Einspruchsrücknahme bei Bekanntgabe außerhalb der 3-Tages-Fiktion
Das Niedersächsische FG hatte zu entscheiden, ob § 362 Abs. 1 AO (Einspruch kann bis zur Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch zurückgenommen werden) i. V. m. mit § 122 Abs. 2 AO so auszulegen ist, dass eine Rücknahme des Einspruchs zur Vermeidung einer verbösernden Einspruchsentscheidung auch dann noch bis zum Ablauf des Bekanntgabetages wirksam ist, wenn der tatsächliche Zugang außerhalb der 3-Tages-Frist erfolgt.
Verbösernde Einspruchsentscheidung außerhalb der Drei-Tages-Fiktion
Im Rahmen eines Einspruchsverfahrens erließ das Finanzamt mit einfachem Brief eine verbösender Einspruchsentscheidung. Die Einspruchsentscheidung ging nachweislich erst nach Ablauf von drei Tagen beim Kläger ein. Am Abend des Eingangs nahm der Kläger den Einspruch zurück.
Finanzamt bezieht sich auf Uhrzeit und spätere Rücknahme des Einspruchs
Das Finanzamt vertrat die Auffassung, dass es unstreitig ist, dass die Einspruchsentscheidung nicht innerhalb der 3-Tages-Fiktion als bekanntgegeben gelte. Daher löse der tatsächliche Zugang die Bekanntgabe aus und es sei in diesem Zusammenhang offensichtlich, dass die Einspruchsentscheidung dem Kläger schon vor der Einspruchsrücknahme zugegangen ist.
Eine Verletzung des Gleichheitssatzes sei vorliegend nicht anzunehmen. Denn die insgesamt zu § 122 AO ergangene Rechtsprechung beruhe auf dem Gedanken, dass der 3-Tages-Zeitraum eine Frist i. S. d. § 108 Abs. 3 AO ist. Diese Überlegung könne aber hier nicht gelten, denn die Bekanntgabefiktion greife dann nicht ein, wenn die Postsendung erst nach Ablauf der dort genannten drei Tage zugegangen sei. In diesem Fall komme es nach dem eindeutigen Wortlaut allein auf den tatsächlichen Zugangszeitpunkt an.
FG: Bis zum Ablauf des Tages reicht aus
Dies sieht das Niedersächsische FG anders (Urteil v. 14.6.2021, 9 K 168/20). Die Rücknahme des Einspruchs ist rechtzeitig vor Ablauf des Tages der Bekanntgabe erfolgt und damit wirksam. Die wirksame Einspruchsrücknahme führt zur Aufhebung der Einspruchsentscheidung. Geht eine Einspruchsentscheidung tatsächlich früher als am dritten Tag nach Aufgabe zur Post zu, ist diese frühere tatsächliche Bekanntgabe rechtlich unerheblich, weil die Bekanntgabe im Fall des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht nur vermutet, sondern mit Ablauf des dritten Tages fingiert wird.
Denn mit der Zugangsfiktion will der Gesetzgeber - zugunsten wie zuungunsten des Adressaten - generell einen Streit über den genauen Zeitpunkt des Posteingangs so weit wie möglich ausschließen. Das heißt, der Einspruch kann - bei Eingang der verbösernden Einspruchsentscheidung am ersten oder zweiten Tag nach Aufgabe zur Post - immer noch bis zum Ablauf des dritten Tages zurückgenommen werden.
Wortlaut könnte zwar dafür sprechen, aber...
Das FG räumt zwar ein, dass im ersten Zugriff der Wortlaut des § 122 Abs. 2 AO (außer, wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist) dafür sprechen könnte, dass der Gesetzgeber den Bekanntgabezeitpunkt außerhalb der 3-Tages-Fiktion an dem tatsächlichen Zugang im Sinne einer konkreten Zeit innerhalb eines Tages (stunden-, minuten- und sekundengenau) festmacht und nicht den Ablauf dieses Tages als Bekanntgabezeitpunkt annimmt. Denn nach dem Verständnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist ein Verwaltungsakt zugegangen, wenn er derart in den Machtbereich des Bekanntgabeadressaten (z. B. Wohnung, Briefkasten) gelangt ist, dass diesem die Kenntnisnahme normalerweise möglich war und nach den Gepflogenheiten des Rechtsverkehrs auch erwartet werden konnte.
Aus teleologischen, gesetzessystematischen und letztlich auch verfassungsrechtlichen Erwägungen heraus erachtet das FG jedoch - entgegen auch einer Stimme aus der Literatur (Birkenfeld in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO; Stand: 190. Lfg. Juni 2006, § 362 AO Rz. 65) - eine Auslegung in der Weise für zutreffend, dass von einer Bekanntgabe außerhalb der 3-Tages-Fiktion immer erst mit Ablauf des Tages des tatsächlichen Zugangs auszugehen ist. Hierfür würden mehrere Gründe sprechen.
U. a hält es das FG aber auch aus Gründen der Gleichbehandlung für geboten. Denn würde man die Anknüpfung an die "Bekanntgabe" so verstehen, dass außerhalb der 3-Tages-Fiktion auf den stunden-, minuten- und sekundengenauen Zeitpunkt des Zugangs abzustellen ist, würde dies bedeuten, dass nur diejenigen Steuerbürger, die ohne eigenes Zutun und Verschulden durch ungewöhnliche Umstände eine Einspruchsentscheidung nach mehr als drei Tagen nach der Aufgabe zu Post erhalten, gänzlich von der Möglichkeit ausgeschlossen sind, die verbösernde Wirkung am Tag des Zugangs noch anschließend zu verhindern. Eine solche Unterscheidung und Rechtsbenachteiligung für eine kleine Gruppe von Steuerbürgern in der vergleichbaren Situation hält das FG nicht für gerechtfertigt, zumindest wenn das Finanzamt für alle Einspruchsführer gleichermaßen die einfache Bekanntgabe mittels einfachen Briefes per Post wählt.
Revisionsverfahren beim BFH anhängig
Soweit ersichtlich ist die Frage der formalen Anforderungen an eine Einspruchsrücknahme, die am Tag des tatsächlichen Zugangs einer Einspruchsentscheidung außerhalb der Drei-Tages-Fiktion beim Finanzamt eingeht, noch nicht Gegenstand der Finanzrechtsprechung gewesen. Daher hat das FG die Revision zugelassen, welche auch eingelegt wurde (IX R 16/21).
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