Martin Henssler über das Arbeitszeitgesetz: "Kein zukunftsfähiges Konzept"
Haufe Online-Redaktion: Herr Professor Henssler, sind unsere arbeitsrechtlichen Regeln allgemein gewappnet für die künftigen Anforderungen durch neue Arbeitsformen?
Martin Henssler: Klares Nein. Das Arbeitsrecht ist keinesfalls auf Arbeiten 4.0 – also auf die Digitalisierung, Flexibilisierung, die neuen Arbeitsweisen und die Bedürfnisse der Mitarbeiter – ausgerichtet. Die ganzen modernen, neuartigen Arbeitsformen werden bei uns vom Gesetz nicht sachgerecht erfasst. Das beste Beispiel dafür ist das Arbeitszeitgesetz.
Arbeitsrecht-Professor Henssler: „Das Arbeitsrecht ist keinesfalls auf Arbeiten 4.0 ausgerichtet.“
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Haufe Online-Redaktion: Wo wäre da anzusetzen?
Henssler: Ausgangspunkt ist die europäische Richtlinie, nur in diesem Rahmen können wir agieren. Die Richtlinie sieht grundsätzlich eine 48-Stunden Woche vor. Dabei ist interessant, dass ein sogenanntes Opt-out zugelassen ist. Der Arbeitgeber soll also – wenn der Arbeitnehmer einverstanden ist – abweichen können. Immer mehr EU-Mitgliedsstaaten machen, gerade vor dem Hintergrund der neuartigen Rahmenbedingungen, von diesem Opt-out in irgendeiner Form Gebrauch. Sie erkennen, dass eine rigide 48-Stunden-Woche nicht mehr zeitgemäß ist.
Haufe Online-Redaktion: Ist ein Opt-out auch für Deutschland vorstellbar?
Henssler: Für Deutschland wäre ein solches Opt-out eine sehr radikale Lösung, die sich auf absehbare Zeit kaum umsetzen lässt. Das Gegenargument der Gewerkschaften in diesem Zusammenhang: Man könne nicht pauschal darauf vertrauen, dass sich Arbeitnehmer wirklich autonom entscheiden und sich vernünftige Arbeitsbedingungen aussuchen können. Das stimmt bei manchen Tätigkeiten, aber es gibt eben auch viele Beschäftigte, gerade im Bereich der hochqualifizierten Wissensmitarbeiter, die sehr wohl wissen, was in ihrem Interesse ist, die nachgefragt sind und die ihre Arbeitsbedingungen auch weitgehend diktieren können.
Haufe Online-Redaktion: Was wären konkrete Punkte, die es zu ändern gilt?
Henssler: Wir brauchen mehr Flexibilität bei der momentanen Höchstarbeitszeit von zehn Stunden pro Tag. Diese Regelung ist in vielen Bereichen zu starr. Stellen Sie sich einen großen internationalen Deal vor, an dem verschiedene internationale Anwaltskanzleien beteiligt sind. Die Verhandlungen gehen in die heiße Phase, als plötzlich alle deutschen Anwälte aufstehen und – weil sie bereits zehn Stunden gearbeitet haben – nach Hause gehen. Undenkbar! Hier muss es Abweichungen geben können. Auf jeden Fall benötigen wir tarifliche Öffnungen, und noch mehr. Denn für angestellte Unternehmensberater oder Rechtsanwälte gibt es ja keine Tarifverträge.
„Wir brauchen mehr Flexibilität bei der momentanen Höchstarbeitszeit von zehn Stunden pro Tag.“ (Prof. Henssler)
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Haufe Online-Redaktion: Wieder andere Regelungen gelten ja auch für die Arbeitszeit der Beamten?
Henssler: Genau, nehmen Sie demgegenüber die Arbeitszeitregeln für Bundesbeamte, die eine Höchstarbeitszeit von 13 Stunden vorsehen. Warum eigentlich? Oder die Arbeitszeitverordnung für Beamte in Nordrhein-Westfalen: Dort sind die zehn Stunden nur als Soll-Vorschrift ausgestaltet, es gilt die 48-Stunden-Woche. Das ist in sich nicht konsistent: Wenn man darauf beharrt, dass mehr als zehn Stunden pro Tag nicht zumutbar sind, warum geht es dann bei den Beamten? Natürlich ist die Herausforderung für den Gesetzgeber, dass die Höchstarbeitszeit nicht einfach komplett gestrichen werden kann. Nehmen Sie den Arbeiter in der Gießerei: Für eine körperlich so anstrengende Arbeit sind zehn Stunden bereits zu viel. Daher ist ganz klar, dass wir stärkere branchen- und tätigkeitsbezogene Öffnungen brauchen.
Haufe Online-Redaktion: Auch die Ruhezeit ist oft ein Thema. Was ist hier Ihr Vorschlag?
Henssler: Pauschal elf Stunden Ruhezeit, wie wir es momentan haben, sind zu starr. Wir brauchen eine Ruhezeit von elf Stunden im 24-Stunden-Zeitraum, wie es die EU-Richtlinie zulässt. Zudem sollte es in Sonderfällen möglich sein, die Ruhezeit auf acht Stunden zu verkürzen – solange innerhalb eines Ausgleichszeitraums die durchschnittliche werktägliche Ruhezeit von elf Stunden gewährleistet ist.
Haufe Online-Redaktion: Sehen Sie noch weitere Anpassungen des Arbeitszeitgesetzes?
Henssler: Der Bereich der Aufzeichnungspflichten ist momentan sehr streng geregelt, indem jede Überschreitung des Acht-Stunden-Tags aufgezeichnet und vom Arbeitgeber kontrolliert werden muss. Das ist absurd, gerade im Bereich der Vertrauensarbeitszeit, wo meiner Ansicht nach eine Aufzeichnungspflicht bei Überschreiten der 48-Stunden-Woche genügen würde. Der angestellte Anwalt entscheidet sowieso selbst, ob er weiterarbeiten will oder nach Hause geht. Hier geht die viel zu formalistische Aufzeichnungspflicht an der Realität vorbei.
Professor Dr. Martin Henssler ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Universität zu Köln.
Das Interview führte Michael Miller, Redaktion Personal.
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