Reckhaus vom Insektenvernichter zum Insektenretter

Alles begann mit einer harmlosen Kunstaktion: Schon seit 15 Jahren führte Hans-Dietrich Reckhaus sein Unternehmen, als ihn Künstler dazu inspirierten, sein Geschäftsmodell – die Vernichtung von Insekten – radikal zu ändern. Über eine Idee, die alles auf den Kopf stellt.

Dieser Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Buch „Re:thinking Sustainability“, das 2024 bei Haufe erschienen ist. Hier geht es zum Buch.

Hans-Dietrich Reckhaus war seit 15 Jahren Geschäftsführer seines Unternehmens, als ihm 2010 die Idee für eine insektizidfreie Fliegenfalle kam, die er den natürlichen Fliegenpilz „Flippi“ nannte. Dieser zeichnete sich durch ein natürliches Lockmittel aus und nutzte das Sonnenlicht, um Fliegen schneller zu fangen als dies andere Produkte konnten. Die Idee einer neuen Art, Insekten zu fangen, ging in Produktion und wurde 2011 zum Patent angemeldet. Um für die neue Erfindung auch den gebührenden Absatz zu finden, musste jedoch eine besondere Marketingaktion her.

Am Anfang steht die Geschäftsidee 

Der mittelständische Familienbetrieb Reckhaus GmbH & Co. KG hatte kein großes Budget für eine spektakuläre Markenkampagne, dennoch hegte Reckhaus den Wunsch, etwas Besonderes für die Vermarktung seiner Produkte auszuprobieren. Als Kunstliebhaber beschloss er, auf die beiden Konzeptkünstler Frank und Patrik Riklin vom Atelier für Sonderaufgaben in St. Gallen zuzugehen. Er fragte sie, ob sie eine Kunstaktion für sein Produkt inszenieren wollten. Die beiden stimmten zu. Es wurde ein Honorar vereinbart für die Idee einer Kunstaktion, die das Produkt spektakulär bekannt machen sollte. Reckhaus vertraute den beiden Künstlern und ließ sie machen.

Nach zwei Monaten betrat er ihr Atelier und merkte, dass die Stimmung eigenartig war. Sie begrüßten sich mehr oder weniger formell und setzten sich hin. Danach folgte eine unangenehme Stille. Schließlich brachen die Riklins ihr Schweigen und erklärten, dass sie noch einmal über Reckhaus‘ neues Produkt nachgedacht hatten. Bevor die Künstler ihre Ideen vorstellten, konfrontierten sie Reckhaus: „Hans, um ehrlich zu sein, ist dein Produkt einfach nur mies. Es tötet! Und zwar Fliegen!“ Und sie stellten die Frage: „Wieviel Wert hat eine Fliege für einen Insektizidhersteller?“ Und als wäre das nicht genug, fügten sie sichtlich aufgebracht hinzu: „Und wie kommst du überhaupt tagtäglich damit zurecht, dass du in deinem Unternehmen Tötungsprodukte herstellst?“ 

Nun dachte Reckhaus, er höre nicht richtig. Die beiden hatten sich umfangreiche Gedanken gemacht, denn sie führten ihren Vortrag fort und brachten einen Alternativvorschlag hervor, der an drei Bedingungen gekoppelt war:

  1. Retten statt Töten. Als Ersatz für Flippi präsentierten sie eine Lebendfliegenfalle.
  2. Reckhaus müsse aufhören, Tötungsprodukte zu produzieren und stattdessen die Insektenrettung zu seinem Geschäftsmodell machen.
  3. Nur wenn Reckhaus bereit sei, sein Geschäftsmodell zu ändern, wären sie bereit, mit ihm die Kunstaktion „Die größte Fliegenrettungsaktion der Welt“ zu realisieren.

Eine Rettungsaktion für die Insektenvielfalt also. Reckhaus traute seinen Ohren immer noch nicht. Die beiden waren vollkommen überzeugt von dem, was sie sagten, und bestanden mit einer unglaublichen Vehemenz auf der Idee einer Naturschutzaktion zur Rettung der Insekten. Reckhaus war verwirrt, ihm schien es absurd, gegen das zu handeln, wofür er eigentlich mit seinem Unternehmen stand. Also schüttelte er den Kopf und erklärte, er könne ja schlichtweg keine Werbung gegen sein eigenes Produkt und gegen den Zweck seines Unternehmens machen. Schließlich bedankte er sich bei den beiden für ihre Idee, verabschiedete sich und ging nach Hause.

Von der Kunstaktion zum Gütesiegel

Doch der Samen war gesät. Langsam wuchs diese verrückt erscheinende Idee in ihm weiter. Und, wie er heute sagt, war das Zusammentreffen mit Frank und Patrik Riklin schließlich der auslösende Moment: „Sie haben mich in dieser Situation ganz tief im Herzen getroffen.“ Als ihm bewusst wurde, wie sehr er innerlich in Resonanz mit dem Gesagten ging, rief er die beiden Künstler an und gab ihnen und ihrer vorgeschlagenen Kunstaktion unter den von ihnen genannten Bedingungen grünes Licht.

Gut gemeint ist allerdings nicht unbedingt gut gemacht. Die drei hatten zu jenem Zeitpunkt noch keinen Plan, wie sie diese Kunstaktion in der Realität tatsächlich umsetzen sollten. Über neun Monate hinweg entwickelten die Kunstaktion sowie die Integration in das Geschäftsmodell. Anstatt nur an einem Tag Fliegen zu retten, kam Reckhaus auf die Idee: „Nicht 1.000 Fliegen töten und nur zehn retten. Nein, konsequent ist: 1.000 Fliegen töten und 1.000 Fliegen retten!“, die Idee eines Kompensationsmodells für Insektentötungsprodukte war geboren und erhielt den Namen „Insect Respect“. 

Das Gütesiegel „Insect Respect“ steht dafür, Bewusstsein für den Wert von Insekten zu schaffen und insektenfreundliche Lebensräume zu errichten. Durch die Integration in das Geschäftsmodell waren die Künstler bereit, die Kunstaktion umzusetzen. Sie diskutierten also immer wieder darüber, wie sie diese Idee konkret realisieren konnten. Am Ende fanden sie das Dorf Bielefeld-Deppendorf und luden dessen Einwohner ein, gemeinsam über Artenvielfalt und den Schutz von Insekten zu sprechen.

Fliegen retten in Deppendorf

Am 1. September 2012 kamen rund 800 Dorfeinwohner für die Aktion „Fliegen retten in Deppendorf“ in einem Festzelt auf einem Acker in Bielefeld-Deppendorf zusammen. Nach einem Frühstück begann die Aktion mit einem musikalischen Startschuss des Chors Tonart aus der Nachbarstadt Werther. Mit ihrem Song „Nur noch kurz die Fliegen retten“, der musikalisch an den Song „Nur noch kurz die Welt rette“ von Tim Bendzko angelehnt ist, wurden die Dorfeinwohner motiviert, Fliegen einzusammeln, um so auf den Erhalt des globalen Ökosystems aufmerksam zu machen.

Bis zum Abend wurden unter fachlicher Anleitung insgesamt 902 Fliegen gesammelt, unter den Teilnehmenden wurden zwei Preise verlost. Der Kinderpreis umfasste einen Wochenend-Familienurlaub im Europapark Rust. Der Gewinner des Erwachsenenpreises gewann einen dreitägigen Wellness-Aufenthalt für zwei auf Schloss Elmau in den bayerischen Alpen. 

Unterwegs mit Fliege Erika

Gemeinsam mit einer auserwählten Fliege namens Erika ging es am nächsten Tag für das Gewinnerduo mit einem Hubschrauber zum Flughafen Paderborn und von dort mit einem Linienflug nach Bayern zum wohlverdienten Wellness-Urlaub in das 5-Sterne Hotel im Schloss Elmau. Für die Fliege Erika ging es danach zurück nach Deppendorf. Sie lebte in ihrer Transportbox neben dem Fliegenhaus der ursprünglich 902 geretteten Fliegen. Nach wenigen Tagen entschied man sich, Erika in die Schweiz zu dem Biologen des Insect Respect-Teams zu transportieren, sodass sie im Falle ihres Todes schnell präpariert werden kann.

Nachdem die gesammelten Fliegen von dem Aktionstag in dem für sie gebauten Fliegenhaus gestorben waren, wurden sie etwa einen Monat später im Rahmen einer Gedenkaktion in einem Holzsarg mit einem roten Samttuch bedeckt und neben dem Aktionsort einbetoniert. Eine Gedenktafel erinnert noch heute an die Insekten und an den Aktionstag in Bielefeld-Deppendorf.

Die Fliege Erika wurde indes fachmännisch präpariert und zunächst in einem Bank-Tresor gelagert, bevor man sich entschloss, sie als Dauerleihgabe der Universität Sankt Gallen zu stiften. Am 2. März 2015 wurde Erika in einem Sarkophag aus Glas im Boden der Wirtschaftsuniversität eingelassen. Reckhaus, der selbst an der Universität Sankt Gallen studiert hatte, nahm an der Beisetzung teil, ebenso die Künstler Frank und Patrik Riklin.

Gemeinsam stellten sie mit der Aktion eine Verbindung zwischen Kunst und Wirtschaft her. Passanten können auch heute noch durch das Panzerglas auf den Leichnam der Fliege schauen und werden so an den Wert einer Fliege erinnert, ein Symbol für unsere gesamte Artenvielfalt.

Die eigentliche Geschichte hatte damit jedoch erst begonnen. Es sollte noch einige Monate dauern, bis sich Reckhaus nach dieser Aktion darüber bewusst wurde: Nicht nur sein Geschäftsfeld würde sich in Teilen verändern, sondern auch seine Rolle als Unternehmer.

Was danach alles geschah, erfahren Sie im zweiten Teil!

Dieser Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Buch „Re:thinking Sustainability“, das 2024 bei Haufe erschienen ist. Hier geht es zum Buch.



Schlagworte zum Thema:  Transformation, Nachhaltigkeit