Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Leistungsbeschränkung bei kieferorthopädischer Behandlung von Erwachsenen ist verfassungsgemäß
Leitsatz (amtlich)
1. Seit 1.1.1993 können sich Erwachsene auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen nur in den gesetzlich geregelten Ausnahmefällen kieferorthopädisch behandeln lassen; darüber hinaus bestehen Ansprüche des Versicherten weder bei Folgeerkrankungen noch im Hinblick auf Art oder Ursache der zu behandelnden Kieferanomalie.
2. Die darin liegende Beschränkung des Krankenversicherungsschutzes verletzt kein Verfassungsrecht.
Normenkette
SGB V § 27 Abs. 1 S. 1, § 28 Abs. 2 Sätze 6-7, § 29 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; SGB V § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; GG Art. 20 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die 1958 geborene Klägerin ist versicherungspflichtiges Mitglied der beklagten Ersatzkasse. Wegen einer starken Kieferenge mit ausgeprägten Zahnfehlstellungen, die bereits von 1972 bis 1975- jedoch ohne bleibenden Erfolg - behandelt worden war und die mittlerweile zu Funktionsstörungen und Schmerzen insbesondere am Kiefergelenk und an der Kaumuskulatur geführt hatte, wurde bei ihr eine etwa dreijährige kieferorthopädische Behandlung notwendig; eines kieferchirurgischen Eingriffs bedurfte es hingegen nicht. Ihren auf einen entsprechenden Behandlungsplan gestützten Antrag auf Kostenübernahme lehnte die Beklagte unter Berufung auf die seit 1993 geltende Altersgrenze für kieferorthopädische Behandlungen ab (Bescheid vom 3. September 1993, Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 1993).
Das dagegen angerufene Sozialgericht (SG) hat nach Einholung eines zahnmedizinischen Gutachtens der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, die Kosten der kieferorthopädischen Behandlung zu tragen. Auf diese habe die Klägerin bereits nach allgemeinen Vorschriften einen Anspruch, weil die Zahnfehlstellung zu weiteren Gesundheitsschäden am Kiefergelenk und an der Kaumuskulatur geführt habe. Bei einer solchen Konstellation greife weder die gesetzliche Ausschlußregelung ein noch komme es auf deren Ausnahme an. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 1. August 1996 zurückgewiesen. Der Gesetzgeber habe lediglich die aus ästhetischen Gründen oder wegen mangelnder zahnmedizinischer Vorsorge erfolgende isolierte kieferorthopädische Behandlung Erwachsener aus der Leistungspflicht der Krankenkassen herausnehmen wollen. Darum handele es sich aber nicht, wenn die Behandlung- wie im Fall der Klägerin - aus medizinischen Gründen notwendig sei. Ob sich ein Anspruch außerdem daraus ergebe, daß das in Rede stehende Krankheitsbild den in der Ausnahmevorschrift beschriebenen schweren Kieferanomalien gleichgestellt werden müsse, könne auf sich beruhen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verstöße gegen § 28 Abs 2 Satz 2 und 3 (jetzt: § 28 Abs 2 Satz 6 und 7) Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Aus dem Wortlaut und dem Bedeutungszusammenhang der Vorschrift ergebe sich, daß die Krankenkasse Kosten für die kieferorthopädische Behandlung Erwachsener nur in den Ausnahmefällen zu tragen habe, in denen wegen der Art und Schwere der Kieferanomalie kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen notwendig seien. Diese Voraussetzung sei nach dem vom SG eingeholten Gutachten bei der Klägerin nicht erfüllt. Für eine analoge Anwendung der Ausnahmevorschrift auf andere Fälle einer medizinisch indizierten kieferorthopädischen Behandlung sei kein Raum. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen sei eine Leistungspflicht nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung auch dann ausgeschlossen, wenn die kieferorthopädische Behandlung nicht nur unter funktionellen oder ästhetischen Gesichtspunkten, sondern auch zur Verhinderung oder Beseitigung etwaiger aus der Fehlstellung resultierender Folgeschäden vorgenommen werde.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 1. August 1996 und des Sozialgerichts Trier vom 9. November 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Die Kosten der kieferorthopädischen Behandlung der Klägerin sind nicht von der Beklagten zu tragen. Die den Anspruch bejahenden Urteile der Vorinstanzen sind aufzuheben. Zwar hat die Beklagte nach § 29 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 SGB V grundsätzlich auch die Kosten für kieferorthopädische Behandlungen zu erstatten, sofern in den vom Bundesausschuß der Zahnärzte und Krankenkassen festgelegten medizinischen Indikationsgruppen (§ 29 Abs 4 SGB V) eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht. Nach § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V (als Satz 2 zum 1. Januar 1993 eingeführt durch das Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. Dezember 1992, BGBl I 2266) gehört jedoch die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten, die zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet haben, nicht zur zahnärztlichen Behandlung. Eine Ausnahme gilt nach § 28 Abs 2 Satz 7 (früher Satz 3) SGB V nur für Versicherte mit schweren Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordert. Die Ausschlußregelung des § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V greift bei der Klägerin ein; ein Ausnahmefall nach Satz 7 aaO ist nicht gegeben.
Die Behandlung wurde nach Vollendung des 18. Lebensjahres begonnen. Als Behandlungsbeginn ist der Zeitpunkt der Aufstellung des kieferorthopädischen Behandlungsplans anzusehen, auch wenn die eigentliche Behandlung erst danach beginnt und wichtige Vorbereitungshandlungen schon vor diesem Zeitpunkt liegen sollten. Denn das Datum des Behandlungsplans belegt in nachprüfbarer Weise die Feststellung der Behandlungsnotwendigkeit sowie den Behandlungswunsch des Versicherten und die Behandlungsbereitschaft des Zahnarztes; andere denkbare Zeitpunkte könnten erhebliche Rechtsunsicherheit nach sich ziehen (so auch die Vorstellungen des Gesetzgebers in der Begründung zum Gesetzentwurf, BT-Drucks 12/3608 S 79).
Der Behandlungsplan für die in Rede stehende Behandlung datiert vom 18. Februar 1993, so daß der Anspruch der damals 34-jährigen Klägerin ausgeschlossen ist. Die etwa zwanzig Jahre vorher von 1972 bis 1975- letztlich erfolglos - durchgeführte kieferorthopädische Behandlung kann an diesem Ergebnis nichts ändern. Bei einer so langen Zeit ohne Behandlung ist nicht von einer Fortsetzung der damals begonnenen Maßnahmen auszugehen, auch wenn nach wie vor dieselbe Kieferanomalie die Behandlungsnotwendigkeit begründet. Ob und unter welchen Umständen kürzere Behandlungsunterbrechungen für den Anspruch unschädlich sein können, bedarf hier keiner Entscheidung. Die Klägerin erfüllt auch nicht die Voraussetzungen, unter denen die kieferorthopädische Behandlung eines Erwachsenen nach § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V ausnahmsweise in den Versicherungsschutz einbezogen wird. Das LSG hat- für den Senat gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindend - festgestellt, daß kieferchirurgische Eingriffe bei ihr nicht erforderlich sind, und ausdrücklich eingeräumt, daß die Ausnahmevorschrift nach dem Gesetzeswortlaut nicht eingreift.
Entgegen der Auffassung des LSG ist der gesetzliche Leistungsausschluß für kieferorthopädische Behandlungen bei über achtzehnjährigen Versicherten nicht einschränkend dahin zu verstehen, daß er nur für Maßnahmen gilt, die aus ästhetischen Gründen oder wegen mangelnder zahnmedizinischer Vorsorge erfolgen. Diese Interpretation ist mit Wortlaut und Systematik des § 28 Abs 2 Satz 6 und 7 SGB V nicht zu vereinbaren. Der Gesetzestext gibt für die Beschränkung der Ausschlußregelung auf bestimmte Gründe einer Behandlung nichts her. Soweit in Satz 7 Ausnahmen vorgesehen sind, beziehen sie sich allein auf die Art der erforderlichen Maßnahmen und nicht auf den Behandlungsanlaß. Dessen notwendige medizinische Orientierung ergibt sich im übrigen bereits aus § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V; zum Ausschluß nur ästhetisch begründbarer Maßnahmen hätte es keiner eigenen Vorschrift bedurft. Nachdem das Gesetz die Fallgestaltungen nennt, in denen kieferorthopädische Maßnahmen im Erwachsenenalter ausnahmsweise in den Krankenversicherungsschutz einbezogen werden, steht der vom LSG befürworteten Auslegung der abschließende Charakter der Regelung entgegen. Zwar wird- worauf das LSG hinweist - die Ausschlußregelung in der Begründung zum Fraktionsentwurf des Gesundheitsstrukturgesetzes ua damit gerechtfertigt, daß kieferorthopädische Maßnahmen bei Erwachsenen überwiegend aus ästhetischen Erwägungen oder zur Behebung selbstverschuldeter Gebißschäden durchgeführt werden (BT-Drucks 12/3608 S 79). Dieser Aussage zum typischen Behandlungsanlaß ist jedoch ebensowenig wie den übrigen Gesetzesmaterialien ein Anhalt dafür zu entnehmen, daß der Leistungsausschluß auf die genannten Behandlungsanlässe beschränkt werden sollte.
Es kommt auch nicht darauf an, ob der bei der Klägerin anzutreffende Befund einen vergleichbaren Schweregrad aufweist wie eine Kieferanomalie, die kieferchirurgische Maßnahmen erfordert. § 28 Abs 1 Satz 7 SGB V ist auf derartige Fälle nicht entsprechend anzuwenden. Abgesehen davon, daß kaum sinnvoll abzugrenzen wäre, nach welchen Merkmalen kieferorthopädisch behandelbare Fehlstellungen einem operationsbedürftigen Befund gleichzustellen wären, steht schon der Gesetzeswortlaut einer Ausdehnung auf vergleichbare Fälle entgegen. Die Gesetzesbegründung ihrerseits zeigt, daß die Operationsbedürftigkeit als ganz konkrete Leistungsvoraussetzung im Einzelfall verstanden werden muß, denn es werden eine Reihe von Fehlbildungen erwähnt, die nur mit Hilfe von kieferchirurgischen Maßnahmen ausgeglichen werden können (BT-Drucks aaO). An derselben Stelle kommt außerdem zum Ausdruck, daß es dem Gesetzgeber nicht darum geht- wie die Anknüpfung an das "Ausmaß" der Anomalie im Gesetzestext vermuten lassen könnte - besonders schwerwiegende Anomalien von leichteren Behandlungsfällen abzugrenzen. Vielmehr soll das Merkmal der kieferchirurgischen Behandlungsbedürftigkeit außer verletzungsbedingten skelettalen Fehlstellungen vor allem solche Fälle erfassen, bei denen der Abschluß des Körperwachstums abgewartet werden muß, bevor die notwendige chirurgische (und daher auch die darauf aufbauende kieferorthopädische) Maßnahme überhaupt sinnvoll durchgeführt werden kann. Die genannten Umstände- die erst im Erwachsenenalter erlittene traumatische Veränderung des Kieferknochens oder der medizinisch erzwungene Aufschub des kieferchirurgischen Eingriffs bis zum Abschluß des Wachstums - machen die Behandlung im jugendlichen Alter unmöglich und bilden den sachlichen Hintergrund für die Ausnahmevorschrift. Danach scheidet die Einbeziehung aller "vergleichbar schweren Fälle" aus, zumal bei diesen die Unterscheidung zwischen ästhetisch und medizinisch begründeter sowie diejenige zwischen bereits im Jugendalter und erst später erkennbarer Behandlungsnotwendigkeit auf noch größere Unsicherheiten stößt.
Schließlich ist unerheblich, daß die Zahnfehlstellung bei der Klägerin nach den Feststellungen des LSG zu Folgeschäden am Kiefergelenk und an der Kaumuskulatur geführt hat, die sich ihrerseits nur durch eine kieferorthopädische Behandlung beseitigen lassen. Die Auffassung, die Ausschlußregelung des § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V greife nicht ein, wenn die kieferorthopädischen Maßnahmen zur Behandlung einer anderen Erkrankung erforderlich sind, ist mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren. Sie läßt sich insbesondere nicht mit dem umfassenden Rahmenrecht auf Behandlung nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V begründen.
Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V schuldet die Krankenkasse eine Behandlung aus Anlaß der Krankheit mit dem Ziel, diese zu beheben oder zu lindern; nach Satz 2 dürfen dabei nur die dort genannten, in den nachfolgenden Vorschriften näher umschriebenen Maßnahmen der ärztlichen und zahnärztlichen Behandlung, der Versorgung mit Arzneimitteln usw eingesetzt werden. Im übrigen werden gesundheitliche Maßnahmen der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet. Insofern wirkt § 27 SGB V nicht nur leistungsbegründend; mindestens ebenso bedeutsam ist, daß darin die Leistungspflicht der Krankenkasse unter zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten begrenzt wird, die sich gegenseitig durchdringen. Zum einen muß die Krankenkasse nicht für alles aufkommen, was in irgendeiner Weise die Gesundheit fördert; soweit das Gesetz nichts anderes vorschreibt, ist ihre Leistungspflicht auf solche Maßnahmen beschränkt, die der in § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V näher umschriebenen gezielten Krankheitsbekämpfung ("Behandlung") dienen. Aber auch wenn unmittelbar ein Behandlungszweck verfolgt wird, ist die Krankenkasse nicht für Maßnahmen leistungspflichtig, die nicht im Katalog des § 27 Abs 1 Satz 2 SGB V enthalten sind. Die Grenzen des Rahmenrechts auf Leistungen der Krankenversicherung ergeben sich regelmäßig erst aus der Zusammenschau beider Gesichtspunkte (vgl Senatsurteil vom 9. Dezember 1997- 1 RK 23/95, zur Veröffentlichung bestimmt - mwN).
Bei der Vielzahl von Mitteln und Verhaltensweisen, denen eine gezielte Beeinflussung der Gesundheit zugeschrieben wird, wäre das Krankenversicherungsrisiko nicht sachgerecht begrenzbar, wenn der Versicherungsschutz ausschließlich davon abhinge, daß eine Maßnahme zur Krankheitsbekämpfung eingesetzt wird. Das notwendige Korrektiv wird mit dem abschließenden Leistungskatalog des § 27 Abs 1 Satz 2 SGB V erreicht. Maßnahmen, die darin nicht aufgeführt werden, sind dem Verantwortungsbereich des Versicherten zugewiesen, auch wenn sie eine sonst von der Krankenkasse zu gewährende Leistung ersparen können oder den Erfolg einer gewährten Leistung erst ermöglichen. Folgerichtig setzen Leistungsbeschränkungen in der Regel bei der Art der Behandlungsmaßnahme an (vgl etwa: § 28 Abs 2 Satz 2 SGB V- Beschränkung auf preiswerte Versorgungsformen bei Zahnfüllungen; § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V - Ausschluß der kieferorthopädischen Behandlung Erwachsener; § 30 SGB V- Begrenzung der Leistungspflicht bei Zahnersatz; § 34 SGB V - Ausschluß bestimmter Arznei-, Heil- und Hilfsmittel). Demgegenüber ist der Einwand unbeachtlich, die nicht zum Leistungsumfang gehörende Maßnahme diene zugleich der Beseitigung einer anderweitig aufgetretenen Erkrankung oder solle deren Behandlung erst ermöglichen. Wird die Versorgung mit Zahnersatz nur deshalb notwendig, weil der Versicherte das bisherige Füllmaterial nicht verträgt und daraus allgemeinmedizinisch zu behandelnde Krankheiten entstanden sind, ändert die Verpflichtung der Krankenkasse im Rahmen von § 27 SGB V nichts daran, daß zu den Kosten des Zahnersatzes nur ein Zuschuß zu leisten ist (BSG SozR 3-2500 § 30 Nr 3 und Nr 5). Genauso systemfremd wäre umgekehrt der Einwand der Krankenkasse, sie müsse für einen bestimmten ärztlichen Eingriff nicht leisten, weil damit dasselbe Behandlungsziel verfolgt werde wie mit einer nach § 34 Abs 1 SGB V ausgeschlossenen Arzneitherapie.
Von dem Grundsatz, daß der an die Art der Maßnahme anknüpfende Leistungsausschluß auch bei Verfolgung eines übergeordneten Behandlungsziels maßgebend bleibt, hat das Bundessozialgericht allerdings in zwei Entscheidungen zum früheren Recht der Reichsversicherungsordnung für besondere Fallkonstellationen Ausnahmen zugelassen. Dabei ging es um die Versorgung einer Gesichtsspalte bzw einer Parodontose in mehreren aufeinander abgestimmten Behandlungsschritten, von denen die Zahnersatzleistungen nach allgemeinen Grundsätzen nur hätten bezuschußt und die kieferorthopädischen Leistungen bei dem an Parodontose leidenden Erwachsenen für sich genommen nicht hätten eingesetzt werden dürfen (BSG SozR 2200 § 182 Nr 11; BSGE 45, 212 = SozR 2200 § 182 Nr 29). Ob an dieser Rechtsprechung unter der Geltung des SGB V festgehalten werden könnte, braucht nicht entschieden zu werden. Denn anders als nach der damaligen Rechtslage wird jedenfalls für den Bereich der Kieferorthopädie im jetzigen § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V genau umschrieben, unter welchen Voraussetzungen der Leistungsausschluß mit Rücksicht auf den engen Zusammenhang mit einer nicht ausgeschlossenen Maßnahme gegenstandslos ist. Da damit der von der früheren Rechtsprechung aus systematischen Überlegungen abgeleitete Gesichtspunkt, daß verschiedene Maßnahmen zu einer Einheit integriert sein können, ausdrücklich ins Gesetz aufgenommen und für die kieferorthopädische Behandlung auf den Fall des kieferchirurgischen Eingriffs beschränkt ist, bleibt für die Ausweitung dieses Gesichtspunkts auf zusätzliche Fallgestaltungen kein Raum. Unter diesen Umständen kann offen bleiben, ob bei der Klägerin neben kieferorthopädischen noch andere Behandlungsmaßnahmen eingesetzt wurden, die eine Einheit iS der früheren Rechtsprechung hätten begründen können.
Die durch das Gesundheitsstrukturgesetz eingeführte Beschränkung des Versicherungsschutzes dahingehend, daß kieferorthopädische Behandlungen bei Erwachsenen nur noch in Ausnahmefällen von den Krankenkassen zu bezahlen sind, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie ist sowohl mit dem Rechtsstaatsprinzip als auch mit dem Sozialstaatsprinzip vereinbar. Der Senat hat in seinem Urteil vom 25. Juni 1991 (BSGE 69, 76 = SozR 3-2500 § 59 Nr 1) in anderem Zusammenhang näher ausgeführt, daß die in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten grundsätzlich nicht auf einen unveränderten Fortbestand der im Gesetz vorgesehenen Leistungen vertrauen können. Angesichts fortlaufender Veränderungen der wirtschaftlichen, soziologischen und medizinischen Rahmenbedingungen und Interessenlagen mit Auswirkungen auf die Finanzierbarkeit der Krankenversicherung und die Belastbarkeit der Sozialversicherungssysteme insgesamt muß es dem Gesetzgeber erlaubt sein, den Leistungsumfang und die Modalitäten der Leistungsgewährung an neue Entwicklungen und Erkenntnisse anzupassen.
Der unterschiedliche Versicherungsschutz für Erwachsene und Jugendliche bei kieferorthopädischen Maßnahmen verletzt auch nicht den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 Grundgesetz. Diese Vorschrift verbietet es, Gruppen von Normadressaten unterschiedlich zu behandeln, obwohl zwischen ihnen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen (BVerfGE 87, 1, 36 = SozR 3-5761 Allg Nr 1 S 7 mwN). Der Gesetzgeber hat den Leistungsausschluß bei Erwachsenen mit medizinischen Erwägungen begründet, welche die Differenzierung tragen. Zwischen kieferorthopädischen Maßnahmen vor Abschluß des Skelettwachstums und danach bestehen grundsätzliche Unterschiede, die bisher dazu geführt haben, daß die Erwachsenenbehandlung mit Skepsis betrachtet wird (Vanarsdall/Musich in: Graber/Swain, Orthodontics, St. Louis 1985, S 791 ff; vgl auch die in BSGE 45, 212, 219 f = SozR 2200 § 182 Nr 29 S 56 zitierte Literatur). Zu den dabei zu beachtenden Schwierigkeiten gehören insbesondere die wesentlich längere Behandlungsdauer, weil aus mehreren Gründen nur geringe Kräfte eingesetzt werden dürfen, die höhere Empfindlichkeit gegenüber sekundären Schädigungen und die lange Nachbehandlung (Retention), um eine Rückbildung zu verhindern, so daß kieferorthopädische Maßnahmen nach Abschluß des Wachstums nur mit erheblichen Vorbehalten empfohlen werden (Meyerhöfer, Prärestaurative Kieferorthopädie, Berlin 1987, S 17 ff; Witt in: Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen, Colloquium Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten, Bonn 1984, S 78 ff). Daran anknüpfend konnte der Gesetzgeber davon ausgehen, daß mit einer kieferorthopädischen Behandlung aus medizinischen Gründen regelmäßig vor Abschluß des Körperwachstums begonnen werden sollte (vgl nochmals BT-Drucks 12/3608 S 79 zu § 28). Mit dem Hinweis auf die Risiken und den im allgemeinen geringeren Wirkungsgrad einer Erwachsenenbehandlung sowie die Schwierigkeit, bei solchen Behandlungen medizinische von anderen Behandlungszielen abzugrenzen, sind sachliche Unterschiede aufgezeigt, die es rechtfertigten, die Leistungspflicht der Krankenkassen auf kieferorthopädische Maßnahmen im Jugendalter zu begrenzen. Daß in der Literatur Fälle diskutiert werden, in denen kieferorthopädische Maßnahmen auch noch im Erwachsenenalter sinnvoll sein mögen, steht der Zulässigkeit der notwendigerweise typisierenden Regelung nicht entgegen.
Die in § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V geregelte Ausnahme ist ebenfalls sachlich gerechtfertigt. Wie bereits aufgezeigt, steht sie mit der im Krankenversicherungsrecht notwendigen Risikoabgrenzung nach der Art der Behandlungsmaßnahme im Einklang und vermeidet unbefriedigende Unterscheidungen nach der Art, der Schwere oder der Ursache einer Erkrankung. Der Gesetzgeber war verfassungsrechtlich nicht gehalten, den Anspruch von anderen Merkmalen als dem der kombinierten kieferchirurgischen und kieferorthopädischen Behandlung abhängig zu machen. Soweit er unterstellt hat, daß bei kieferorthopädischen Maßnahmen im Erwachsenenalter häufig medizinische von ästhetischen Gesichtspunkten überlagert werden, kann das mit Rücksicht auf die oben schon angedeuteten praktischen Abgrenzungsschwierigkeiten nicht als sachwidrig angesehen werden. Gegen eine Ausdehnung des Anspruchs auf alle medizinisch begründbaren Behandlungsfälle, in denen dem Versicherten weder mangelnde Zahnpflege noch Untätigkeit trotz einer frühzeitig erkennbaren Behandlungsnotwendigkeit entgegengehalten werden kann, sprechen ähnliche Gründe. Denn nach Jahren oder Jahrzehnten sind die im Jugendalter gesetzten Bedingungen für eine im Erwachsenenalter diagnostizierte Fehlstellung in aller Regel nicht mehr verläßlich festzustellen.
Sonstige Grundrechte der Klägerin sind ebenfalls nicht verletzt. Wie das Bundesverfassungsgericht zuletzt mit Beschlüssen vom 5. März 1997 (ua 1 BvR 1071/95 = NJW 1997, 3085 = Breith 1997, 764) erneut bekräftigt hat, ergibt sich aus der Verfassung kein Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung oder Finanzierung bestimmter Gesundheitsleistungen. Bei der Festlegung des Umfangs des Krankenbehandlungsanspruchs durch die Leistungsgesetze hat der Gesetzgeber infolgedessen einen weiten Gestaltungsspielraum.
Da die Vorinstanzen den Anspruch der Klägerin zu Unrecht bejaht haben, hat der Senat ihre Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1173360 |
BSGE 81, 245 |
BSGE, 245 |
NZS 1998, 525 |
SGb 1999, 255 |
SozR 3-2500 § 28, Nr.3 |
SozSi 1998, 437 |