Verfahrensgang
LG Darmstadt (Entscheidung vom 07.05.2020; Aktenzeichen 5 T 201/20) |
AG Darmstadt (Entscheidung vom 31.03.2020; Aktenzeichen 272 XIV 136/20 B) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt vom 7. Mai 2020 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe wird zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene, ein marokkanischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2018 ohne Aufenthaltstitel in das Bundesgebiet ein. Nach einer Auseinandersetzung mit seiner damaligen Lebensgefährtin wurde er am 1. März 2020 festgenommen, mit Verfügung vom 2. März 2020 ausgewiesen und ihm zugleich die Abschiebung nach Marokko angedroht.
Rz. 2
Nachdem das Amtsgericht mit Beschluss vom 2. März 2020 zunächst eine vorläufige Freiheitsentziehung angeordnet hatte, hat es auf Antrag der beteiligten Behörde mit Beschluss vom 31. März 2020 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung bis zum 8. Mai 2020 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene nach Ablauf der Haftzeit die Feststellung, in seinen Rechten verletzt worden zu sein.
Rz. 3
II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.
Rz. 4
1. Das Beschwerdegericht meint, der Haftanordnung liege ein zulässiger Haftantrag zugrunde. Auch die übrigen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft seien erfüllt. Die angeordnete Haftdauer sei nicht zu beanstanden. Zwar habe sich im Laufe des Beschwerdeverfahrens herausgestellt, dass der für den 4. Mai 2020 geplante Flug storniert worden sei, allerdings habe die beteiligte Behörde daraufhin dargelegt, dass der nächste Flug bereits für den 9. Juni 2020 anberaumt sei und die erforderlichen Passersatzpapiere rechtzeitig verlängert werden könnten. Anhaltspunkte dafür, dass dieser Flug nicht stattfinden könne, bestünden nicht.
Rz. 5
2. Die Entscheidung hält rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand. Zwar hat das Beschwerdegericht den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt. Jedoch beruht die angefochtene Entscheidung nicht auf dieser Rechtsverletzung.
Rz. 6
a) Das Beschwerdegericht hat unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG über die Beschwerde entschieden, weil es die vom Verfahrensbevollmächtigten beantragte Akteneinsicht erst nach Erlass der Beschwerdeentscheidung gewährt hat.
Rz. 7
aa) Beantragt der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen - wie hier - Einsicht in die Gerichts- und Ausländerakte und kündigt er an, die Beschwerde anschließend zu begründen, darf das Beschwerdegericht die Beschwerde erst zurückweisen, wenn es die Akteneinsicht gewährt und eine für die Begründung des Rechtsmittels angemessene Zeitspanne zugewartet hat (BGH, Beschlüsse vom 19. Juli 2018 - V ZB 223/17, InfAuslR 2018, 413 Rn. 7 ff.; vom 20. Juli 2021 - XIII ZB 106/19, juris Rn. 7; vom 22. Februar 2022 - XIII ZB 74/20, InfAuslR 2022, 331 Rn. 8). Der drohende Ablauf einer bereits angeordneten Haft rechtfertigt nicht die Verkürzung von Verfahrensrechten des Betroffenen. Vielmehr kann dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitenden Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen, welches auch in Abschiebungshaftsachen zu beachten ist, durch eine geeignete Verfahrensgestaltung Rechnung getragen werden, etwa durch eine kurzfristige Einsichtnahme in die Akten auf der Geschäftsstelle des Gerichts und eine anschließende kurze Frist für die Begründung der Beschwerde (BGH, InfAuslR 2018, 413 Rn. 8).
Rz. 8
bb) Das hat das Beschwerdegericht verfahrensfehlerhaft unterlassen. Es hat die Beschwerde zurückgewiesen, ohne zuvor die am 29. April 2020 beantragte Einsicht in die Gerichts- und Ausländerakte gewährt und eine für die Begründung des Rechtsmittels angemessene Zeitspanne abgewartet zu haben. Das Beschwerdegericht hätte sich vor Entscheidung über die Beschwerde zum Antrag auf Akteneinsicht verhalten müssen und den Verfahrensbevollmächtigten jedenfalls mit Verfügung vom 4. Mai 2020 darauf hinweisen müssen, dass eine Akteneinsicht auf der Geschäftsstelle des Gerichts möglich ist. Stattdessen hat es nur der beteiligten Behörde eine Frist zur Stellungnahme auf die Beschwerde des Betroffenen eingeräumt und die vom Betroffenen beantragte Akteneinsicht erst nach der Entscheidung über die Beschwerde gewährt.
Rz. 9
b) Die Entscheidung beruht jedoch nicht auf der Gehörsverletzung. Die Rechtsbeschwerde legt nicht dar, dass das Verfahren ohne den Verstoß zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 18. Februar 2016 - V ZB 23/15, InfAuslR 2016, 235 Rn. 23; vom 15. September 2016 - V ZB 49/15, juris Rn. 2, jeweils mwN; s.a. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 2020 - 2 BvR 2345/16, InfAuslR 2020, 343 Rn. 61). Der Haftanordnung lag ein zulässiger Haftantrag zugrunde (dazu aa). Auch war das Beschwerdegericht nicht deshalb zur Aufhebung der Haft nach § 426 FamFG verpflichtet, weil eine Abschiebung nicht innerhalb des Zeitraums von drei Monaten gemäß § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG zu erwarten war (dazu bb).
Rz. 10
aa) Der Haftanordnung lag, anders als die Rechtsbeschwerde meint, ein zulässiger Haftantrag zugrunde.
Rz. 11
(1) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Diese Darlegungen dürfen zwar knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom 12. November 2019 - XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7). Dazu müssen die Darlegungen auf den konkreten Fall bezogen sein und dürfen sich nicht in Leerformeln erschöpfen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 13; vom 20. April 2021 - XIII ZB 36/21, juris Rn. 6 mwN). Eine nähere Erläuterung des für die Buchung eines Fluges mit Sicherheitsbegleitung erforderlichen Zeitaufwands ist in aller Regel dann nicht geboten, wenn sich die Behörde auf eine Auskunft der zuständigen Stelle oder entsprechende eigene Erfahrungswerte beruft, wonach dieser Zeitraum bis zu sechs Wochen beträgt. Ist ein längerer Zeitraum für die Organisation der Rückführung des Betroffenen erforderlich, bedarf es einer auf den konkreten Fall bezogenen Begründung, die dies nachvollziehbar erklärt (etwa durch Angaben zur Art des Fluges, zur Buchungslage der in Betracht kommenden Luftverkehrsunternehmen, zur Anzahl der Begleitpersonen und zur Personalsituation; st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 20. September 2018 - V ZB 4/17, InfAuslR 2019, 23 Rn. 11; vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7).
Rz. 12
(2) Diesen Anforderungen wird der Haftantrag der beteiligten Behörde gerecht. Die Behörde hat dargelegt, sie habe am 19. März 2020 Kenntnis davon erhalten, dass der für die Kalenderwoche 14 geplante Flug nicht stattfinden könne. Daraufhin habe sie die Bundespolizei erneut um Organisation einer begleiteten Rückführung ersucht, für die ein Flug am 4. Mai 2020 habe gebucht werden können. Die Zeitspanne vom 19. März bis zum 4. Mai 2020 umfasst sechs Wochen und vier Tage, wobei in den Zeitraum die beiden Osterfeiertage, der Maifeiertag sowie die Osterferien fielen, so dass erfahrungsgemäß mit reduzierten Personalressourcen und verzögerten Verfahrensabläufen zu rechnen war (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. August 2021 - XIII ZB 2/19, juris Rn. 7; vom 12. Oktober 2021 - XIII ZB 110/19, juris Rn. 9). Vor diesem Hintergrund war die Überschreitung des nach der Senatsrechtsprechung in der Regel nicht näher erläuterungsbedürftigen Zeitraums von sechs Wochen angemessen und bedurfte keiner weiteren Erläuterung.
Rz. 13
Auch angesichts der Corona-Pandemie bedurfte es keiner weiteren Darlegung, dass die Abschiebung bis zum angeordneten Ende der Haft möglich war. Sicherungshaft ist nach § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG nur dann unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Davon musste die beteiligte Behörde, auch wenn der zunächst geplante Flug storniert wurde, jedenfalls zum Zeitpunkt der Stellung des Haftantrags im März 2020 aufgrund der unklaren Entwicklung der Pandemie nicht ausgehen. Angesichts des bereits für den 4. Mai 2020 gebuchten Flugs war es im Zeitpunkt, in dem die Prognose zu treffen war, keineswegs ausgeschlossen, dass die Abschiebung trotz der bestehenden Einschränkungen durchgeführt werden konnte. Auch die Rechtsbeschwerde zeigt keine konkreten Anhaltspunkte auf, die bereits zu diesem Zeitpunkt darauf hätten schließen lassen müssen, dass die geplante Abschiebung nicht durchführbar war.
Rz. 14
bb) Das Beschwerdegericht war auch nicht gehalten, die bis zum 8. Mai 2020 angeordnete Haft im Hinblick auf die Stornierung des für den 4. Mai 2020 geplanten Fluges nach § 426 FamFG aufzuheben. Von einer Aufhebung des noch nicht abgelaufenen Teils der angeordneten Sicherungshaft kann das Gericht gemäß § 62 Abs. 4a AufenthG nach dem Scheitern der geplanten Abschiebung dann absehen, wenn die Voraussetzungen für die Haftanordnung unverändert vorliegen und zu erwarten ist, dass die Haft auf Grund eines entsprechenden bereits gestellten oder vorbereiteten Haftantrags verlängert wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, InfAuslR 2018, 415 Rn. 21 ff.; vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 130/19, juris Rn. 10). Diese Voraussetzungen sind auf Grundlage der Feststellungen des Beschwerdegerichts erfüllt.
Rz. 15
(1) Die bereits seit dem 2. März 2020 vollzogene Haft durfte, anders als die Rechtsbeschwerde meint, nach § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG über einen Zeitraum von drei Monaten hinaus angeordnet werden. Nach dieser Vorschrift ist bei einem Ausländer, von dem eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, die Sicherungshaft auch dann zulässig, wenn die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Zwar hat das Beschwerdegericht nicht geprüft, ob die Voraussetzungen nach § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG für die Anordnung einer den Zeitraum von drei Monaten überschreitenden Haft vorgelegen haben. Seine tatsächlichen Feststellungen tragen jedoch die Annahme, dass von dem Betroffenen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter ausging und daher eine Verlängerung der Haft bis zum Zeitpunkt der geplanten Abschiebung erfolgen konnte. Das Beschwerdegericht hat festgestellt, dass sich der Betroffene im Zuge seiner Ingewahrsamnahme gewalttätig verhalten hat. Ausweislich der vom Beschwerdegericht in Bezug genommenen Ausweisungsverfügung hatte er seiner damaligen Lebensgefährtin gedroht, sie umzubringen, falls sie ihm die zum Zweck der Eingehung einer Scheinehe angeblich gezahlten 7.000 € nicht zurückgebe.
Rz. 16
(2) Das Beschwerdegericht hat im Ergebnis auch zutreffend angenommen, dass die Haftvoraussetzungen weiterhin vorlagen und daher mit einer Verlängerung der angeordneten Haft zu rechnen war. Es ist davon ausgegangen, dass die beteiligte Behörde nach der Stornierung des Fluges vom 4. Mai 2020 die Abschiebung des Betroffenen weiter betreiben werde und dass bereits der nächstmögliche Gruppenflug gebucht sei. Auf Grundlage der von der beteiligten Behörde im Schreiben vom 6. Mai 2020 erteilten Auskünfte konnte das Beschwerdegericht auch davon ausgehen, dass dieser Flug trotz der damaligen weitgehenden Einstellung des Flugverkehrs nach Marokko stattfinden könne. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass eine Grenzöffnung bis zum Ablauf der zu erwartenden Haftverlängerung ausgeschlossen war und damit zugleich festgestanden hätte, dass die Abschiebung bis zu diesem Zeitpunkt nicht gelingen konnte, lässt die Rechtsbeschwerde nicht erkennen.
Rz. 17
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG. Der Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe bleibt nach den vorstehenden Ausführungen erfolglos.
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