Entscheidungsstichwort (Thema)
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde: unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen ein zurückverweisendes letztinstanzliches Urteil. Verfassungsmäßigkeit des Vergnügungssteuergesetzes Hamburg
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung kann nicht darauf gestützt werden, daß das Gericht lediglich in den Gründen seiner Entscheidung eine Rechtsauffassung vertreten habe, die grundrechtswidrig sei.
2. Der Rechtsweg ist im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG so lange nicht erschöpft, als der Beschwerdeführer die Möglichkeit hat, im Verfahren vor den Gerichten des zuständigen Gerichtszweiges die Beseitigung des Hoheitsaktes zu erreichen, dessen Grundrechtswidrigkeit er geltend macht.
3. Das Bundesverfassungsgericht ist auch beim Vorliegen einer der Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nicht verpflichtet, vor Erschöpfung des Rechtsweges zu entscheiden. Es kann vielmehr auch andere, für oder gegen eine vorzeitige Entscheidung sprechende Umstände pflichtgemäß gegeneinander abwägen.
Leitsatz (redaktionell)
Da die Feststellung, ob § 21 VergnStG HA mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar ist, umfangreiche Feststellungen über die Auswirkungen der Steuer voraussetzt, ist aufgrund der Zurückverweisung der Streitsache an das OVG durch das BVerwG, eine Entscheidung des BVerfG zunächst nicht geboten.
Normenkette
BVerfGG § 90 Abs. 1, 2 Sätze 1-2; VergnStG HA
Verfahrensgang
BVerwG (Urteil vom 06.06.1958; Aktenzeichen VII C 76.57) |
Gründe
I.
1. Der Beschwerdeführer hat in Hamburg Geldautomaten aufgestellt. Das Bezirksamt Hamburg-Mitte zog ihn mit Bescheid vom 29. August 1955 für drei Spielapparate auf Grund des hamburgischen Gesetzes über die Vergnügungssteuer vom 28. Juni 1955 (GVBl. S. 221) – im folgenden VgnStG – für das dritte Vierteljahr 1955 zu einer Steuer von 216.– DM heran. Einspruch, Klage und Berufung blieben erfolglos. Auf die Revision des Beschwerdeführers hob das Bundesverwaltungsgericht durch Urteil vom 6. Juni 1958 – VII C 76.57 – das Urteil des Oberverwaltungsgerichts samt den ihm zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück, da noch Feststellungen zu der Frage getroffen werden müßten, ob die streitige Steuer eine mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbare Erdrosselungssteuer sei. Die übrigen Einwände des Beschwerdeführers gegen § 21 VgnStG sind in dem ausführlich begründeten Urteil zurückgewiesen worden. Insbesondere hat das Bundesverwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen festgestellt, daß es sich bei der von der Freien und Hansestadt Hamburg erhobenen Automatensteuer um eine Verkehrs- oder Verbrauchssteuer mit örtlich bedingtem Wirkungskreis handele; die Zuständigkeit des Landes zur Gesetzgebung ergebe sich also aus Art. 105 Abs. 2 Ziff. 1 GG.
2. Der Beschwerdeführer hat gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts Verfassungsbeschwerde mit dem Antrag erhoben, das Urteil aufzuheben und die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zurückzuverweisen. Er hat gebeten, die Verhandlung und Entscheidung zunächst auf die Frage zu beschränken, ob § 21 VgnStG mit Art. 105 GG vereinbar sei und ob diese Vorschrift im Falle ihrer Unvereinbarkeit auch die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 3, 12 und 14 GG verletze.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.
1. Eine Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, wenn die Verletzung eines Grundrechts des Beschwerdeführers durch den angefochtenen Hoheitsakt gar nicht möglich ist (BVerfGE 6, 445 [447]). Wie sich aus dem Zusammenhang der Verfassungsbeschwerde ergibt, kann eine Grundrechtsverletzung nur darin liegen, daß der Beschwerdeführer auf Grund eines Gesetzes zu einer Steuer herangezogen worden ist, das er für verfassungswidrig hält. Ein Eingriff in seine Grundrechte kann daher allenfalls in den Verwaltungsakten der Freien und Hansestadt Hamburg – Bezirksamt Hamburg-Mitte – und den diese bestätigenden Urteilen des Landesverwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts erblickt werden. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das nach dem Antrag allein Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sein soll, hat aber im Gegensatz zu den Vorinstanzen die Erhebung der Vergnügungssteuer in der sich aus § 21 VgnStG ergebenden Höhe nicht als rechtmäßig bestätigt, sondern die dem Beschwerdeführer nachteilige Vorentscheidung samt den ihr zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Der Beschwerdeführer kann daher durch den entscheidenden Teil des Urteils nicht in einem Grundrecht verletzt worden sein.
Der Beschwerdeführer mag faktisch dadurch belastet sein, daß – im Gegensatz zu seiner Rechtsauffassung – das Bundesverwaltungsgericht in den Urteilsgründen ausgesprochen hat, § 21 VgnStG sei mit Art. 105 Abs. 2 Ziff. 1 GG vereinbar.
Auch muß der Beschwerdeführer damit rechnen, daß das Oberverwaltungsgericht zum Nachweis der von dem Beschwerdeführer behaupteten erdrosselnden Wirkung der von der Freien und Hansestadt Hamburg erhobenen Automatensteuer eine langwierige, schwierige und dem Beschwerdeführer möglicherweise lästige Beweisaufnahme anordnen wird (Kontrolle der Einnahmen von Spielautomaten für eine bestimmte Zeit; Einsichtnahme in Steuerunterlagen zwecks Prüfung der Rentabilität), die ohne Mitwirkung des Beschwerdeführers und seiner Berufskollegen nicht durchgeführt werden kann. All dies stellt aber keine Beschwer im Rechtssinne dar, wie sie § 90 Abs. 1 BVerfGG für die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde voraussetzt. Rechtsausführungen in den Gründen einer Entscheidung allein begründen keine Beschwer. Das ist im Verfahrensrecht allgemein anerkannt (vgl. z. B. RGZ 93, 156 [158]; BVerwGE 4, 283 [284]; OLG Breslau in HRR 1936 Nr. 569; Hess. VGH in VerwRspr. 1, 123; Baur in Festschrift für Friedrich Lent, 1957, S. 14; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl. 1956, S. 636; Schönke, Das Rechtsschutzbedürfnis, 1950, S. 53). Dieser Rechtsgrundsatz gilt auch für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde, da sie in erster Linie dem Rechtsschutz des einzelnen gegenüber der Staatsgewalt dient. Deshalb kann eine Verfassungsbeschwerde nicht darauf gestützt werden, daß ein Gericht lediglich in den Gründen seiner Entscheidung eine Rechtsauffassung vertreten habe, die grundrechtswidrig sei.
Dem steht der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Oktober 1956 (BVerfGE 6, 7 [9,10]) nicht entgegen. Dort handelte es sich um die Verfassungsbeschwerde gegen ein Strafurteil; der Beschwerdeführer rügte, daß er nicht wegen erwiesener Unschuld, sondern mangels Beweises freigesprochen worden sei. Der Inhalt der Gründe dieses Urteils berührte also seine Rechtsstellung unmittelbar. Solche Wirkungen äußert das hier angegriffene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht. Seine Rechtsausführungen zu einem bestimmten rechtlichen Argument des Beschwerdeführers können dessen Grundrechte nicht verletzen.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch dann unzulässig, wenn man sie dahin auslegt, daß sie sich gegen den Bescheid des Bezirksamts Hamburg-Mitte richtet, gegen den der Beschwerdeführer den Rechtsweg beschritten hat. Trotz Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist in diesem Falle der Rechtsweg nicht erschöpft; eine Entscheidung nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ist nicht geboten.
Der Rechtsweg ist nicht erschöpft, weil das Bundesverwaltungsgericht die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen hat. Für die Frage, ob der Rechtsweg erschöpft ist, kann es nicht darauf ankommen, ob das Bundesverwaltungsgericht über einen rechtlichen Gesichtspunkt, den der Beschwerdeführer gegen die Verfassungsmäßigkeit der Automatensteuer vorgetragen hat, für den Verwaltungsrechtsstreit abschließend entschieden hat.
Aus dem in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde folgt, daß der Rechtsweg so lange nicht erschöpft ist, als der Beschwerdeführer die Möglichkeit hat, im Verfahren vor den Gerichten des zuständigen Gerichtszweiges die Beseitigung des Hoheitsaktes zu erreichen, dessen Grundrechtswidrigkeit er geltend macht.
Dieser Grundsatz gilt auch dann, wenn ein Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit eines gegen ihn ergangenen Verwaltungsaktes in der Nichtigkeit des maßgebenden Gesetzes sieht und das Gericht nach Art. 100 Abs. 1 GG die Unvereinbarkeit dieses Gesetzes mit dem Grundgesetz nicht selbst aussprechen kann. Im Einzelfall kann dies für das Bundesverfassungsgericht mit ein Grund dafür sein, den Beschwerdeführer nicht auf den Rechtsweg zu verweisen (§ 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG). Hier jedoch ist eine Entscheidung vor Erschöpfung des Rechtsweges nicht geboten.
Durch die Versagung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung vor Erschöpfung des Rechtsweges entsteht dem Beschwerdeführer kein schwerer und unabwendbarer Nachteil. Allgemeine Nachteile, die durch die Verfolgung eines Anspruchs im Prozeß entstehen, rechtfertigen keine vorzeitige Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 1, 69 f.). Der Annahme eines schweren und unabwendbaren Nachteils steht außerdem die geringe Höhe der festgesetzten Steuer entgegen.
Es kann dahinstehen, ob die Verfassungsbeschwerde deshalb von allgemeiner Bedeutung ist, weil mit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen aufgeworfen werden. Selbst in diesem Falle wäre eine vorzeitige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht am Platze. Der Auffassung, daß das Bundesverfassungsgericht beim Vorliegen einer der Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG verpflichtet sei, vor Erschöpfung des Rechtsweges zu entscheiden (so Geiger, Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, § 90 Anm. 8 und Lechner, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 90 Anm. 2 b zu Abs. 2), kann jedoch nicht gefolgt werden. Wenn es in § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG heißt, „Das Bundesverfassungsgericht kann… sofort entscheiden”, dann bedeutet dies nicht, daß es beim Vorliegen einer dieser Voraussetzungen entscheiden muß.
Wortlaut und Sinn gebieten vielmehr, daß das Bundesverfassungsgericht auch andere für oder gegen eine Entscheidung vor Erschöpfung des Rechtsweges sprechende Umstände pflichtgemäß gegeneinander abwägt. Diese Auffassung kam auch bei der Beratung des heutigen § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG im Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht des Bundestages zum Ausdruck (BT I/1949, 53. Sitzung, 7. Juli 1950 nachmittags). Das Bundesverfassungsgericht wird daher, auch wenn eine der Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vorliegt, von einer vorzeitigen Entscheidung absehen, sofern gewichtige Gründe hiergegen sprechen.
Ein solcher Grund liegt dann vor, wenn die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde von einer eingehenden und umfangreichen Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht abhängen kann. Solche Beweiserhebungen sind zumal im Verfahren der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts – ein Gedanke, der auch § 33 Abs. 2 BVerfGG zugrunde liegt. Mit dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist auch bezweckt, daß dem Bundesverfassungsgericht vor seiner Entscheidung ein in der Regel in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und ihm Gelegenheit gegeben werden soll, die Auffassung der Instanzgerichte kennenzulernen.
Diese Erwägungen verbieten hier eine Entscheidung vor Erschöpfung des Rechtsweges. Zwar ist mit der Verfassungsbeschwerde beantragt, zunächst nur zu entscheiden, ob § 21 VgnStG mit Art. 105 Abs. 2 Ziff. 1 GG vereinbar sei.
Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht zunächst nur die Zuständigkeit der Freien und Hansestadt Hamburg zum Erlaß jener Bestimmung des Vergnügungssteuergesetzes prüfen würde, so müßte es im Falle ihrer Bejahung weiter untersuchen, ob möglicherweise das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG durch eine Vergnügungssteuer in der Höhe, wie sie § 21 Abs. 2 VgnStG vorschreibt, verletzt ist. Diese Rüge ist nicht nur von anderen Automatenaufstellern gegen das hamburgische Gesetz über die Vergnügungssteuer erhoben worden. Der Beschwerdeführer selbst hat im Verwaltungsstreitverfahren vorgetragen, daß es sich bei der Steuer nach § 21 dieses Gesetzes um eine Maßnahme zur Erdrosselung seines Berufszweiges handele, und gebeten, das Bundesverfassungsgericht möge sich „zunächst” nur auf die Prüfung der Frage beschränken, ob § 21 VgnStG mit Art. 105 Abs. 2 Ziff. 1 GG vereinbar sei.
Schließlich sind entsprechende Bestimmungen in Vergnügungssteuergesetzen anderer Länder auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 1 GG sowohl in Verfassungsbeschwerden als auch in Vorlagen von Verwaltungsgerichten nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung gestellt worden.
Die Frage, ob möglicherweise Art. 12 Abs. 1 GG verletzt ist, weil die als verfassungswidrig gerügte Vorschrift eine bewußte, gezielte und geeignete „erdrosselnde” Maßnahme darstellt, würde deshalb auch für das vorliegende Verfahren von Bedeutung sein, wenn nicht bereits die Zuständigkeit des Landes zum Erlaß der Vorschrift verneint werden sollte. Für die Prüfung, ob die Ausnahmeregelung des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG anzuwenden ist, müssen aber sämtliche rechtlichen Gesichtspunkte in Betracht gezogen werden, auf die es bei der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ankommen kann.
Die Feststellung, ob § 21 VgnStG mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar ist, setzt umfangreiche Feststellungen über die Auswirkungen der Steuer voraus. Hierbei wird es erforderlich sein, während eines nicht zu knapp bemessenen Zeitraumes eine Vielzahl von Spielautomaten auf ihre Einnahmen zu kontrollieren und die Aufwendungen einer Reihe von Automatenaufstellern kritisch zu prüfen. Solche außerordentlich umfangreichen Ermittlungen hat das Oberverwaltungsgericht jetzt auf Grund der Zurückverweisung der Sache vorzunehmen. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist daher gegenwärtig nicht geboten.
Fundstellen
BVerfGE, 222 |
NJW 1959, 29 |
MDR 1959, 21 |