Serienelemente
Bedürfnisübersetzung als Innovationsstrategie

Bei der Entwicklung von Innovationen blicken Unternehmen häufig auf technische Möglichkeiten und die Bedürfnisse ihrer Stammkundschaft. Wird der „Suchbereich“ jedoch um den Aspekt der sozialen Verantwortung von Unternehmen (CSR) erweitert, können ganz neue und nachhaltigere Produkte entstehen. Diese erschließen nicht zuletzt neue Kundengruppen.

Unternehmen stehen in einem dauernden Konflikt zwischen Routine und Innovation. Einerseits sind sie bestrebt, ihren derzeitigen Erfolg zu sichern und möglichst durch Senkung von Kosten die Gewinne zu erhöhen, andererseits stehen sie unter permanentem Innovationsdruck. In meinem Buch „ Nachhaltige Innovationsstrategien – wie Unternehmen Bedürfnisse übersetzen können“ habe ich ein Konzept vorgestellt, das Innovationen als Übersetzungsleistung zwischen Bedürfnis und Technik beschreibt. Je nach Radikalität der Innovation gestaltet sich diese Übersetzung mehr oder weniger komplex. Für radikale Innovationen, die ganze Märkte und Gesellschaften umwälzen, bietet sich die Einbindung sozialer Verantwortung von Unternehmen (CSR) an, die eine sinnvolle Ergänzung zum klassischen Vorgehen bei der Entwicklung von Produkten und Innovationen ist. In dieser Serie geht es um die Realisierung dieser nachhaltigen Innovationsstrategien.

Probleme der Bedürfnisübersetzung

Innovationen sind immer ein Zusammenwirken von Bedürfnis einerseits und Technologie (Produkt, Dienstleistung, Prozess) andererseits. Sie können sich nur durchsetzen, wenn sie über bloße Erfindungen (Inventionen) hinausgehen, das heißt vermarktet werden. Allerdings unterscheiden sie sich deutlich in Bezug auf das Ausmaß und den Zeitraum, in dem sie ihre Wirkung entfalten. Nicht jede Innovation ist bahnbrechend bzw. markt- oder gar gesellschaftsverändernd. Es gibt ein großes Spektrum des Innovationsausmaßes, von kleinen, inkrementellen Verbesserungen, die durchaus wichtig sind, da sie den momentanen Erfolg von Unternehmen sichern, bis hin zu radikalen Innovationen, die sich oft erst langfristig bezahlt machen und somit auch Risiken mit sich bringen.

Die Radikalität der Innovation und ihr ökonomischer Erfolg stehen in direktem Zusammenhang mit der Frage, welche Bedürfnisse auf der Nachfrageseite durch sie angesprochen und befriedigt werden. Dies ist nicht immer im Vorfeld zu erkennen, da jede Innovation sich im Zuge ihrer Ausbreitung auch ihre Bedürfnisse schafft, oder besser, Bedürfnisse ans Licht bringt, die vorher nicht erkennbar waren. Insofern lässt sich eine Innovation als Übersetzung von Bedürfnis- in Technologiesprache bezeichnen, die unterschiedlich aufwändig sein kann und bei der immer Unschärfen entstehen. So werden die im Markt, oder auch in marktfernen Gesellschaftsbereichen vorhandenen Bedürfnisse teilweise sehr undeutlich artikuliert, das heißt nicht in der momentan zur Verfügung stehenden Produktsprache. Je geringer die Techniknähe des Bedürfnisvokabulars, desto größer die Übersetzungsdistanz und damit die Komplexität des Innovationsprozesses. Denn mit bloßen Wünschen, die keinen direkten Bezug zu eigenen oder fremden Produkten haben, können Unternehmen zunächst einmal wenig anfangen. Zudem werden sie oftmals gar nicht geäußert, sondern zeigen sich nur als latente Unzufriedenheit mit dem Vorhandenen, wodurch sie schwer auszumachen sind.

Innovation: Suchtiefe und Suchbereich

Der beste Weg, Bedürfnisse in ihrer Differenziertheit zu erfassen und in technische Problemlösungen zu übersetzen, ist die gezielte Ausdehnung von Suchtiefe und -bereich. Die Ausdehnung der Suchtiefe gelingt, indem man sich nicht auf einfache Befragungen beschränkt, die in der Art „Wie zufrieden waren Sie mit Produkt A?“ oder „Was können wir Ihrer Meinung nach bei Produkt B besser machen?“ ablaufen, sondern sie um raffiniertere Methoden ergänzt. Hierzu zählen zum Beispiel Conjointanalysen, Means-End-Ketten und vieles andere mehr. Durch sie wird die Erfassung latenter Bedürfnisse möglich, sowie solcher, die fernab aktueller Technologie, also „untechnisch“ geäußert werden. Diese Bedürfnisse liefern, wenn man sie richtig übersetzt, entscheidende Impulse für radikale Innovationen, mit denen sich das Unternehmen für die Zukunft wappnet.

Was den Suchbereich betrifft, so lässt sich eine differenzierte Erfassung dadurch ermöglichen, dass man sich in der Anwendung der Methoden nicht allein auf Personen des Kernmarktes beschränkt, sondern die Suche auf verwandte Märkte oder gar die marktferne Gesellschaft ausdehnt. Hier finden sich häufig Menschen, die gut vernetzt sind und sich abseits des Mainstreamkonsums bewegen. Sie werden auf Probleme aufmerksam, die man im Kernmarkt noch nicht erkannt hat, und können diese auch in einer technisch konkreteren Bedürfnissprache artikulieren.

Abbildung 1 zeigt Suchtiefe und -bereich in den verschiedenen Ausprägungen als x- und y-Achse eines gedachten Suchraumes. Je nachdem, wie weit der gewählte Suchpunkt vom Ursprung entfernt liegt, wird man auf Bedürfnisse stoßen, die sich für die Entwicklung von inkrementellen Verbesserungen eignen (heller Bereich links unten), oder für die radikaler Innovationen (dunkler Bereich rechts oben). Die Bestimmung von geeigneter Suchtiefe und geeignetem Suchbereich ermöglicht Unternehmen eine gezielte Bedürfniserfassung, die für verschiedene Innovationsgrade Impulse liefert.

Die beiden Suchrichtungen lassen sich in gewissen Grenzen gegeneinander substituieren; man kann also zu latenten Bedürfnissen gelangen, indem man Tiefe oder Bereich ausdehnt. Allerdings liegt es nahe, diese Möglichkeit der Substitution nicht zu übertreiben; die Ergebnisse werden durch eine abgestimmte, simultane Ausdehnung von Suchtiefe und ‑bereich effizienter sein, das heißt durch eine koordinierte Suche mit ungefähr proportionaler Ausprägung beider Steuergrößen. So wird eine Bedürfniserfassung im Suchpunkt S1, bei der Personen weit außerhalb des Kernmarktes mit einfachen Methoden direkt nach ihren Bedürfnissen befragt wurden, vermutlich gänzlich andere Bedürfnisinformationen hervorbringen als eine Erfassung im Suchpunkt S2, wo man raffiniertere Methoden bei Personen des Kernmarktes anwendet.

Ruhnke Abbildung 1: Suchtiefe und -bereich

Diese Überlegungen einer Bedürfnissuche, bei der Tiefe und Bereich strategisch aufeinander abgestimmt stattfinden, führen zum Effizienten Korridor, der in Abbildung 2 durch zwei schräg verlaufende Linien begrenzt wird. Er umfasst all diejenigen Suchpunkte, bei der Tiefe und Bereich in einem gesunden, aufeinander abgestimmten Maß erfolgen.

Effiziente Bedürfniserfassung mit Marketing und sozialer Verantwortung

Um in der unternehmerischen Praxis realisierbar zu werden, sollte die oben operativ betrachtete Methoden- und Bereichswahl möglichst unter ein strategisches Dach gebracht werden. Hierbei steht dem Unternehmen in erster Linie das strategische Marketing zur Verfügung. Allerdings können Marketingmethoden allein die für radikale Innovationen nötige Ausdehnung der Bedürfniserfassung in Suchtiefe und ‑bereich nicht gewährleisten. Denn um aus Marketingsicht relevant zu sein, müssen die Innovationsimpulse immer noch einen sichtbaren Bezug zu ökonomischen Größen haben. Daher bietet sich für die weiter ausgedehnte Bedürfnissuche und Übersetzung die Einbindung sozialer Verantwortung von Unternehmen (CSR) an. Sie kann genau in diejenigen Suchtiefen und -bereiche vordringen, die das Marketing nicht erreicht, und aus denen sich zukunftsrelevante Bedürfnisinformationen gewinnen und in Technologie übersetzen lassen. (Dennoch stellt dies Unternehmen vor eine große Herausforderung, da sich Investitionen in Projekte, deren Verwertbarkeit zukünftig und ungewiss ist, nur schwer durchsetzen lassen. Dies wird im Buch ausführlich diskutiert.)

Ruhnke Abbildung 2: Marketing- und CSR-Suchpunkte

Marketing und soziale Verantwortung von Unternehmen lassen sich grafisch als Bereiche einer strategischen Bedürfniserfassung darstellen, die jeweils alle Suchpunkte enthalten, die mit ihnen realisierbar sind. Diejenigen Suchstrategien, die sowohl mit Marketing als auch mit sozialer Verantwortung umsetzbar sind, liegen im Überschneidungsbereich der beiden. In Abbildung 2 sind die zwei effizienten Suchpunkte dargestellt, von denen sich der erste (M) mit Marketing, der zweite dagegen (C) mit sozialer Verantwortung (CSR) realisieren lässt. M und C stehen also für eine Erfassung und Übersetzung von Bedürfnissen unterschiedlicher Techniknähe.

Damit können wir die hier gemachten Überlegungen auf mehreren Managementebenen betrachten: Zum einen auf der operativen Ebene, wo die Bedürfniserfassung geplant und gesteuert wird – hierzu werden wir im Folgenden konkrete Beispiele anschauen. Zum anderen auf der strategischen Ebene, bei der es darum geht, Marketing und CSR als ganzheitliche Ansätze im Unternehmen zu verankern, um so die Realisierung nachhaltiger Innovationsstrategien abzusichern. (Wir werfen etwas später einen Blick auf die Möglichkeit, dies mit einer CSR-Scorecard und Strategy-Map zu unterstützen, wie sie im Buch gezeigt werden.)

Schlagworte zum Thema:  Innovation, Innovationsmanagement, CSR, Nachhaltigkeit