Prof. Dr. Alexander Bassen, Dr. Kati Beiersdorf
Rz. 62
Die CSRD sieht für den freiwillig anwendbaren ESRS VSME, anders als für den in Rz 6 ff. dargestellten ESRS LSME, keine Vorgaben für die inhaltliche Ausgestaltung, den Anwenderkreis oder den Anwendungszeitpunkt vor. Auch die sog. Value Chain Cap-Funktion liegt lediglich beim ESRS LSME, nicht aber beim ESRS VSME (ED ESRS VSME.BC31ff.). Das bedeutet, dass die im ESRS VSME definierten Informationsanforderungen – anders als die Vorgaben des ESRS LSME – nicht die Obergrenze für die wertschöpfungskettenbezogenen Inhalte der ESRS Set 1 darstellen. Die Anforderungen an die Unternehmen, die i. R. v. ESRS Set 1 u. a. über ihre Wertschöpfungskette berichten, können daher über die im ESRS VSME definierten Berichtsinhalte hinausgehen. Da dem künftige ESRS VSME nicht die Value Chain Cap-Funktion bzgl. der Angaben zur Wertschöpfungskette zukommt, ist es denkbar, dass bspw. größere Unternehmen über die Inhalte des ESRS VSME hinausgehende Informationen abfragen, um eigenen Informationsbedarfen (z. B. bzgl. Scope-3-Treibhausgasemissionen) gerecht zu werden. Generell sind zusätzliche Informationsabfragen jedoch auch bei Anwendung des künftigen ESRS LSME denkbar, etwa weil Geschäftspartner aufgrund interner Vorgaben vertraglich zusätzliche Nachhaltigkeitsinformationen vereinbaren oder zusätzlich zum Nachhaltigkeitsbericht auf Einzelunternehmensebene an Konzernnachhaltigkeitsinformationen interessiert sind (siehe zur Value Chain Cap-Funktion des ESRS LSME Rz 9).
Rz. 63
Mit der Frage, ob aus den Informationsanforderungen zur Wertschöpfungskette für große Unternehmen (ESRS Set 1) zusätzliche Anforderungen für KMU resultieren könnten, hat sich auch EFRAG im Detail befasst. In einer Analyse sämtlicher in ESRS Set 1 definierten Informationsanforderungen zur Wertschöpfungskette kommt EFRAG zu dem Ergebnis, dass durch die Anforderungen in ESRS Set 1 keine zusätzlichen Anforderungen für KMU, d. h. für Anwender weder eines ESRS VSME noch eines ESRS LSME, resultierten. EFRAG führt an, dass große Unternehmen z. B. für die Angabe von Scope-3-Treibhausgasemissionen typischerweise auf Sekundärdaten (z. B. geschätzte, überschlägige Brancheninformationen) abstellten und Scope-3-Informationen nicht direkt von Unternehmen in ihrer Wertschöpfungskette abfragen. Zudem würden zusätzliche Informationsanforderungen ggf. aufgrund von individuellen Vereinbarungen zwischen den Geschäftspartnern erforderlich sein. Letztlich ist es wichtig anzuerkennen, dass sich (sämtliche) Berichtspflichten für große Unternehmen auf Unternehmen in deren Wertschöpfungsketten auswirken. Dies gilt auch dann, wenn diese Unternehmen selbst nicht berichtspflichtig sind. Dieser sog. Trickle-Down-Effekt stellt die von der Berichtspflicht eigentlich ausgenommenen KMU vor große Herausforderungen. Die Ausgestaltung der ESRS Set 1 sollte auch dies im Blick behalten.
Rz. 64
Anders als für die ESRS Set 1 oder den ESRS LSME ist für den lediglich freiwillig anwendbaren ESRS VSME kein delegierter Rechtsakt durch die EU-Kommission vorgesehen. Denkbar ist, dass sich die EU-Kommission aufgrund der Bedeutung des Standards dennoch mit der von EFRAG vorgeschlagenen Ausgestaltung des ESRS VSME befasst, bspw. i. R. d. Beobachterrolle bei den Sitzungen der EFRAG-Gremien. Da die EU-Kommission mehrfach die Bedeutung dieses freiwillig anwendbaren Standards für (die Entlastung von) KMU und deren Stakeholder betont und zudem dessen zeitnahe Erarbeitung angeregt hat, ist trotzdem davon auszugehen, dass die Rückmeldungen zum ED ESRS VSME sowie die Finalisierung des Standards von der EU-Kommission eng begleitet werden. Inwieweit die mögliche Befassung der EU-Kommission Auswirkungen auf den möglichen Erstanwendungszeitpunkt haben könnte, ist offen.
Rz. 65
Da der ESRS VSME kein von den EU-Vorgaben gedeckter Berichtsstandard sein wird, sondern "lediglich" ein von EFRAG veröffentlichtes Dokument darstellt, wird der künftige ESRS VSME nicht (automatisch) in die Amtssprachen der EU übersetzt. Da eine Übersetzung des ESRS VSME jedoch ein wichtiger Schritt für die Marktakzeptanz sein wird, sollten der europäische oder die nationalen Gesetzgeber Möglichkeiten eruieren, die zeitnahe und qualitativ hochwertige Übersetzung sicherzustellen. Nur dann besteht auch die Möglichkeit, dass die KMU von der für den ESRS VSME angestrebten im Vergleich zu den ESRS Set 1 vereinfachten Sprache profitieren.