Entscheidungsstichwort (Thema)
Untersagung von Arbeitskampfmaßnahmen durch einstweilige Verfügung wegen Verletzung der tariflichen Friedenspflicht. Verhältnis Firmen-/Verbandstarifvertrag. Tarifvertrag Nahverkehrsbetriebe Bayern (TV-N Bayern)
Leitsatz (amtlich)
1. Die örtliche Zuständigkeit eines Arbeitsgerichts für die Entscheidung über den Erlass einer einstweiligen Verfügung wegen Verletzung der tariflichen Friedenspflicht richtet sich nach dem Ort, an dem die Friedenspflicht zu erfüllen ist.
2. Hat das Arbeitsgericht ohne mündliche Verhandlung über den Erlass einer einstweiligen Verfügung entschieden, so ergeht die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts über eine dagegen gerichtete sofortige Beschwerde durch Endurteil, wenn im Rahmen des Beschwerdeverfahrens eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat.
3. Die Entscheidung über die sofortige Beschwerde im einstweiligen Verfügungsverfahren durch das Landesarbeitsgericht ergeht ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter.
4. Besteht neben einem Firmentarifvertrag ein Verbandstarifvertrag über denselben Regelungsgegenstand, kommt es innerhalb tarifgebundener Arbeitsverhältnisse zur Tarifkonkurrenz, welche nach dem Spezialitätsprinzip grundsätzlich durch einen Vorrang des Firmentarifvertrags aufgelöst wird (im Anschluss an BAG vom 04.04.2001 – 4 AZR 237/00 – AP Nr. 26 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz).
5. Haben Tarifvertragsparteien in einem Firmentarifvertrag Gegenstände geregelt, die zu den Hauptforderungen einer beim Abschluss des Firmentarifvertrags beteiligten Gewerkschaft gehören, die gegen einen Arbeitgeberverband gerichtet werden, dem der Arbeitgeber des Firmentarifvertrags angehört, so verstoßen die gegen diesen Arbeitgeber im Hinblick auf den Abschluss eines Verbandstarifvertrages eingeleiteten Arbeitskampfmaßnahmen gegen die aus dem ungekündigten Firmentarifvertrag resultierende tarifliche Friedenspflicht.
6. Die Verletzung der tariflichen Friedenspflicht und die Verfolgung rechtswidriger Ziele hat die Rechtswidrigkeit des gesamten Streiks jedenfalls dann zur Folge, wenn es sich bei den die Friedenspflicht verletzenden Forderungen um Hauptforderungen handelt (im Anschluss an BAG vom 10.12.2002 – 1 AZR 96/02 – AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf).
7. Arbeitskampfmaßnahmen, die unter Verstoß gegen die tarifliche Friedenspflicht durchgeführt werden, können durch einstweilige Verfügung untersagt werden; der hierfür erforderliche Verfügungsgrund ist nur zu bejahen, wenn aufgrund einer umfassenden Interessenabwägung schwerwiegende Interessen für den Erlass einer einstweiligen Verfügung sprechen.
8. Die einstweilige Verfügung kann sich gegen eine gewerkschaftliche Dachorganisation ohne eigene Gewerkschaftsmitglieder richten, wenn diese Dachorganisation zum Streik aufruft.
9. Gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts über eine sofortige Beschwerde im einstweiligen Verfügungsverfahren gibt es kein Rechtsmittel.
Normenkette
GG Art. 9 Abs. 3; TVG § 2 Abs. 2-4; ArbGG § 62 Abs. 2, § 72 Abs. 4, § 78 S. 3; ZPO §§ 29, 922 Abs. 1 S. 1, § 935
Verfahrensgang
ArbG Nürnberg (Beschluss vom 14.09.2010; Aktenzeichen 4 Ga 60/10) |
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde der Verfügungsklägerin wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 14.09.2010, Aktenzeichen 4 Ga 60/10, in der Fassung des Nichtabhilfe- und Vorlagebeschlusses vom 20.09.2010 in Ziffer 1 und 2 teilweise abgeändert und insoweit neu gefasst.
2. Der Rechtsstreit hat sich hinsichtlich der Anträge zu I und II der Antragsschrift vom 14.09.2010 erledigt.
3. Der Verfügungsbeklagten wird untersagt, Arbeitnehmer der Verfügungsklägerin im Zeitraum bis 14.10.2010 zu Streiks, Warnstreiks und sonstigen Arbeitsniederlegungen aufzurufen und im Zeitraum bis 14.10.2010 Streiks, Warnstreiks und sonstige Arbeitsniederlegungen durchzuführen.
4. Der Verfügungsbeklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die vorstehenden Unterlassungspflichten ein Ordnungsgeld bis zur Höhe von EUR 250.000,– angedroht.
5. Im Übrigen werden die Anträge und die weitergehende Beschwerde zurückgewiesen.
6. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
7. Die Zustellung der gerichtlichen Entscheidung zur Nachtzeit sowie an Sonn- und Feiertagen wird zugelassen.
Tatbestand
Die Verfahrensbeteiligten streiten im Wesentlichen um die Untersagung von Arbeitskampfmaßnahmen der Verfügungsbeklagten gegenüber der Verfügungsklägerin durch Erlass einer einstweiligen Verfügung.
Die Verfügungsklägerin ist ein Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs mit Sitz in N.; sie bietet ihre Verkehrsdienstleistungen im Raum N. an. Als Mitglied des K. Ar.verband B. unterliegt sie der Geltung des unter anderem zwischen diesem Verband und der Verfügungsbeklagten abgeschlossenen Tarifvertrag Nahverkehrsbetriebe B. (TV-N B.) vom 18.08.2006 in der Fassung vom 05.05.2009. Dieser Tarifvertrag wurde von der Verfügungsbeklagten zum 30.06.2010 gekündigt.
Der zwischen den Verfahrensbeteiligten abgeschlossene Örtliche Tarifvertrag Fahrdienst vom 16.09.2008 (TV-Fahrdiens...