Im Stich gelassen hat man uns Arbeitsrechtler mit dem Thema "Arbeitszeitgutachten". Die alten Koalitionäre haben zwei "Schlechtachten" fertigen lassen. Der geneigte Leser dieser Pamphlete fragte sich, weshalb sie "Gutachten" hießen und weshalb man - offenbar zumindest - dafür auch noch bezahlen musste. Wären es Werkverträge gewesen – ich hätte sie nicht abgenommen. Beide sind an den Anforderungen, die der europäische Gerichtshof aus der Arbeitszeitrichtlinie entwickelte, deutlich vorbeigeschrammt. Und nicht einmal der Redensart "Wes Brot ich ess, des Lied ich sing" sind sie gerecht geworden.
Warum? Der EuGH hat klar geurteilt, dass den Mitgliedsstaaten ein breiter Entscheidungsbereich bleibt, für den es keine Arbeitszeitaufzeichnungen braucht. Wo diese Ausnahmen nicht gelten, muss aufgezeichnet werden – Beginn, Ende, Pause. Die Gutachten der alten Koalition hatten diese Option gründlich verpeilt. Dann aber auch noch, trotz zweier im Kern gleichlautender Gutachten, keine Einigung zu finden … den Steuerzahler reut's!
Wie wird die neue Koalition den Arbeitnehmer im Blick haben?
Die neue Koalition wird es nun in der Hand haben: Will sie die Arbeitnehmer gängeln oder lässt sie (im Wesentlichen den Betriebsparteien) Raum für Gestaltungen? Eine Ausnahmeregelung wie "durch Betriebsvereinbarung können Arbeitszeitmodelle vereinbart werden, die einer exakten Aufzeichnung nicht bedürfen, insbesondere für außertarifliche Beschäftigte, Mitarbeiter im Außendienst und Beschäftigte im Homeoffice. Zudem können die Betriebsparteien Vertrauensarbeitszeitkonten vereinbaren, die einer genauen Aufzeichnung von Arbeitsbeginn und Arbeitsende nicht bedürfen; eine wöchentlich saldierte Eigenaufzeichnung ist in diesen Fällen ausreichend" sollte meiner Einschätzung nach zulässig sein.
Für Außendienstler wäre das unbedingt notwendig. Weil ein (elektronisch freilich mögliches) ständiges Ein- und Ausstechen unzumutbar ist. Weil ein ständiges Ein- und Ausstechen fehleranfällig ist. Und weil Fehler auch zulasten des Beschäftigten gehen können (Stichwort "Arbeitszeitbetrug").
Für außertariflich Beschäftigte wäre das zulässig. Weil die ratio legis, also Zweck und Ziel des Gesetzes, neben Arbeitsschutz insbesondere auch Vergütungsgerechtigkeit ist. Und Beschäftigte mit einem Verdienst über der Beitragsbemessungsgrenze – also in der Regel außertariflich Beschäftigte – haben keinen Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung (BAG, Urteile vom 22.2.2012 und vom 14.12.2011, Az. 5 AZR 765/10 und 5 AZR 406/10). Folgerichtig ist auch keine Aufzeichnung der Arbeitszeit aus Vergütungsgründen erforderlich.
Ist das need-to-know-Prinzip im Homeoffice überhaupt zulässig?
Auch bei mobiler Arbeit und bei Vertrauensarbeitszeit ist eine Ausnahme unabdingbar. Gerade die Freiheiten im Homeoffice und die mit Vertrauensarbeitszeit verbundenen Freiheiten rechtfertigen sachlich eine Herausnahme aus der Arbeitszeiterfassungspflicht. Klar, technisch ginge das, auch mit der Erfassung – aber was wäre der Sinn eines ständigen Ein- und Ausstechens? Dass der Arbeitgeber weiß, wie intensiv Plauderpausen gemacht werden? Im Betrieb sieht man das sowieso – aber außer Haus, ist das nötig? Nein, man müsste sogar fragen, ob nach dem need-to-know-Prinzip der Datenschutzgrundverordnung solch detaillierte Aufzeichnungen überhaupt zulässig sind.
Nun spielen zwei an sich liberale Parteien im Koalitionskonzert mit. Wer "legalize it" sagt (Sie wissen schon, was …), der kann doch nicht für Überregulierungen sein? Der muss doch Freiheiten – hier die der Beschäftigten – unterstützen? Nun, wie es aussieht wird keine dieser Parteien den Arbeitsminister oder die Arbeitsministerin stellen. Schade eigentlich, denn beim bisherigen Amtsinhaber war ja eher Stillstand angesagt (abgesehen von den freilich sinnvollen Kurzarbeitsregelungen!). Und deshalb: In den Koalitionsvertrag damit!
Sinnvolle Regelungen im Arbeitsschutz sind gefragt
Und wenn wir schon bei – allgemein bekannt - meinem Lieblingsthema, der Deregulierung sind, dann bitte regelt den Arbeitsschutz im Arbeitszeitgesetz so, dass er Sinn macht! Dass Arbeiter, die acht Stunden am Tag auf Baustellen schuften, elf Stunden Ruhepause einhalten müssen, das macht Sinn, ob im Jahr 1900 oder im Jahr 2022. Bei Büroangestellten macht das keinen Sinn, gestern in der alten Welt vielleicht einmal, aber heute in der neuen Welt nicht mehr – eine saldierte Höchstarbeitszeit, eine saldierte Ruhezeit je Woche, insbesondere soweit Beschäftigte die Lage ihrer Arbeitszeit im Wesentlichen frei wählen können, das macht Sinn! Das ist familienfreundlich, ermöglicht Flexibilität auch für das Privatleben und macht noch mehr Teilhabe am sozialen Leben möglich.
Deregulierung heißt nicht "Versuchsräume für Arbeitszeit", für die ein Tarifvertrag, im Rahmen des Tarifvertrages eine Betriebsvereinbarung, und im Rahmen der Betriebsvereinbarung dann Freiwilligkeit besteht. Das ist nicht Deregulierung, sondern die Anhäufung von Transaktionsaufwänden in extrem hohem Maße. Freiwillig oder durch Betriebsvereinbarung oder durch Tarifvertrag – das ist es, was der Arbeitsrechtspraktiker braucht, um sinnvoll arbeiten zu können.
Kein "Weiter so!" mehr
Ich wiederhole mich, ich weiß. Macht aber nichts: Natürlich hoffe ich, dass die neue Regierung das lesen wird. Am besten, bevor der Koalitionsvertrag unterschrieben wird. Und dass sie das bei ihrer Arbeit in den nächsten vier Jahren auch beherzigen wird. Denn "Weiter so" geht beim besten Willen nicht mehr!
P.S.: Die Liste der Wünsche und Forderungen der Arbeitsrechtspraktiker wird in den nächsten Monaten fortgesetzt. Ich gebe keine Ruhe!
Unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller, Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU) sowie Vorstand und Arbeitsdirektor bei ABB, blickt in seiner Kolumne aus der Unternehmenspraxis auf arbeitsrechtliche Themen und Trends.