Können wir unserem Bauchgefühl bei Entscheidungen vertrauen?
Heuristiken oder Wie das Gehirn Bauchentscheidungen fundiert
Für die Beantwortung dieser Frage, ist es notwendig zu verstehen, woher unser Bauchgefühl eigentlich kommt. Die Annahme, es sei eine vom Himmel fallende Inspiration, ist vielen Menschen zu esoterisch und erscheint zu Recht unglaubwürdig und irrational. Denn jedes Bauchgefühl entsteht in einem rationalen Prozess. Bauchgefühle sind nicht irrational. Im Gegenteil, unser Bauchgefühl ist regelgeleitet und kognitiv fundiert. Bauchentscheidungen sind also auch Kopfentscheidungen, nur ohne, dass wir es bemerken.
Genauer: Unser Bauchgefühl entsteht durch Heuristiken.
Heuristiken (oder auch Daumenregeln) sind verkürzte kognitive Operationen, mit deren Hilfe Entscheidungen getroffen werden, ohne komplizierte und vergleichsweise langwierige Denkprozesse zu durchlaufen. Der Vorteil von Heuristiken liegt darin, dass sie ressourcensparend zu Schlussfolgerungen führen, die in den meisten Lebenssituationen eine hinreichende Güte besitzen. Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass gerade in komplexen Situationen voreilige und systematisch verzerrte Schlüsse gezogen werden.
Klingt kompliziert, ist aber ganz einfach. Beispiel gefällig? In der folgenden alltäglichen Situation sind zahlreiche Heuristiken versteckt:
"Kommst du mit zum Mittagessen?", werden Sie von ein paar Kollegen gefragt, die an Ihrem Schreibtisch vorbeigehen. „Sicher“, sagen Sie. Sie gehen mit ihnen zu den Aufzügen. Die Aufzüge sind voll, und Sie denken darüber nach, zur Treppe zu gehen - aber Sie stehen bereits dort, also warten Sie einfach.
Unten in der Cafeteria nehmen Sie Ihr Tablett und schließen sich der Schlange an. Es riecht gut. An der Theke holen Sie sich wie immer montags eine Portion Schnitzel mit Pommes. Sie kommen direkt an der Salatbar vorbei und nehmen sich einen vorbereiteten kleinen Salat. Eigentlich wollen Sie weniger Süßes essen, aber das Tiramisu sieht einfach zu gut aus. Sie nehmen sich eins.
An der Kasse müssen Sie warten. Da werfen Sie einen Blick auf Ihr Tablett. Sie haben noch gar nichts zu trinken. Eigentlich möchten Sie gerne Wasser, aber dafür müssten Sie die Warteschlange nochmals verlassen. Direkt neben der Kasse gibt es Limo. Zur Auswahl stehen zwei neue Sorten. Sie entscheiden sich für die aus der Werbung.
„Los geht's“, sagt Ihr Kollege, während er Ihnen netterweise Besteck und ein Glas auf Ihr Tablett stellt und sich hinter Sie in die Warteschlange einreiht. "Verdammt, ich habe meine Karte oben gelassen." "Hier, nimm meine", sagen Sie.
Schließlich setzten Sie sich an einen Tisch. Nach der Hälfte der Portion sind Sie eigentlich satt. Sie essen aber trotzdem auf.
Auf dem Weg zurück ins Büro sehen Sie Ihre Kollegin Eva. Sie sagen “Hallo“, aber sie reagiert nicht. “War ja klar“, denken Sie. „Die grüßt ja nie“.
Wie viele Heuristiken oder Entscheidungsabkürzungen haben Sie bemerkt? Hier eine kleine Auswahl:
Wiederholung: Mach es wie letztes Mal!
Sie denken nicht darüber nach, sondern tun, was Sie immer tun: Montags essen Sie Schnitzel mit Pommes! Macht das Leben natürlich einfacher, aber gerade diese Heuristik ist ein Feind für jede Veränderung, die wir anstreben. Wenn wir Dinge tun, weil wir sie schon immer so getan haben, ist es sehr schwierig einen Hebel für Erneuerung zu finden.
Wiedererkennung: Nimm das, was du kennst!
Dinge oder auch Menschen, die wir schon einmal gesehen haben, erscheinen uns attraktiver oder sympathischer. Im Marketing sind diese Präferenzen schon lange bekannt. Wir greifen eher zu Produkten, die wir kennen. Also zum Beispiel die Limo, die wir aus einer unzählig wiederholten Werbung kennen. Aber Studien zeigen auch: Wir stellen eher Menschen ein, die uns bekannt vorkommen (vielleicht nur, weil sie unserer Schwester oder auch uns selbst ähneln). Die Automatismen „Wiederholung“ und „Wiedererkennung“ sind überlebenstechnisch sehr sinnvolle Heuristiken. Aus Steinzeitmenschen-Perspektive war es schlicht und einfach lebensverlängernd die braunen Pilze zu sammeln (und zu essen), die man bereits gestern gesammelt und gegessen hatte und nicht die rot-weißen, die man noch nie zuvor gesehen und somit auch noch nie probiert hatte.
Nachahmung: Mach es wie die Anderen!
Menschen sind Herdentiere. Wir schauen genau darauf, was andere tun und ahmen gerne nach. Das ist in vielen Situationen auch sehr sinnvoll: Stellen Sie sich vor, Ihre Mitbewohner aus der Steinzeit-Höhlen-WG rennen auf einmal alle panisch weg – in diesem Fall ist es sicher vernünftig hinterherzulaufen, ohne langwierig und bewusst die Vor- und Nachteile abzuwägen. Man kann hier einen evolutionären Vorteil derjenigen Menschen sehen, die diese Heuristik anwendeten.
In anderen Situationen ist diese „Gruppenzwang“-Heuristik aber weniger sinnvoll. Unsere selbstgesteckten Ziele (Treppen statt Aufzug oder Salat zum Mittagessen) werfen wir leider oft viel zu schnell über Bord, nur weil wir andere in ihrem Verhalten nachahmen.
Auch Reziprozität ist hier ein Thema: In der Cafeteria legt Ihr Kollege Ihnen netterweise Besteck auf Ihr Tablett und Sie revanchieren sich damit, dass er Ihre Karte benutzen kann. Das ist in dieser konkreten Situation sehr kollegial und mit überschaubaren Risiken behaftet. Jedoch schadet es nicht zu wissen, dass Verkäufer unseren Automatismus „Wie-du-mir-so-ich-dir“ ziemlich gut kennen und zu nutzen wissen. Oder denken Sie, dass Gratisbeilagen, kleine Aufmerksamkeiten oder ein Gruß aus der Küche einfach nur Zufall sind?
Verlustvermeidung: Vermeide Verluste!
Wir Menschen sind sparsame (und seltsame) Wesen: Wir essen unser Schnitzel auf, obwohl uns danach der Bauch zwickt. Wir schauen den langweiligen Kinofilm zu Ende, weil wir ja schließlich Eintritt gezahlt haben. Wir investieren weiter, obwohl die Anlage nur Verluste macht. Dieses Phänomen nennt man in der Verhaltensökonomie die Berücksichtigung von „versunkenen Kosten“. Das sind Kosten, die bereits entstanden sind und durch nichts wieder rückgängig gemacht werden können – auch nicht durch Folgekosten wie Bauchschmerzen oder weitere neunzig langweilige Minuten. Bei einer Entscheidung für oder gegen eine Investition sollten immer die Konsequenzen für die Zukunft im Mittelpunkt stehen, und keine Überlegungen, wie viel das Projekt bereits gekostet hat. Es geht immer um die ab jetzt investierte Zeit, Mühe oder Geld. Was passiert ist, ist bereits passiert.
Aufwandsvermeidung: Wähle die Option mit dem geringsten Aufwand!
Der Mensch – das ist kein Geheimnis – ist faul. Die Mehrheit der Menschen geht lieber den einfachen Weg, ohne viel Anstrengung oder zusätzliche Mühe. Viele Entscheidungen werden also getroffen, nicht weil es die beste Option ist, sondern weil die gewählte Option weniger kostet. Evolutorisch war klar im Vorteil, wer sparsam mit seinen Ressourcen umging, und so für harte Zeiten vorsorgte. Auch heute kann Kosteneffizienz natürlich ein valides Argument sein. Zum Problem wird diese Herangehensweise erst, wenn wir diese Daumenregel anderen wichtigeren Auswahlkriterien vorziehen, und unsere eigentlichen Ziele aus den Augen verlieren:
Die nahe Limo statt dem zehn Meter entfernten Wasser. Sie wollen weniger Süßes essen, aber Sie nehmen das Tiramisu, das auf dem Weg liegt.
Wenn wir unsere Ziele und Präferenzen (noch) nicht genau kennen, kann die Aufwandsvermeidung dazu führen, dass wir unseren Möglichkeitsraum beschneiden, und nicht aus dem Vollen schöpfen.
Wer weiß: Vielleicht hätten Sie die vegetarische Option gewählt, wenn Sie auf Ihrem Weg zuerst in den Blick gekommen wäre.
Gegenwarts-Fokus: Genieße den Moment und schau nicht auf morgen!
Unsere Pläne, uns gesünder zu ernähren sind schnell vergessen, wenn wir einen leckeren Nachtisch vor uns sehen. Was wir sofort haben können, löst einen unwiderstehlichen Reiz aus – im Vergleich zu Belohnungen (wie Gesundheit, ein flacher Bauch), auf die wir wer-weiß-wie-lange warten müssen.
Der sogenannte „Present Bias“ lässt sich aus der Geschichte der Menschheit erklären. Gab es nach einer anstrengenden Jagd endlich mal wieder Fleisch, war es sogar eine gute Idee, möglichst viel davon zu essen. Konservierung und Aufbewahrung waren nicht möglich. Alles, was nicht gegessen wurde, war schnell verdorben. Dass wir heute über Kühlschränke verfügen, scheint unser Unterbewusstsein jedoch manchmal zu vergessen.
Bestätigung: Suche nach Beispielen, die zeigen, dass du Recht hast.
„Ich hab’s ja schon immer gewusst.“ Wenn Sie diesen Gedanken kennen, dann haben Sie wahrscheinlich unbewusst die Bestätigungs-Heuristik angewandt. Das kann zum Beispiel passieren, wenn wir eine andere Person beurteilen. Wenn unsere Grundannahme ist: „Eva grüßt nie“, dann zählen wir innerlich jedes Mal mit, wenn das tatsächlich so ist, ein freundliches Grüßen schafft es jedoch nicht in die Statistik. In der Verhaltensökonomik nennt man dieses Verhalten den „Bestätigungsfehler“- wir suchen gerne nach Bestätigung für unsere Annahme, selten nach Argumenten dagegen. Recht haben ist ja auch einfach zu schön.
Nach Bestätigung suchen: Das tun wir nicht nur bei der Beurteilung von Mitarbeitern, sondern auch mit Vorliebe bei uns selbst. Wenn wir der Meinung sind, dass unsere Geschäftsidee unschlagbar ist, laufen wir Gefahr kritische Stimmen nicht genug zu hören. Dass diese „Over-Confidence“ immense Kosten verursachen kann, liegt auf der Hand.
Die unbewusste Anwendung von Heuristiken lässt uns manchmal Entscheidungen treffen, die wir bewusst so nicht getroffen hätten. Unsere Entscheidungen werden von subtilen Einflüssen gelenkt und oft durch Mechanismen, die in der frühen Vergangenheit erfolgreich waren, die heute aber eben auch manchmal zu kurz springen. Wenn wir davon ausgehen, dass wir rationale Wesen sind und eigentlich genau wissen, was wir wollen und uns nicht von Launen oder Manipulation verleiten lassen wollen, dann wird deutlich, dass Heuristiken einen klaren Nachteil haben: Sie führen zu Entscheidungen, die oft nicht in unserem Interesse sind, weil Sie zum Beispiel der Komplexität der Situation nicht gerecht werden. Und das nicht nur in der Cafeteria, sondern auch in Situationen, die hohe Kosten verursachen: Bei Investments, HR-Entscheidungen, oder auch im Change-Management.
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Meine Frage wäre, wie zuverlässig ist das Bauchgefühl in komplexeren Situationen?
Beispiel: Wenn relevante Businessentscheidungen anstehen, bereite ich diese gut vor, wiege alle Argumente ab und gehe vorbereitet in das entscheidene Meeting. Aber wenn ich vor dem Meeting das Gefühl habe, "es fühlt sich nicht richtig an. Ich bin nicht sicher. Es passt nicht.", dann mache ich es nicht. Kann ich da dem Bauchgefühl vertrauen?