Interview: "Zukunft ist das, was wir daraus machen"

Zukunft ist nichts, was einfach passiert. Zukunft ist das, was wir heute daraus machen. In ihrem neuen Buch „Zurück zur Zukunft“ zeigen Markus Iofcea und Marcel Aberle verschiedene Zugänge zur Zukunft und Methoden der Zukunftsgestaltung auf. Wir sprachen mit den beiden Zukunftsforschern darüber, was „Zukunftskompetenz“ mit der Nachhaltigkeitsdiskussion zu tun hat.

In eurem Buch zitiert ihr Amy Web mit „Nowism is a virus and it‘s spreading“. Täuscht mein Eindruck, dass sich dieses Virus vor allem in Europa und ganz besonders in Deutschland ausbreitet?

Markus Iofcea: Der Virus ist definitiv in Europa angekommen, ja. Wir haben zwar keine expliziten Daten darüber, wie stark die Zukunftsvergessenheit in Deutschland im Vergleich mit zum Beispiel England oder Frankreich oder Italien ist. Aber wir haben bei unseren Recherchen und in unseren Beratungsgesprächen festgestellt, dass dieser Nowism, die Fixierung auf die Gegenwart, hier auf fruchtbaren Boden fällt. Das sagt einiges aus über Europa und Deutschland. Wir sehen da eine gewisse Dysfunktion.

Markus Iofcea

Marcel Aberle: Amy Webb hat ihre Diagnose global gemeint. In Deutschland sind Unternehmen hervorragend, wenn es darum geht, Dinge effizient zu machen. Lean Management optimieren, das ist die Paradedisziplin hier. Aber im Moment befinden sich Unternehmen – und Politik und Gesellschaft – in einer Konfusionsphase. Das heißt: Es geht nicht mehr (nur) um Effizienz, heute geht es um Effektivität. Wie es das berühmte Zitat „Nicht die Dinge richtig tun, sondern die richtigen Dinge tun“ sehr gut beschreibt. Die richtigen Dinge zu tun, ist die große Herausforderung, mit der sich die Menschen in Deutschland besonders schwertun. Wir merken alle, dass die alten Modelle und Herangehensweisen nicht mehr passen, dass wir neu und anders denken müssen. Und das inmitten einer Polykrise, die fast alles, was wir als gesichert angesehen haben, in Frage stellt und in Teilen über den Haufen wirft. Das macht es schwer, sich zurechtzufinden.

Marcel Aberle


Die Orientierung fehlt …

Marcel Aberle: Die Zukunftsbilder fehlen, überall – in der Politik, in der Gesellschaft und auch in vielen Unternehmen. Robert Habeck hat auf der OMR eine Rede gehalten, für die er viel Lob erhalten hat. Und die war auch gut mit ihrer klaren Positionierung gegen Rechtspopulismus und für die Demokratie. Aber auch diese Rede war fast komplett auf das Hier und Jetzt bezogen. Da war keine Vision davon, wie wir in zehn Jahren leben könnten, wie Deutschland und Europa in zehn Jahren aussehen könnten oder sollten. Ich hätte ihm gern gesagt: „Hey, wir kennen das Problem, aber erzähl uns doch mal, wo du hinwillst!“


Diese Fähigkeit, eine Vision von dem zu haben, was in zehn Jahren sein sollte, ist das die Zukunftskompetenz, die in Eurem Buch eine zentrale Rolle spielt?

Markus Iofcea: Zukunftskompetenz meint allgemein die Fähigkeit, den Umgang mit Zukunft zu meistern. Und die Haltung bezüglich Ungewissheit bei dem, was kommt. Dazu kommen die Werkzeuge und Methoden, mit denen Menschen sich ihr Bild vom Morgen erarbeiten. Zukunftskompetenz umfasst die Fähigkeit, Zukünfte zu verstehen. Wir sprechen gerne von Zukunft im Plural, denn es ist ja vieles möglich und nichts gewiss. Die eine Zukunft gibt es nicht. Im Englischen sprechen sie von „futures literacy“.

Marcel Aberle: Zukunft ist ein verschwommener Begriff. Deswegen ist es interessant, dass die Menschen im angel-sächsisch geprägten Raum von Zukünften sprechen. Unser Ziel ist es, ein wenig Licht in dieses Dunkel zu bringen und für einen professionelleren Umgang zu werben. Es geht darum, dass wir einen Zugang finden und das Morgen gestaltbar zu machen, auch um die Angst zu verringern, die bei vielen Menschen und in vielen Unternehmen im Moment herrscht, dieses Gefühl, Objekt irgendwelcher Entwicklungen zu sein, nicht aktives Subjekt. Wir wissen auch nicht konkret, wie die Zukunft aussieht, aber wir versuchen, uns ein Bild von ihr zu machen.


Diskussionen über nachhaltiges Wirtschaften zeugen von mangelnder Zukunftskompetenz

Vieles von dem, worüber wir gesprochen haben, finde ich in den Diskussionen rund um Nachhaltigkeit wieder. Für viele Unternehmen ist das reiner Bürokratismus, sie bauen hohe Widerstände auf, statt zum Beispiel im Nachhaltigkeitsbericht auch die Möglichkeit zu sehen, versteckte Kosten und Risiken zu entdecken und neue Wachstumschancen und Geschäftsmodelle. Oder in der Immobilienwirtschaft: Da haben Unternehmen, wenn überhaupt, nur das Nötigste energetisch saniert. Und auf einmal rollt eine riesige Investitionswelle über sie, weil ihre Bestände unsaniert drastisch an Wert verlieren. Die wenigen, die das Thema vor zehn Jahren schon angegangen sind, als Geldbeschaffung kein Problem war, haben heute Wettbewerbsvorteile …

Marcel Aberle: Das große Problem bei vielen Unternehmen ist der Quartalskapitalismus, in dem sie gefangen sind. Wenn das Ziel darin besteht, die nächsten Quartalsziele zu erreichen und der Denkhorizont nach höchstens zwölf Monaten endet, fehlt das Langzeitdenken. Wenn dann noch, so wie jetzt, die Polykrise Unternehmen von allen Seiten bedrängt, geht es irgendwann nur noch ums Feuerlöschen. Deshalb werben Markus und ich ja vehement dafür, die Zukunft wieder zuzulassen und dem Thema Zukunft Wertschätzung entgegenzubringen und zu imaginieren, wie die Welt in zehn Jahren aussehen könnte – und sollte.

Markus Iofcea: Diese antizipatorischen Fähigkeiten kommen zu kurz. Wir sehen das ja nicht nur bei der Nachhaltigkeit, sondern ebenfalls bei all den technologischen oder auch politischen Entwicklungen. Auf einmal ist irgendetwas da, und sofort kommt die Frage auf, welche Auswirkungen das auf uns hat. Scheinbar aus dem Nichts müssen Unternehmen ihren CO2-Fußabdruck berechnen und dokumentieren und Maßnahmen ergreifen, um ihn zu verkleinern. Und das Ganze im Jahresbericht niederschreiben. Genauso die Künstliche Intelligenz. Zack steht sie im Raum – dabei hat sich das alles ja lange angekündigt, es kommt ja eben nicht über Nacht. Alle schauen auf das vermeintlich Neue und niemand sagt „Cool, da ist was Neues, wie können wir das für uns nutzbar machen?“. Stattdessen fragen sich die meisten „Wie können wir das Alte trotzdem weiterführen?“. Dann sitzen die Unternehmen – und die Gesellschaft, by the way – in der Falle fest, wie beispielsweise die Immobilienbranche. Gerade sie zeigt ja, wie teuer es werden kann, wenn man nicht antizipatorisch denkt. Und je größer der Rückstand ist, desto mehr empfindet man die Wirklichkeit als Last und nicht als Chance. Deswegen gibt es so wenige positive, optimistische Erzählungen, aber so viel Apokalypse und Verzichtspredigten. Und die Menschen fühlen sich gegängelt und wollen weitermachen wie bisher. Weil sie wissen, was sie heute haben, aber eben nicht, was sie in Zukunft gewonnen haben werden.

Marcel Aberle: Es gibt ein wunderbares Buch, „Erzählende Affen“ von Samira El Ouassil und Friedemann Karig. Es zeigt sehr genau, wie wichtig Narrative und Storytelling sind. Du kannst die innovativste Idee haben, das beste Produkt entwickeln –es bringt alles nichts, wenn die Erzählung nicht stimmt. Ohne mitreißende Geschichte, wirst du deine Idee, dein Produkt nicht verkaufen können. Und das sehen wir im Moment.


In Eurem Buch entwickelt Ihr die Methode, eine Idee von der Zukunft her quasi rückwärts zu denken. Menschen haben ein Ziel, eine Vision, und überlegen dann, was sie tun müssen, um zu diesem Ziel zu kommen. Das gefällt mir, weil Menschen dann zielgerichtet in die Zukunft gehen können. Immer noch voller Unwägbarkeiten, aber doch auf ein Ziel hin

Markus Iofcea: Wenn wir so vorgehen, von übermorgen nach heute zurückgehen, um dann nach übermorgen zu marschieren, nutzen wir unseren Möglichkeitssinn. Und sind bereit, auch scheinbar unmögliche Dinge zuzulassen. Wir haben dazu im Buch ein Beispiel: Wer 1924 in New York die Menschen gefragt hätte, ob sie sich vorstellen können, an einem einzigen Tag sowohl in New York als auch in Berlin zu sein, hätten nahezu alle verneint. Absurde Idee. Denn es war damals technologisch unmöglich. Aber es war nicht logisch unmöglich, und drei Jahre später ist Charles Lindbergh über den Atlantik geflogen. Weil er sich das eben doch vorstellen konnte, dass Menschen an ein und demselben Tag an zwei sehr weit entfernten Orten sein können.

Marcus Aberle: Wir alle machen dieses Backcasting, dieses Rückwärtslaufen, jeden Tag dutzende Male. Wir drei haben dieses Interview für heute, 13 Uhr, vereinbart, also sind wir alle etwas früher essen gegangen, um rechtzeitig am Computer zu sein und die Technik zu checken, bevor das Interview beginnt. Wir wissen am Vorabend, was der kommende Tag an Aufgaben bringen wird und planen vorm zu Bett gehen, wie wir agieren wollen. Das Backcasting liegt uns im Blut, aber sobald es zum Thema Innovation und Strategie kommt, laufen wir morgens ins Büro in einen Nebel hinein, sehen nichts und machen lieber, was jetzt sofort möglich ist.


Häufige Fallstricke: Silodenken und technologiegetriebener Aktionismus

Wer ist im Unternehmenskontext denn für das Zukunftsbild verantwortlich? Die Unternehmensleitung? Dedizierte Abteilungen? Alle?

Markus Iofcea: Was man auf jeden Fall vermeiden sollte, ist technologiegetriebener Aktionismus. Man sieht etwas Neues, sagen wir KI oder Blockchain, und dann rennt man mit einer Powerpoint-Präsentation zum Vorstand und sagt „Wir müssen da etwas machen“. Ergebnis ist: Alle finden es toll, niemand versteht wirklich, was das mit dem Unternehmen zu tun haben könnte. Vielleicht gewinnt man das Go des Vorstands, aber keiner weiß, was zu tun ist, alles versandet und das Thema ist verbrannt. Wir plädieren für das, was wir die Synoptische Organisation nennen.

Marcel Aberle: Synopsis bedeutet „das Ganze zusammensehend“. Also: Wir bringen unterschiedliche Perspektiven und Überlegungen zusammen, den Wirklichkeitssinn und den Möglichkeitssinn. Und das läuft in der Strategie zusammen. Beide Bereiche müssen Teil der Strategie sein, die dazu dient, die Vision, zu verwirklichen. Wir erleben oft, dass ein Unternehmen irgendwo eine Innovationsabteilung hat, die Prototypen entwickelt. Und irgendwo anders gibt es einen Thinktank, der grundsätzliche Überlegungen zur Zukunft anstellt. Und einmal im Jahr kriegen beide Abteilungen die Chance, kurz vorm Vorstand zu präsentieren. Mit dem genannten Ergebnis. Es ist viel erfolgversprechender, wenn all diese Ansätze in der Strategie zusammenlaufen, die dann vom Vorstand verabschiedet wird. Und in der Folge in taktische Maßnahmen umgesetzt wird. Damit das funktioniert, braucht es Menschen, die zwischen Strategen und dem Top-Management übersetzen. Wir sind übrigens fest überzeugt, dass Zukunftskompetenz etwas ist, was vor allem Kinder erwerben sollten. Deshalb wollen wir unsere Überlegungen gern als Kinderbuch veröffentlichen. Wir sind aber keine Kinderbuchautoren. Falls das jemand liest und Lust auf solch ein Projekt hat: Gerne melden!


--

Das Buch „Zurück zur Zukunft“ ist 2024 bei Haufe erschienen, 208 Seiten stark und kostet 39,99 Euro.

Schlagworte zum Thema:  Innovation, Innovationsmanagement, Nachhaltigkeit