Prof. Dr. Stefan Müller, Dr. Jens Reinke
Rz. 77
Bei der Erfüllung der Angabepflichten in ESRS S4-3 kann sich das Unternehmen nach ESRS S4.AR18 am Inhalt der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen orientieren, die sich auf Abhilfemaßnahmen und Beschwerdemechanismen konzentrieren. ESRS S4.BC75 verdeutlicht die Zweiteilung der Betrachtung: Einerseits sind die Beschwerdewege darzustellen, auf denen Stakeholder ihre Beschwerden einreichen oder ihre Bedenken äußern können, andererseits ist über die Abhilfe als Lösung für den entstandenen Schaden zu berichten. Auch GRI 2-25 verlangt, die Verfahren zur Behebung negativer Auswirkungen zu beschreiben und darzulegen, wie die Wirksamkeit dieser Verfahren verfolgt wird. Sowohl das UN-Leitprinzip 29 als auch die OECD-Leitsätze (2023) IV-6 betonen, dass Beschwerdemechanismen auf betrieblicher Ebene eine wichtige Ergänzung zu einer umfassenderen Einbindung der Stakeholder sein können. Beschwerdemechanismen können aber weder die Einbindung der Stakeholder ersetzen, noch sollten sie den Zugang zu gerichtlichen oder außergerichtlichen Beschwerdemechanismen ausschließen (ESRS S4.BC75).
Rz. 78
Gerade deshalb verlangt GRI 2-25-b ausdrücklich die Offenlegung der Beschwerdemechanismen, die die Organisation eingerichtet hat oder an denen sie beteiligt ist, sowie GRI 2-25-d eine Beschreibung, wie die Stakeholder, die als Nutzer der Beschwerdemechanismen vorgesehen sind, in die Gestaltung, Überprüfung, Anwendung und Verbesserung dieser Mechanismen einbezogen werden (ESRS S4.BC76).
Rz. 79
UN-Leitprinzip 29 besagt, dass Unternehmen wirksame Beschwerdemechanismen auf betrieblicher Ebene einrichten oder sich an solchen Mechanismen beteiligen sollten, damit Missstände frühzeitig angegangen und direkt behoben werden können, und zwar sowohl für Einzelpersonen als auch für Gemeinschaften, die möglicherweise nachteilig betroffen sind. Im Kommentar zum UN-Leitprinzip 29 wird erläutert, dass Beschwerdemechanismen
- auf betrieblicher Ebene für Einzelpersonen und Gemeinschaften, die von einem Unternehmen beeinträchtigt werden können, direkt zugänglich sind,
- i. d. R. vom Unternehmen allein oder in Zusammenarbeit mit anderen, einschl. der relevanten Stakeholder, verwaltet werden,
- auch durch die Inanspruchnahme eines für beide Seiten akzeptablen externen Sachverständigen oder Gremiums zur Verfügung gestellt werden können,
- nicht erfordern, dass die Beschwerdeführer zunächst andere Rechtsmittel in Anspruch nehmen,
- das Unternehmen direkt in die Bewertung der Probleme und die Suche nach Abhilfemaßnahmen für etwaige Schäden einbinden.
Solche Beschwerdemechanismen setzen nicht voraus, dass eine Beschwerde oder ein Missstand erst vorgebracht werden darf, wenn es auf eine mutmaßliche Menschenrechtsverletzung hinausläuft, sondern zielen speziell darauf ab, alle berechtigten Bedenken derjenigen zu ermitteln, die möglicherweise nachteilig betroffen sind (ESRS S4.BC72).
Rz. 80
UN-Leitprinzip 22 und die OECD-Leitsätze (2023) IV-6 empfehlen außerdem, dass Unternehmen, die im Rahmen ihrer menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht oder auf andere Weise feststellen, dass sie eine nachteilige Auswirkung verursacht oder zu ihr beigetragen haben, über Verfahren verfügen sollten, die Abhilfe schaffen. Im Kommentar wird darauf hingewiesen, dass in manchen Situationen eine Zusammenarbeit mit gerichtlichen oder staatlichen außergerichtlichen Mechanismen erforderlich ist. Das Konzept der Abhilfe ist in den internationalen Standards von zentraler Bedeutung und eng mit der Sorgfaltspflicht verknüpft. Abhilfe ist nicht nur ein Menschenrecht an sich, sondern auch ein Grundpfeiler der internationalen Standards für die Verantwortung von Unternehmen für die Menschenrechte. Ferner sind Abhilfemaßnahmen auch über die Kanäle der Unternehmen hinaus von Bedeutung (ESRS S4.BC74).
Rz. 81
Zur Beschreibung der Ausgestaltung der Systeme empfiehlt ESRS S4.AR22 die Angabe, ob Beschwerden zu Missständen vertraulich und unter Wahrung des Rechts auf Privatsphäre und Datenschutz behandelt werden und ob es Verbrauchern und/oder Endnutzern gestattet ist, die (Beschwerde-)Mechanismen anonym zu nutzen (z. B. durch Vertretung durch einen Dritten).
Rz. 82
Mit dem Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) gibt es seit Juli 2023 verpflichtende Regelungen zur Einrichtung eines Beschwerdemechanismusses – allerdings nur für Informationen über Verstöße, die sich auf den Beschäftigungsgeber oder eine andere Stelle, mit der die hinweisgebende Person beruflich im Kontakt steht bzw. stand, beziehen (§ 1 Abs. 1 HinSchG). Daher dürften die meisten Verbraucher und Endnutzer nicht direkt unter diese Regelung fallen, da sie in keinem beruflichen Kontakt mit dem Unternehmen standen. Daher können sich Unternehmen überlegen, ob sie ein bestehendes Hinweisgebersystem auch für Kunden und Endnutzer öffnen wollen, ein gesondertes System aufbauen oder auch gar nicht tätig werden. Das "Whistleblowerschutzgesetz" regelt u. a. den Umgang mit Meldungen zu Betrügere...