Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachholung der schriftlichen Vollmacht im Verfassungsbeschwerdeverfahren
Leitsatz (amtlich)
Die von einem Vertreter eingelegte Verfassungsbeschwerde ist nicht deshalb unzulässig, weil die schriftliche Vollmacht (§ 22 Abs. 2 BVerfGG) erst nach Ablauf der Fristen des § 93 BVerfGG ausgestellt worden ist (Ergänzung zu BVerfGE 1, 433).
Leitsatz (redaktionell)
Zwar sieht § 22 Abs. 2 BVerfGG vor, daß die Vollmacht schriftlich zu erteilen ist. Die meisten deutschen Prozeßgesetze lassen es jedoch ausdrücklich zu, daß der Mangel fehlender Vollmacht nachträglich geheilt wird (vgl. § 89 ZPO; § 67 Abs. 3 VwGO; § 62 Abs. 3 FGO; § 73 Abs. 2 SGG). Da das Gesetz über das BVerfG keine erschöpfende Verfahrensregelung enthält, kann das BVerfG bei der zweckentsprechenden Gestaltung seines Verfahrens auf allgemeine verfahrensrechtliche Grundsätze besonders des Zivilprozeßrechts und des Verwaltungsprozeßrechts zurückgreifen.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; BVerfGG § 22 Abs. 2, § 93 Abs. 1; FGO § 62 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Dortmund (Urteil vom 05.10.1977; Aktenzeichen 1 S 109/76) |
Gründe
A.
I.
1. Die Beschwerdeführerin ist in einem Zivilrechtsstreit vom Amtsgericht Dortmund zur Zahlung von restlichem Werklohn für Malerarbeiten an ihren Wohnhäusern verurteilt worden. Sie hatte die Zahlung verweigert, weil die Arbeiten teilweise mangelhaft gewesen seien. Das Landgericht hat die Berufung der Beschwerdeführerin gegen dieses Urteil zurückgewiesen.
Das Landgericht hat seine Entscheidung damit begründet, daß die Mängel auf Umstände zurückzuführen seien, die der Kläger des Ausgangsverfahrens nicht zu vertreten habe. Zwar sei er verpflichtet gewesen, die Beschwerdeführerin vor Beginn der Malerarbeiten auf diese Umstände hinzuweisen. Dieser Mitteilungspflicht sei er jedoch nachgekommen, wie er schon vor dem Amtsgericht in einem Schriftsatz vom 12. Januar 1976 vorgetragen habe. Dieser Vortrag des Klägers sei von der Beschwerdeführerin nicht bestritten worden. Sie müsse sich die Mängel daher zurechnen lassen, da sie trotz des Hinweises keine Abhilfe geschaffen habe.
2. Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landgerichts und rügt Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Sie habe vor der Entscheidung des Landgerichts von dem Schriftsatz des Klägers vom 12. Januar 1976 keine Kenntnis erhalten. Er sei weder ihrem Prozeßbevollmächtigten noch ihr mitgeteilt worden. Da er dem Urteil des Landgerichts zugrunde gelegt worden sei, hätte sie zuvor zu dessen Inhalt gehört werden müssen. Diesem hätte sie unter Antritt des Gegenbeweises widersprochen.
3. Der Schriftsatz vom 12. Januar 1976 ist mit dem Eingangsstempel der Geschäftsstelle des Amtsgerichts vom 13. Januar 1976 und einem Hinweis auf zwei Abschriften zu den Akten des Ausgangsverfahrens gelangt; er trägt keinen Vermerk darüber, daß eine Abschrift dem Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführerin oder ihr selbst übersandt worden sei. Weder in den weiteren Schriftsätzen der Parteien noch in den Gerichtsprotokollen wird auf ihn Bezug genommen. Das Amtsgericht hatte ihn zur Begründung seines Urteils nicht herangezogen.
II.
Dem Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Kläger des Ausgangsverfahrens ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Sie haben sich nicht geäußert.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Zwar ist die nachgereichte schriftliche Vollmacht des Prozeßvertreters, der die Verfassungsbeschwerde innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG eingelegt hat, erst nach Ablauf dieser Frist ausgestellt worden und beim Bundesverfassungsgericht eingegangen. Daß eine durch einen Vertreter erhobene Verfassungsbeschwerde nicht deswegen unzulässig wird, weil die erforderliche Vollmacht nicht innerhalb der Ausschlußfrist des § 93 BVerfGG eingeht, hat das Bundesverfassungsgericht schon in der Entscheidung BVerfGE 1, 433 ausgesprochen. Das gleiche muß auch für die nachträgliche Ausstellung der Vollmachtsurkunde gelten. Zwar sieht § 22 Abs. 2 BVerfGG vor, daß die Vollmacht schriftlich zu erteilen ist. Die meisten deutschen Prozeßgesetze lassen es jedoch ausdrücklich zu, daß der Mangel fehlender Vollmacht nachträglich geheilt wird (vgl. § 89 ZPO; § 67 Abs. 3 VwGO; § 62 Abs. 3 FGO; § 73 Abs. 2 SGG). Da das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht keine erschöpfende Verfahrensregelung enthält, kann das Bundesverfassungsgericht bei der zweckentsprechenden Gestaltung seines Verfahrens auf allgemeine verfahrensrechtliche Grundsätze besonders des Zivilprozeßrechts und des Verwaltungsprozeßrechts zurückgreifen (vgl. BVerfGE 33, 247 [261] m.w.N.). Auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren kann sich die Ausstellung der Vollmachtsurkunde aus Gründen verzögern, die der Beschwerdeführer nicht zu vertreten hat. Es erscheint daher angebracht, in diesem Verfahren an den Nachweis der Vertretung keine strengeren Anforderungen zu stellen als in den genannten Prozeßordnungen, zumal da es gegen die Versäumung der Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gibt (BVerfGE 4, 309 [313 ff.]; 9, 109 [115 f.]; 28, 243 [256]). Für die Nachreichung der Vollmacht kann das Gericht eine Frist bestimmen. Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens stehen dem nicht entgegen. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, daß die Beschwerdeführerin den Auftrag zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde erst nachträglich erteilt hat.
C.
Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Das angegriffene Urteil verletzt Art. 103 Abs. 1 GG.
I.
1. Diese Vorschrift gibt dem an einem Rechtsstreit Beteiligten ein Recht darauf, daß er Gelegenheit erhält, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern (ständige Rechtsprechung; vgl. zB BVerfGE 36, 92 [97]; 42, 364 [369]). Nach den festgestellten Umständen ist von dem Vorbringen der Beschwerdeführerin auszugehen, sie habe vor der Entscheidung des Landgerichts von dem Inhalt des klägerischen Schriftsatzes vom 12. Januar 1976 keine Kenntnis erhalten. Da der in diesem Schriftsatz vorgetragene Sachverhalt der angegriffenen Entscheidung zugrunde gelegt worden ist, hätte die Beschwerdeführerin zuvor hierzu angehört werden müssen. Das ist offenbar nicht geschehen. Ob die Ursache dafür in einem Versehen der Geschäftsstelle oder in anderen Umständen liegt, ist unerheblich. Das Gericht ist insgesamt dafür verantwortlich, daß das Gebot des rechtlichen Gehörs eingehalten wird. Auf ein Verschulden kommt es dabei nicht an (BVerfGE 46, 185 [187]). Die Beschwerdeführerin war auch nicht verpflichtet, von sich aus nachzuforschen, ob von dem anderen Verfahrensbeteiligten Schriftsätze eingereicht worden waren (BVerfGE 17, 194 [197]; 18, 147 [150]).
2. Das Urteil des Landgerichts Dortmund beruht auch auf der unterbliebenen Anhörung der Beschwerdeführerin zu dem Schriftsatz vom 12. Januar 1976. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Anhörung zu einer anderen Entscheidung geführt hätte. Das Landgericht hätte nicht mehr davon ausgehen können, daß das Vorbringen des Klägers in seinem Schriftsatz vom 12. Januar 1976 unbestritten und damit gemäß § 138 Abs. 3 ZPO zugestanden sei.
II.
Das Urteil des Landgerichts war daher aufzuheben und die Sache gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Landgericht zurückzuverweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 1697480 |
BVerfGE, 381 |