußerung des Geschäftsguthabens hat lediglich die Bedeutung der Abtretung einer gegen die Gesellschaft gerichteten Forderung.
bb) Die steuerrechtliche Annahme einer Doppelmaßnahme bei Umwandlung steuerpflichtiger in steuerfreie Erträge setzt voraus, daß die Erträge dem Steuerpflichtigen zugeflossen sind. Diese Voraussetzung ist bei Gutschriften auf dem Geschäftsguthaben von Genossen nicht erfüllt.
aaa) Einnahmen sind dann zugeflossen, wenn der Steuerpflichtige die wirtschaftliche Verfügungsmacht über sie erlangt hat (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 2. November 1962 VI 284/61 S, BFHE 76, 270, BStBl III 1963, 96; vom 30. Januar 1974 I R 139/71, BFHE 112, 125, BStBl II 1974, 454; vom 22. November 1974 VI R 138/72, BFHE 114, 346, BStBl II 1975, 350, mit weiteren Nachweisen). Das ist bei Gutschriften in den Büchern des Steuerpflichtigen nur dann der Fall, wenn sie jederzeit abgerufen werden können. Sie dürfen nicht nur eine Schuldverpflichtung buchmäßig festhalten; sie müssen darüber hinaus zum Ausdruck bringen, daß der Betrag dem Berechtigten von nun an zur beliebigen Verwendung zur Verfügung steht (vgl. BFH-Urteile vom 9. April 1968 IV 267/64, BFHE 92, 221, BStBl II 1968, 525; VI R 138/72). Unterbleibt die Zahlung und erfolgt die Gutschrift im alleinigen oder überwiegenden Interesse des Schuldners, liegt ein Zufluß nicht vor (ständige Rechtsprechung; vgl. die Nachweise bei Herrmann-Heuer, Kommentar zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, § 11 EStG Anm. 15).
Diese für die Auslegung des § 11 Abs. 1 EStG maßgeblichen Grundsätze sind auch im Streitfall zu beachten. Der in § 44 Abs. 3 Satz 2 EStG und in § 6 Abs. 1 KapStDV verwendete Begriff des Zufließens deckt sich mit demjenigen des § 11 Abs. 1 EStG (BFH-Urteil I R 214/70). Der erkennende Senat hat deshalb bereits in seinem Urteil I 165/54 S das Vorliegen einer Gewinnausschüttung verneint, wenn Freianteile aus einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln nicht an die Gesellschafter ausgegeben werden, sondern bei der Gesellschaft verbleiben. Hier fehlt - von Ausnahmefällen abgesehen - die Verfügungsmöglichkeit des einzelnen Gesellschafters.
bbb) Werden dem Geschäftsguthaben eines Genossen nach Auflösung offener Rücklagen der Gesellschaft Beträge gutgeschrieben, so werden diese Teil des Geschäftsguthabens. Als solche sind sie nicht selbständig verwertbar. Nach § 22 Abs. 4 GenG a. F. dürfen Geschäftsguthaben eines Genossen, solange dieser nicht ausgeschieden ist, von der Genossenschaft nicht ausgezahlt oder im geschäftlichen Betrieb zum Pfand genommen werden. Nach § 21 GenG a. F. darf das Geschäftsguthaben nicht verzinst werden. Bis zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung stellt der Genosse der Genossenschaft das Geschäftsguthaben in seiner jeweiligen Höhe als Betriebsmittel zur Verfügung. Wird das Geschäftsguthaben aus den offenen Rücklagen erhöht, bleibt diese Bindung im Interesse des Zwecks, den die Genossenschaft erfüllen soll, aufrechterhalten.
Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, daß der Genosse das Geschäftsguthaben veräußern kann (§ 76 GenG a. F.). Voraussetzung hierfür ist, daß der Erwerber ebenfalls Genosse ist oder wird. Das Statut kann zudem die Übertragung des Geschäftsguthabens auch ausschließen oder an weitere Voraussetzungen knüpfen. Vor allem aber hat die Übertragung des Geschäftsguthabens das Ausscheiden aus der Genossenschaft zur Folge. Da nach dem Grundgedanken des Genossenschaftsrechts die persönliche Mitgliedschaft der wesentliche Beweggrund für die Beteiligung an einer Genossenschaft ist, wird die Verfügungsmöglichkeit damit tatsächlich so weitgehend eingeschränkt, daß die Annahme eines Zuflusses im Zeitpunkt der Rücklagenübertragung nicht gerechtfertigt erscheint.
ccc) Der erkennende Senat teilt die vom FA gegen dieses Ergebnis vorgebrachten Bedenken nicht.
Für die nach Maßgabe des § 19 Abs. 1 GenG a. F. durch Gutschrift auf die Genossen verteilten Gewinne des jeweiligen Geschäftsjahres gelten die gleichen Grundsätze. Der RFH hatte zwar im Urteil vom 14. April 1942 I 35/42, RStBl 1942, 549 (bestätigt im Urteil vom 28. Juli 1942 I 94/42, RStBl 1943, 29, das jedoch die Gutschrift auf Sparkonten und laufenden Konten der Genossen außerhalb des Geschäftsguthabens betraf) Gutschriften zur Wiederauffüllung von abgeschriebenen Geschäftsguthaben als im Zeitpunkt der Gutschrift zugeflossene Gewinnausschüttungen behandelt. Das Schrifttum hat sich dieser Ansicht angeschlossen (vgl. z. B. Herrmann-Heuer, a. a. O., § 20 EStG Anm. 30; Zülow-Henze-Schubert, Die Besteuerung der Genossenschaften, 5. Aufl., S. 282). Sie kann jedoch mit der Begründung, die ihr der RFH gegeben hat, nicht mehr aufrechterhalten werden. Sie stützte sich auf § 5 Abs. 2 der Verordnung über die Körperschaftsteuer der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften vom 8. Dezember 1939 - KStGenV - (RGBl I 1939, 2391, RStBl 1939, 1189), wonach der Abzug von Warenrückvergütungen insoweit zu unterbleiben hatte, als der Gesamtbetrag der ausgeschütteten Gewinnanteile hinter dem Betrag einer angemessenen Verzinsung des Eigenkapitals zurückbleibt und auf die Annahme, daß der in dieser Vorschrift verwendete Begriff der Ausschüttungen mit dem für die Einbehaltung der Kapitalertragsteuer maßgeblichen Begriff des Zuflusses identisch sei. Die Verordnung ist auf Veranlagungszeiträume nach dem 20. Juni 1968 nicht mehr anwendbar (§ 37 Abs. 2 KStDV 1949). An ihre Stelle sind die §§ 31 bis 35 KStDV getreten, die eine vergleichbare Bestimmung nicht mehr enthalten.
Die Erhöhung des Geschäftsguthabens der Genossen durch Umwandlung offener Rücklagen der Gesellschaft ist auch keine Doppelmaßnahme i. S. einer tatsächlich durchgeführten Verrechnung gegenseitiger Ansprüche. Solche Verrechnungen haben die Tilgung einer Schuld zur Folge; der Tilgungsbetrag ist deshalb im Zeitpunkt der Verrechnung i. S. von § 11 Abs. 1 EStG zugeflossen (ständige Rechtsprechung, zuletzt BFH-Urteil VI R 138/72). Dementsprechend sind auch die von einer Genossenschaft gewährten Gutschriften insoweit als steuerabzugspflichtige Kapitalerträge anzusehen, als durch sie die Genossen von einer sonst bestehenden Verpflichtung zur Einzahlung auf ihre Geschäftsanteile befreit werden. In diesem Fall haben sie den Ertrag erhalten und gleichzeitig eine ihnen obliegende Zahlungsverpflichtung erfüllt. Die Ausführungen des erkennenden Senats im Urteil vom 9. Juni 1971 I R 171/69 (mitgeteilt in BB 1972, 303) richten sich - ebenso wie diejenigen des BFH-Urteils vom 21. Januar 1966 VI 140/64 (BFHE 85, 21, BStBl III 1966, 220) und die im KapErhStG getroffene Regelung - nur gegen die Annahme der steuerrechtlichen Fiktion einer Doppelmaßnahme bei Kapitalerhöhungen. Erfolgt aber die Kapitalerhöhung tatsächlich im Wege einer Doppelmaßnahme auf der Grundlage der Verrechnung gegenseitiger Ansprüche, so bleibt der Grundsatz unberührt, daß der Gesellschafter in Höhe der Ausschüttungen Einnahmen aus Kapitalvermögen und Anschaffungskosten in Höhe seiner erloschenen bisherigen Forderung hat.
Im Streitfall kommt eine solche Verrechnung nicht in Betracht. Der Beschluß der Gesellschaft nach § 16 Abs. 2 GenG a. F., den Geschäfts anteil zu erhöhen, begründet keine Pflicht des Genossen zur Einzahlung weiterer Beträge. Ob eine solche Verpflichtung entsteht, ist vielmehr eine Frage der Durchführung dieses Beschlusses. Es bedarf eines weiteren - das Statut ändernden - Beschlusses, wenn über die in § 7 Nr. 2 GenG a. F. festgelegte Mindesthöhe von 1/10 des (Gesamt-)Geschäftsanteils hinaus eine zusätzliche Einzahlungsverpflichtung begründet werden soll. § 19 Abs. 1 Satz 3 GenG a. F. sieht insoweit lediglich vor, daß künftige Gewinne dem Geschäftsguthaben so lange zugeschrieben werden, bis der (erhöhte) Geschäftsanteil erreicht ist. Es entspricht dieser Regelung, wenn die Genossenschaft zusammen mit der Erhöhung des Geschäftsanteils die Zuschreibung offener Rücklagen der Gesellschaft in einer entsprechenden Höhe beschließt. Ein solcher Beschluß schließt die Begründung einer Einzahlungsverpflichtung der Genossen und damit die Möglichkeit einer Verrechnung von gegenseitigen Ansprüchen aus.
b) Sonstige Ausschüttungen (60 445 DM)
Die übrigen aus den Rücklagen ausgeschütteten Leistungen sind keine Milchgeldnachzahlungen im eigentlichen Sinne, die wie Warenrückvergütungen von der Besteuerung bei der Körperschaftsteuer der Genossenschaft und als Kapitalerträge bei den Mitgliedern ausgenommen wären (§ 35 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 KStDV; vgl. BFH-Urteil vom 1. Februar 1966 I 275/62, BFHE 85, 307, BStBl III 1966, 321). Ebenso wie bei den Warenrückvergütungen handelt es sich bei den begünstigten Nachzahlungen um eine Form der Verteilung des in einem bestimmten Wirtschaftsjahr erzielten Überschusses nach der Höhe der gegenseitigen Warenlieferungen (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 18. Dezember 1963 I 187/62 U, BFHE 78, 553, BStBl III 1964, 211, und vom 8. November 1960 I 152/59 U, BFHE 71, 738, BStBl III 1960, 523). Überschüsse können nach Ablauf des Wirtschaftsjahres bei Beschlußfassung über den Jahresabschluß verteilt werden. Unabdingbare Voraussetzung für die steuerrechtliche Begünstigung ist jedoch eine entsprechende Festsetzung durch die Genossenschaft. Das gilt auch für steuerbefreite Genossenschaften. Eine solche Festsetzung liegt nach den den Senat bindenden Feststellungen des Finanzgerichts (FG) nur in Höhe von 19 833 DM vor. Das FG hat daher zu Recht offengelassen, ob im Streitfall ein höherer Überschuß hätte ausgeschüttet werden können.
Andererseits steht es der Genossenschaft grundsätzlich frei, ob sie den Überschuß verteilen oder den Rücklagen zuführen will. Von im Streitfall nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen, entfällt mit der Wahl der Rücklagenbildung die Möglichkeit der späteren steuerbegünstigten Verteilung (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 30. April 1957 I 145/56 U, BFHE 64, 586, BStBl III 1957, 219). Ausschüttungen aus diesen Rücklagen werden bei den Mitgliedern nicht mehr als Warenrückvergütungen, sondern als Kapitalerträge besteuert. Der Beschluß, Überschüsse den Rücklagen zuzuführen, kann auch dann nicht rückgängig gemacht werden, wenn die Verteilung durch eine geplante Verschmelzung veranlaßt ist. Das Motiv für die Ausschüttung ist steuerlich unbeachtlich.
3. Das FA konnte die Klägerin als Haftungsschuldnerin der Kapitalertragsteuer in Anspruch nehmen (§ 44 Abs. 5 Satz 2 EStG). Der Gesetzeswortlaut läßt erkennen, daß der Gläubiger eines Kapitalertrags nur in Anspruch genommen wird, wenn der Schuldner den Ertrag nicht vorschriftsmäßig gekürzt hat (§ 44 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 EStG). Es kann dahinstehen, ob das FA nach dieser Vorschrift berechtigt gewesen wäre, die Genossen insoweit zur Einkommensteuer heranzuziehen; jedenfalls war der Erlaß des Haftungsbescheides nicht ermessensfehlerhaft. Die Klägerin kann sich nicht darauf berufen, daß der Veranlagung des Gläubigers der Vorrang vor dem Verfahren des Steuerabzugs vom Kapitalertrag gebührt (BFH-Urteil I 191/65). Sie hat Kapitalertragsteuer einbehalten und eine Rückstellung gebildet. Darin liegt ein "besonderer Grund" für ihre Inanspruchnahme.
Fundstellen
BStBl II 1977, 46 |
BFHE 1977, 173 |