Ein Jahr nach Fukushima - Nicht nur Deutschland ist nachdenklich geworden
dpa: Herr Sailer, wie bewerten Sie die Lage in Fukushima ein Jahr nach der folgenschweren Atomkatastrophe?
Sailer: "Es gibt immer noch die vier havarierten Kernkraftwerke, die noch nicht voll unter Kontrolle sind, wenn auch besser als vor einem Jahr. Die Kühlung ist immer noch nicht dauerhaft stabil. Was mit den vielen Millionen Litern an kontaminiertem Wasser passieren soll, ist weiterhin ein Problem. Die weiteren Herausforderungen entstehen, sobald man anfängt, den Brennstoff aus den Lagerbecken und den Reaktoren herauszunehmen, da einiges schiefgehen und zu weiterer Freisetzung von Radioaktivität führen kann."
dpa: Können die Menschen bald zurückkehren?
Sailer: "Um das havarierte Kernkraftwerk herum gibt es weiter große Zonen, in denen die Radioaktivität viel zu hoch ist, als dass man dort wieder normales Leben führen könnte. Es gibt vor allem den Effekt, dass sich die Radioaktivität durch Wind, Wasser, Grundwasser und Erosion weiter in der Umwelt bewegt. Das heißt beispielsweise, wenn ich heute einen Kindergarten und seinen Spielplatz dekontaminiere, wird später, sei es in einem halben Jahr oder Jahr, wieder Radioaktivität von den Bergen in der Region Fukushima herübergetragen werden. Ich kann halt nicht die Berge dekontaminieren."
dpa: Was bedeutet das langfristig für die Unglücksregion?
Sailer: "Das wirft Fragen auf, wie es in der Region mit der Lebensmittelproduktion weitergehen kann und wer dort überhaupt noch investieren will. Viele Menschen sind bereits gegangen. Ich halte es für möglich, dass die Region auf Dauer nicht zu halten sein wird. Die Wetterbedingungen nach dem 11. März 2011 waren ein großes Glück im Unglück. Hätten wir ähnliche Strahlenbelastungen im Großraum Tokio gehabt, wäre möglicherweise auf Dauer auch der Großraum Tokio nicht zu halten gewesen."
dpa: Die deutsche Reaktion auf Fukushima mit der Atom-Kehrtwende war die schärfste weltweit. Belächelt uns das Ausland weiterhin?
Sailer: "In der engeren Fachwelt gibt es weiter oft Kopfschütteln und ein Belächeln. Das sind aber auch Leute, die von der Sicherheit der Kernkraftwerke überzeugt sind, egal wie viele kaputtgehen. Aber die Schweiz hat ein klares Ausstiegsgesetz gemacht, nachdem sie bis vor einem Jahr noch den Neubau von zwei Kernkraftwerken auf dem Programm hatte. Belgien hat den Ausstieg wieder festgelegt. Italien hat den Wiedereinstieg, den Berlusconi verkündet hatte, sofort wieder aufgegeben. In Frankreich ist die Frage, ob man gleich viele Kernkraftwerke weiter betreibt oder ob man die Anzahl reduziert, ein wesentliches Wahlkampfthema zwischen Sarkozy und Hollande. Das wäre vor einem Jahr noch undenkbar gewesen. Deutschland ist nicht das einzige Land, das nachdenklich geworden ist."
Michael Sailer ist Mitglied der Reaktorsicherheitskommission des Bundes und Chef der Entsorgungskommission, die Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) bei der Entsorgung von Atommüll berät.
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