Vorstoß zur Abschwächung der CSRD: Politische Spielchen?

Der Populismus erstarkt. Atomenergie, Umweltbundesamt, Bürgergeld. Soweit so gut. Aber jetzt vereinnahmt der Populismus auch Sozialdemokraten und einzelne Grüne, meint Philippe Diaz. Zwei Minister der SPD, Robert Habeck sowie der parteilose Volker Wissing fordern in einem gemeinsamen Schreiben an die EU-Kommission, die Datengrundlage des European Green Deal zurechtzustutzen.

Am Dienstag, den 17.12.24, haben Teile der Bundesregierung einen Brief an die Europäische Kommission verschickt. Darin fordern die unterzeichnenden Minister eine Abschwächung und Verschiebung der CSRD, der ESG.Table deckte auf. Werfen wir in diesem Artikel einen Blick darauf - aber vorher ein Blick aufs große Ganze. 

Bürokratie, das Feindbild schlechthin. Sie stört. Niemand mag sie, weder links noch rechts. Wer füllt schon gerne seine Steuererklärung aus oder einen Antrag auf Arbeitslosengeld. Auf unternehmerischer Ebene gilt dasselbe. Bürokratie verkompliziert. Sie kostet. Sie nervt. Egal, ob interne Prozesse oder vom Staat aufgezwungen.

Aber wie würde eine Gesellschaft ohne Bürokratie aussehen? Sie wäre anarchisch. Ohne Regeln. Ohne Dokumentation. Jeder macht was er will. Zwischen absoluter Anarchie und absoluter Bürokratie gibt es natürlich eine große Grauzone. Wo wir uns gerade auf diesem Kontinuum befinden, ist schwer zu sagen. Aber um von einer Gefühlsebene auf eine Faktenbasis zu gelangen, gibt es Indikatoren wie den Bürokratiekostenindex. Dieser sank in den letzten Jahren. Wie passt das mit dem Narrativ des Bürokratiemonsters zusammen? Unklar.

Wir sollten uns hüten, die Diskussion zu einseitig zu führen. Die Konsequenz sind beispielsweise kaum Kosteneinsparungen, aber dafür quasi Straffreiheit für CumEx-Straftäter, wie man an der größtenteils fehlgeschlagenen Kampagne der „Bürgerbewegung Finanzwende“ zum Bürokratieentlastungsgesetz sehen konnte.

Wahlkampf schafft Handlungsdruck

Zwar hat der Wahlkampf nie richtig aufgehört, aber jetzt umso mehr begonnen. Die Wirtschaft kränkelt. Das Framing ist auch klar: Brüssel ist der Übeltäter. Es ist die Zeit für klare Ansagen. Eine davon: weg mit der lästigen Bürokratie. Die deutsche Bundesregierung musste nicht lange suchen und das erste Opfer war ausgemacht: Die European Sustainability Reporting Standards - kurz ESRS. Ganz egal, ob die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) und die ESRS auch mit erheblicher deutscher Beteiligung ausgearbeitet und verabschiedet wurden. Andere EU-Staaten bezeichnen dieses Verhalten mittlerweile als „ German Vote“.

Es ist unbestritten, dass diese Regierung auf Zeit angezählt ist. Nicht zuletzt wegen ihrer wirtschaftlichen Performance. Aber geht die Wirtschaft den Bach runter, aufgrund der Berichtspflichten oder wegen fehlender Berichtspflichten? Die sich schließenden planetaren Grenzen schränken den Handlungsspielraum der Wirtschaft zunehmend ein. Weltweit. Das Resultat: Krisenherde entfachen. Aber in Zeiten der Polykrise sind einfache Lösungen und Schnellschüsse das beste Rezept, um den Karren noch tiefer zu versenken.

Wie sinnvoll sind die Vorschläge?

Der Brief spricht eine ganze Reihe an Empfehlungen aus. Ich werfe nur einen Blick auf drei Kernforderungen: (1) Substanzielle Reduktion der Datenpunkte, (2) Verzögerung der Berichterstattung um zwei Jahre, (3) Stopp der branchenspezifischen Standards.

1. Substanzielle Reduktion an Datenpunkten

Auch für unter der CSRD eigentlich schon berichtspflichtige Großkonzerne sollen die Datenpunkte erheblich reduziert werden. Denn über 1.000 Datenpunkte? Unerhört! In Zeiten, in denen der überbordenden Bürokratie Einhalt geboten werden muss, ein Unding.  Dabei sind die Großkonzerne die etwa 4.000 Datenpunkte aus der Finanzberichterstattung schon gewohnt. Darüber gibt es jedoch keinen politischen Aufschrei, obwohl es von der IFRS Foundation schon Bemühungen gibt, die Berichtspflichten der Finanzberichterstattung zu kürzen.

Datenpunkte aus der Finanzberichterstattung zu kürzen, wäre aus Perspektive der Bürokratieentlastung deutlich sinnvoller. Ein großes Unternehmen berichtete, dass es für die Prüfung der Finanzdaten etwa 14 Millionen Euro ausgab, für die Assurance der neuen ESG-Daten aber nur rund 1 Million Euro. Eine Quellenangabe bleibe ich hier noch schuldig, aber fragen Sie doch selbst im eigenen Unternehmen nach, wie die finanziellen und personellen Ressourcen priorisiert werden. Es wird mit zweierlei Maß gemessen.

Ein Vorschlag der Bundesregierung ist, statt der ESRS den LSME-Standard zu nutzen, der sich bislang an kapitalmarktorientierte KMU richtet. Würde dies umgesetzt, hätten die Umweltberichtspflichten eine Länge von dreieinhalb Seiten. Mit Anwendungsanforderung auch nur 27. Im Vergleich: Allein der Klimastandard GRI 305 Emissions 2016 hat eine Länge von etwa 16 Seiten mit Substanz. Dazu gibt es Standards zu Biodiversität, Energie, Wasser und viele mehr. Es wird somit klar, wie weit der Vorschlag der Bundesregierung hinter der schon heute gewohnten Praxis zurückbleiben würde.

Die ESRS sind nicht aus der Luft gegriffen. Etwa 80 Prozent der Datenelemente aus Set 1 lassen sich auf bereits existierende Rahmen wie GRI, SFDR, TCFD oder TNFD zurückführen. EFRAG hat hier vor allem konsolidiert, was ohnehin schon in der Welt war. Unternehmen, die diese Informationsanforderungen kennen, sehen in den ESRS eher eine Vereinheitlichung, keine vollkommen neuen Auflagen. Würden die ESRS jetzt aufgeweicht, droht ein Rückfall in endlose Fragebögen und unzählige proprietäre Datenabfragen von Investor:innen und Stakeholdern. Das wäre bürokratischer, nicht weniger.

2. Verschiebung um zwei Jahre

Dem Vernehmen nach haben alle Dax-40-Konzerne schon ihre ESRS-kompatiblen Berichte quasi fertiggestellt. Die Systeme sind etabliert, Prozesse eingespielt, Daten gesammelt – ja, der erste Set-up ist immer am kostspieligsten. Genau jetzt alles umzuwerfen, ist nicht nur unsinnig, sondern unterminiert auch die Glaubwürdigkeit der Politik.

Selbst NFRD-pflichtige Großkonzerne müssen ihre Berichte nun nicht veröffentlichen, weil die Bundesregierung es trotz Forderung des Bundesverbands der Industrie und des Instituts deutscher Wirtschaftsprüfer nicht geschafft hat, das nationale Umsetzungsgesetz (CSRD-RUG) zu verabschieden. Nun weitere Änderungen durchzudrücken, schafft nur noch mehr Verwirrung.

3. Stopp branchenspezifischer Standards

Die Forderung, die Entwicklung branchenspezifischer Standards zu stoppen, ist nicht neu. Sie wird von vielen Akteuren aus der Wirtschaft unterstützt. DHL hat sich dazu erst kürzlich geäußert. So auch das  Deutsche Aktieninstitut, das den ehemaligen Finanzminister Lindner 2021 noch gebeten hatte, die ESRS gänzlich an den Nagel zu hängen.

Dabei wird auch die Rolle der Wesentlichkeitsanalyse bemängelt. Diese hat durch den Druck aus der Industrie, nationalen Standardsetzern und von Prüfungskonzernen eine so dominante Rolle eingenommen, dass selbst ESRS E1 Klima und ESRS S1 Eigene Belegschaft der Wesentlichkeitsanalyse unterliegen. Es wird wohl kaum ein Unternehmen geben, für das diese Themenbereiche nicht wesentlich sind. Die Prüfpflicht hätte man sich daher sparen können.

Jedenfalls würden branchenspezifische Standards die überdimensionierte und über Beratungskosten auch teure Wesentlichkeitsanalyse deutlich vereinfachen und schlechte Praxis minimieren. Es würden zwar Datenpunkte hinzukommen, aber diese wären aus Unternehmenssicht mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit entscheidungsrelevant als jene aus Set 1.

Und nun?

Es stellt sich die Frage, ob diese Initiative überhaupt Aussicht auf Erfolg hat. Die EU hat Kompromisse in einem komplexen Verfahren mühsam ausgehandelt. Dass Brüssel und andere Mitgliedstaaten – die die Umsetzung der EU-Direktive längst abgeschlossen haben – für deutsche Wahlkampfmanöver nun noch einmal alles aufschnüren, gilt als unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass Berlin mit diesem Vorstoß vor allem Signale für die heimische Arena senden möchte.

Allerdings lässt sich auch nichts ausschließen, es braucht nur genügend politische Unterstützung. Die Bundesregierung will anscheinend Entschlossenheit und Handlungsbereitschaft demonstrieren, um sich gegen das so erdrückende Bürokratienarrativ zu wehren.

Wie sollten Unternehmen damit umgehen? Das Rad zurückdrehen? Neu aufgebaute Teams wieder auflösen? Dateninfrastruktur kalt stellen? Alles möglich, aber selbst ohne die Regulatorik gäbe es weiterhin die Interessen interner und externer Stakeholder an verlässlichen Daten. Der Klimawandel verschwindet nicht einfach. Lieferketten müssen resilienter werden. Die Ansprüche von Kundengruppen an Transparenz haben sich geändert.

Appell an die Politik

Die CSRD und die damit zusammenhängenden ESRS waren eigentlich als großer Wurf gedacht: einheitliche Standards, bessere Vergleichbarkeit, weniger Greenwashing. Nicht-finanzielle Berichterstattung auf eine Stufe mit finanzieller Berichterstattung stellen. Das war das Ziel. Aber das scheint alles vergessen.

Die ESRS sind nicht perfekt. Klar. Aber ob EFRAG bewusst unterfinanziert wurde, um das Projekt an die Wand zu fahren, wer weiß. Die ISSB wurde jedenfalls aus Deutschland heraus sehr wohlwollend finanziell und politisch unterstützt. Muss man sich fragen, ob die Anti-ESG-Lobby ihr Ziel (fast) erreicht hat, wenn sie selbst die Spitze der Grünen und Sozialdemokraten auf ihre Seite ziehen kann?

Ministerien wurden zwar befragt, aber technische Eingaben wurden weitgehend ignoriert. Umweltministerin Steffi Lemke hat vielleicht auch deswegen nicht unterschrieben. Dem Vernehmen nach gibt es außerdem Unmut sowohl bei Sozialdemokraten als auch Grünen zu dem Vorgehen, das wohl vor allem von Finanzminister Jörg Kukies vorangetrieben wurde. Katharina Beck, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90 / Die Grünen, hat sich heute im ESG.Table differenziert geäußert. Auch soll Robert Habeck nicht vollends überzeugt gewesen sein. Wenn man Volker Wissing noch wenig politisches Kapital zuschreibt und vermutet, dass Hubertus Heil vor allem die CSDDD schützen wollte, dann bleibt nicht mehr viel übrig. Gesicherte Informationen sind schwer zu bekommen, aber das Gesamtbild ist ein Trauerspiel.

Dass einzelne konservative Politiker, wie Axel Voss, weniger populistisch agieren, ist anerkennenswert. Das ändert aber nichts am grundlegenden Problem. Als Gesellschaft müssen wir uns fragen, ob wir Debatten auf diese Art führen wollen. Ist es sinnvoll, komplexe Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mit vereinfachten Erzählungen und Schuldzuweisungen an „Brüssel“ begegnen zu wollen, statt endlich die überfällige Transformation anzugehen?

Die Antwort liegt auf der Hand.


Schlagworte zum Thema:  Nachhaltigkeitsberichterstattung, CSRD, ESRS