Rechtsmissbrauch bei Kettenbefristungen

In 17 Jahren 88 Zeitverträge: Mit dem Fall einer Postzustellerin sind zeitlich befristete Arbeitsverträge zuletzt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Wie mehrfache Befristungen über Jahre hinweg rechtlich einzuordnen sind, erklärt der Arbeitsrechtler Henning Horst.

Haufe Online-Redaktion: Herr Horst, vor einigen Wochen wurde über eine Postzustellerin diskutiert, die über 17 Jahre hinweg auf Grundlage von 88 Zeitverträgen bei der Deutschen Post AG angestellt war. Sind solche Befristungen überhaupt möglich?

Henning Horst: Mit ähnlich gelagerten Fällen hatte sich das Bundesarbeitsgericht in der Vergangenheit bereits zu befassen. Im Fall einer Justizangestellten, die aufgrund von 13 befristeten Verträgen mehr als elf Jahre ununterbrochen beim Land NRW angestellt und zur Vertretung anderer Mitarbeiter tätig war, hat das BAG mit Urteil vom 18. Juli 2012 darauf hingewiesen, dass auch die an sich unbeschränkte Sachgrundbefristung eines Arbeitsvertrags nicht rechtsmissbräuchlich sein dürfe. Insoweit seien sämtliche Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigten, insbesondere die Gesamtdauer und Anzahl der in der Vergangenheit geschlossenen aufeinander folgenden befristeten Verträge.

Haufe Online-Redaktion: Waren also, zumindest in diesem Fall, 13 Befristungen in elf Jahren rechtsmissbräuchlich?

Horst: Im Grundsatz ja. Im entschiedenen Fall sei nach Auffassung des BAG eine Rechtsmissbräuchlichkeit an sich bereits aufgrund der Gesamtdauer und Anzahl der Befristungen indiziert. Der Arbeitgeber kann jedoch diesen an sich indizierten Missbrauch noch ausräumen, wenn er dazu geeignete und besondere Umstände darlegt. Andererseits entschied das BAG auch einen Fall einer Verkäuferin, die durchgehend fast acht Jahre aufgrund von vier jeweils befristeten Arbeitsverträgen bei einem Einzelhandelsunternehmen tätig war – wobei der letzten Befristung der Sachgrund der Vertretung zugrunde lag: Hier sah das BAG keine Anhaltspunkte für einen Rechtsmissbrauch. Wie im Falle der Postzustellerin entschieden worden wäre, ist offen. Der Rechtsstreit konnte unserer Kenntnis im Wege eines Vergleichs gütlich beigelegt werden.

Haufe Online-Redaktion: Lässt sich nach alledem überhaupt sagen, wie oft und bis zu welcher Höchstdauer Arbeitsverträge beim gleichen Arbeitgeber zeitlich befristet werden können?

Horst: Absolute Aussagen sind da schwierig und es ist hierbei streng zu differenzieren. Liegt bei einer Neueinstellung kein sachlicher Grund für eine zeitliche Befristung des Arbeitsvertrags vor, ist eine Befristung gemäß § 14 Abs. 2 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes regelmäßig nur bis zur Gesamtdauer von zwei Jahren zulässig. Zudem ist bis zu dieser Gesamtdauer die höchstens dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrages möglich. Hiervon gibt es nur wenige Ausnahmen, so zum Beispiel im Rahmen tariflicher Regelungen. Anders ist dies, wenn ein anerkannter sachlicher Grund für eine kalendermäßige Befristung vorliegt. Explizit sieht das Gesetz bei Sachgrundbefristungen derzeit keine Höchstgrenzen zur Dauer oder Anzahl zeitlicher Befristungen vor. Die Rechtsprechung hat lediglich besagte Grenze des Rechtsmissbrauchs gezogen.

Haufe Online-Redaktion: Welche Gründe für eine Sachgrundbefristung kommen in der Praxis häufig vor?

Horst: Sachliche Gründe, welche die Befristung eines Arbeitsverhältnisses rechtfertigen können, sind vielfältig und in den gesetzlichen Bestimmungen nicht abschließend benannt. Die wesentlichen Sachgründe sind in den gesetzlichen Bestimmungen unter § 14 Abs. 1 S. 2 Teilzeit- und Befristungsgesetz und § 21 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz aufgeführt. Überwiegend werden Arbeitsverhältnisse bei Vertretungsfällen oder bei einem nur vorübergehenden Beschäftigungsbedarf zeitlich befristet.

Haufe Online-Redaktion: Was sind aus Ihrer Erfahrung wesentliche Gründe dafür, dass Arbeitgeber die Möglichkeit nutzen, über Jahre hinweg zeitlich zu befristen?

Horst: Arbeitgeber wünschen sich natürlich größtmögliche Flexibilität, um auf einen schwankenden Arbeitsanfall in Boom- oder Krisenzeiten reagieren zu können. Häufig soll mit befristet eingestellten Arbeitnehmern aber auch ein vorübergehender oder dauerhafter Vertretungsbedarf abgedeckt werden. Hier bieten sich befristete Arbeitsverhältnisse an, zumal andere Gestaltungsmöglichkeiten weiter beschränkt werden. So ist zum Beispiel ein dauerhafter Einsatz von Leiharbeitnehmern, wie er häufig gang und gäbe war, nach aktueller und wohl auch künftiger Rechtslage nicht mehr gestattet.

Henning Horst ist Fachanwalt für Arbeitsrecht in der Arbeitsrechtskanzlei Reckler & Horst.

Das Interview führte Michael Miller, Redaktion Personal.


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