Diskriminierung wegen sozialer Herkunft im Arbeitsalltag

Als Gründerin von "Netzwerk Chancen" setzt sich Natalya Nepomnyashcha für bessere Karrierechancen von Menschen ein, die wie sie aus einem nichtakademischen oder finanzschwachen Elternhaus kommen. Wir sprachen mit ihr darüber, was Unternehmen tun können, um Diskriminierung nach sozialer Herkunft zu verhindern.

Haufe Online-Redaktion: Wenn von Diskriminierung nach sozialer Herkunft die Rede ist: Was heißt das im Arbeitskontext genau?

Natalya Nepomnyashcha: Das beginnt meistens beim Recruiting. Menschen, die in Armut aufgewachsen sind oder in einem nichtakademischen Haushalt, haben bei der Personalauswahl oft das Nachsehen, weil der persönliche Eindruck nicht stimmt. Da heißt es, sie seien zu unsicher, der Lebenslauf nicht geradlinig genug. Oft haben sie einfach nicht den richtigen "Stallgeruch", also nicht die erwarteten sozialen Verhaltensweisen oder Gesprächsthemen. Wir hören häufig, dass soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger gefragt werden: "Warum haben Sie so lange studiert?". Das heißt, dass die Recruiterinnen und Recruiter sich von unbewussten Vorurteilen leiten lassen, weil sie sich gar nicht damit beschäftigt haben, welche Hürden diese Menschen nehmen mussten. Viele Betroffene müssen neben der Ausbildung in Vollzeit arbeiten, erfahren kaum Unterstützung oder Mentoring und haben wenig hilfreiche berufliche Kontakte.

Soziale Herkunft ist ein Diskriminierungsmerkmal

Haufe Online-Redaktion: Gibt es verlässliche Zahlen dazu, wie verbreitet Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft ist?

Nepomnyashcha: Nicht sehr viele. Es gibt eine Studie des Soziologen Michael Hartmann, die zeigt, dass 80 Prozent der CEOs der 100 größten deutschen Unternehmen aus privilegierten Verhältnissen stammen – etwa den obersten 4 Prozent der Gesellschaft. Es gibt eben nicht nur für Frauen eine gläserne Decke, sondern auch für Menschen, die aus sozial benachteiligten Familien kommen. In UK spricht man von "Class Ceiling". Hierzulande fehlen aber noch viele Daten, um das besser zu belegen.

Es gibt eben nicht nur für Frauen eine gläserne Decke, sondern auch für Menschen, die aus sozial benachteiligten Familien kommen. In UK spricht man von "Class Ceiling". - Natalya Nepomnyashcha, Netzwerk Chancen


Haufe Online-Redaktion: Netzwerk Chancen setzt sich seit Jahren für die Anerkennung von sozialer Herkunft als Diskriminierungsmerkmal ein. Inzwischen hat die Charta der Vielfalt diese als Kriterium aufgenommen. Inwiefern ist das schon in Unternehmen angekommen?

Nepomnyashcha: Die meisten haben das noch nicht auf dem Schirm. Ich kenne kein Unternehmen in Deutschland, das wirklich systematisch erhebt, wie viele soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger sie auf welchem Level haben. Oder das abfragt, wie sich sozial Aufsteigende im Vergleich zu anderen Mitarbeitenden in bestimmten Situationen fühlen und wie sie ihr Umfeld wahrnehmen. Nur so kann man aber herausfinden, wo diese Personen in ihrer Karriere vor allem hängenbleiben und was genau in der eigenen Organisation die Gründe dafür sind. Bei Frauen haben wir die Diskriminierungspyramide schwarz auf weiß. Wir wissen, dass sie in unteren Führungsleveln gut vertreten sind, aber der Anteil spätestens zwei oder drei Ebenen unter dem Vorstand rapide abnimmt. Es gibt zumindest die Grundlage, um dagegen anzugehen. Bei sozialem Aufstieg fehlen diese Informationen einfach komplett.

Unternehmen sollten offener sein für Quereinstiege

Haufe Online-Redaktion: Warum unterschätzen Unternehmen Ihrer Ansicht nach die Bedeutung von sozialer Herkunft?

Nepomnyashcha: Ich höre von Unternehmen oft das Totschlagargument: Wie kann man jemanden für etwas diskriminieren, das man nicht sieht. Kann man eben sehr wohl. Indem man zum Beispiel nicht wahrnimmt, was diese Personen leisten mussten, um gut qualifiziert zu sein. Als Netzwerk Chancen versuchen wir das zu verbessern, indem wir Menschen aus sozial benachteiligten Familien Unterstützung und Beratung bieten. Aber viele mussten sich das selbst erarbeiten und haben auf dem Weg viel Zurückweisung erfahren. 

Haufe Online-Redaktion: Wie könnten Arbeitgebende das besser adressieren?

Nepomnyashcha: Zunächst sollten sie stärker auf die Fähigkeiten schauen und weniger auf Abschlüsse. Wenn sich jemand auf einen Job in der PR bewirbt, muss die Person nicht unbedingt Kommunikation studiert haben. Natürlich gibt es zum Beispiel im rechtlichen Bereich Berufe, die bestimmte formale Qualifikationen voraussetzen. Aber Zertifikate und Noten spielen bei vielen Einstellungen eine Rolle, wo das gar nicht nötig wäre. Wenn Unternehmen mehr auf die Kompetenzen schauen würden, käme dies sozialen Aufsteigerinnen und Aufsteigern zugute. Denn viele müssen einfach anfangen, irgendwo zu arbeiten und so die Chance bekommen, ihr Können unter Beweis zu stellen. Wenn Unternehmen mehr Quereinstiege ermöglichten, hätten die Betroffenen es leichter, ihren Stärken nachzugehen und sie auszubauen.

Unternehmen sollten die Kandidatinnen und Kandidaten auch im Kontext beurteilen – in Bezug auf Lebensumstände, Qualifikation und Noten. In UK ist dieser Ansatz unter dem Stichwort "Contextual Admissions" an Universitäten schon verbreitet.

Aber Zertifikate und Noten spielen bei vielen Einstellungen eine Rolle, wo das gar nicht nötig wäre. Wenn Unternehmen mehr auf die Kompetenzen schauen würden, käme dies sozialen Aufsteigerinnen und Aufsteigern zugute. - Natalya Nepomnyashcha, Netzwerk Chancen


Haufe Online-Redaktion: Was bedeutet "Contextual Admissions" genau?

Nepomnyashcha: Das heißt, dass bei der Zulassung auch Kriterien wie Wohnort, besuchte Schule, finanzielle Schwierigkeiten, geleistete Sorgearbeit oder andere Barrieren berücksichtigt werden. Wer sich bewirbt, kann freiwillig angeben, aus der Working Class oder einer finanzschwachen Familie zu kommen. Die Noten werden dann anders bewertet oder man bekommt Extrapunkte für soziale Kriterien. Wir brauchen eine kontextabhängige Leistungsbewertung. Ich selbst habe kein Gymnasium besucht und nur über Umwege einen Master in Internationalen Beziehungen absolvieren können. Dass ich mit 22 Jahren ohne Abitur und Bachelor schon so einen Abschluss hatte, hat bei meinem Berufseinstieg kaum jemanden fasziniert. Die Unternehmen haben nicht überlegt, welche Fähigkeiten und Kompetenzen ich durch diesen Weg wohl erworben habe. Sie haben darauf geschaut, was ich nicht habe: einschlägige praktische Erfahrungen und berufliche Kontakte.

(Anm. d. Redaktion: Mehr dazu lesen Sie in Natalya Nepomnyashchas Erfahrungsbericht in Personalmagazin, Ausgabe 12/2023 mit dem Titelthema "Das Diversity-Desaster".)

Contextual Admission: Bewerbende im Gesamtkontext beurteilen

Haufe Online-Redaktion: In gewisser Weise beinhalten "Contextual Admissions" also eine Form der positiven Diskriminierung, die der negativen entgegenwirken soll…

Nepomnyashcha: Ja, das ähnelt dem Konzept der Affirmative Action, das in den USA entstanden ist und Diskriminierung sozialer Gruppen durch gezielte Vorteilsgewährung entgegenwirken soll.

Haufe Online-Redaktion: Stößt das nicht auf Vorbehalte in Unternehmen?

Nepomnyashcha: Mir geht es erst mal darum, dass Unternehmen überhaupt in diese Richtung denken. Dass die Verantwortlichen fürs Recruiting für die Hürden von sozialen Aufsteigerinnen und Aufsteigern sensibilisiert werden und etwa ein langes Studium nicht zwangsläufig negativ werten.

Haufe Online-Redaktion: Haben Unternehmen dabei datenschutzrechtliche Probleme zu befürchten?

Nepomnyashcha: Wenn man an Daten zur sozialen Herkunft interessiert ist, tut man gut daran, diese anonym und auf freiwilliger Basis abzufragen. Im Recruiting ist das natürlich nicht so einfach. Und auch bei der Belegschaft muss man vorsichtig vorgehen, wenn man dazu Informationen erheben möchte. Manche Unternehmen fragen in Mitarbeitendenbefragungen heute aber zum Beispiel auf anonymer und freiwilliger Basis schon: "Würden Sie sagen, dass Sie einen Migrationshintergrund haben?" Das kann man dann mit den allgemeinen Zufriedenheitswerten abgleichen. Das Gleiche müsste man beim Thema soziale Herkunft machen. In individuellen Fällen und Gesprächen hilft es auch, einfach den Raum dafür zu geben, Menschen ihre Geschichte erzählen zu lassen, wenn sie sich damit wohl fühlen und das möchten. Ich bin mir sicher: Die datenschutzrechtliche Seite ist nicht das Hauptproblem, warum wir absolut keine Informationen dazu in Unternehmen haben.

Mir geht es erst mal darum, dass Unternehmen überhaupt in diese Richtung denken. Dass die Verantwortlichen fürs Recruiting für die Hürden von sozialen Aufsteigerinnen und Aufsteigern sensibilisiert werden und etwa ein langes Studium nicht zwangsläufig negativ werten. - Natalya Nepomnyashcha, Netzwerk Chancen


Haufe Online-Redaktion: Wo liegt das Hauptproblem dann?

Nepomnyashcha: Unternehmen haben zu wenig Interesse an unserer Zielgruppe oder schätzen sie falsch ein. Deshalb wird zu wenig in das Thema investiert. Das haben wir schon 2018 gemerkt, als wir mit Netzwerk Chancen und dem Thema gestartet sind. Wir haben uns von Anfang an aufs Berufsleben fokussiert – von der Vorbereitung und dem Einstieg über die ersten Berufsjahre bis hin zum Aufstieg als Führungskraft. Das unterscheidet uns von anderen Initiativen, die sich auf die Wege von Schule bis zur Uni konzentrieren. Ich bin sehr stolz darauf, dass wir soziale Herkunft als Diversity-Faktor bei der Charta der Vielfalt durchgekämpft haben. Aber das ist noch nicht genug.

Initiativen wie der Frauenbewegung oder LGBTQIA+ ist es gelungen, dass es attraktiv ist, sich mit ihren Themen zu beschäftigen. Unternehmen versprechen sich davon Reputation. Und das öffnet Türen für das Budget, das Initiativen und Strategien brauchen. Chancen entstehen nicht ohne Ressourcen – finanzieller oder personeller Natur. Die Beschäftigung mit sozialer Herkunft muss für Unternehmen sexier werden. Als Netzwerk Chancen kämpfen wir deshalb nicht nur dafür, dass sich soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger besser organisieren, sondern auch, dass eine Bewegung entsteht, die einen positiven Sog entwickelt. Da haben wir noch einen Weg vor uns. Unternehmen müssen ihre internen Prozesse überarbeiten. Das ist nichts, womit man sich nach außen schmücken kann. Und es dauert. Man sieht die Ergebnisse nicht sofort. Deshalb zeigen Unternehmen gerne bunte Logos und Fahnen, um ihre Arbeit zumindest dahingehend sichtbar zu machen. Doch über den wahren Entwicklungsstand sagt das wenig aus.

Alle sollten die Chance haben, in den Vorstand zu gelangen

Haufe Online-Redaktion: Woran merken Sie in der Zusammenarbeit mit Unternehmen, dass diese kein Interesse an der Zielgruppe der Mitglieder von Netzwerk Chancen haben?

Nepomnyashcha: Viele fragen uns beispielsweise noch heute oft, ob wir auch Frauen vermitteln. Einfach weil sie Geschlecht als einziges Diversity-Kriterium auf der Agenda haben. Zahlreiche Verantwortliche in Unternehmen glauben außerdem, dass soziale Herkunft mit Menschen ohne Schulabschluss oder mit Migrationshintergrund gleichzusetzen ist. Das sitzt wahnsinnig tief. Wie oft sagen uns Unternehmen, dass sie Azubis suchen und auch Leute ohne Schulabschluss nehmen. Dahinter steckt die Vorstellung, dass unsere Mitglieder bestimmt froh sind, wenn sie irgendeine Ausbildung bekommen. Und das hat halt nichts mit unserer Arbeit und unserer Zielgruppe zu tun. Unsere Mitglieder sind im Schnitt 30 Jahre alt, oft Young Professionals, 90 Prozent Akademikerinnen und Akademiker. Uns geht es darum, dass sie beruflich auch bis ganz nach oben kommen können. Unter unseren Mitgliedern sind viele Berufstätige und Führungskräfte, die eine Chance haben sollten, in den Vorstand zu gelangen, wenn sie das möchten. Soziale Herkunft ist nicht Charity.

Unter unseren Mitgliedern sind viele Berufstätige und Führungskräfte, die eine Chance haben sollten, in den Vorstand zu gelangen, wenn sie das möchten. Soziale Herkunft ist nicht Charity. - Natalya Nepomnyashcha, Netzwerk Chancen


Haufe Online-Redaktion: Wie viele der rund 2.200 Mitglieder von Netzwerk Chancen haben einen Migrationshintergrund?

Nepomnyashcha: Es sind konstant etwa 50 Prozent. Natürlich sind Menschen doppelt von Diskriminierung betroffen, wenn beides zutrifft, also wenn sie mehrfach benachteiligt sind. Dann ist eins plus eins nicht zwei, sondern drei. Aber es gibt eben auch sehr viele Menschen ohne Migrationshintergrund, die in Armut oder nichtakademischen Familien aufgewachsen sind. Bei uns melden sich immer wieder Leute, die fragen, warum wir keine Geflüchteten unterstützen. Dann kann ich nur sagen: Das ist ein wichtiges Thema, aber etwas komplett anderes als soziale Diversität. Wir sollten die beiden Dimensionen Migrationsgeschichte und soziale Herkunft auf keinen Fall gleichsetzen.

Soziale Herkunft und Migrationsgeschichte

Haufe Online-Redaktion: Wie unterscheidet sich Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft von Diskriminierung aufgrund einer Migrationsgeschichte?

Nepomnyashcha: Es gibt viele Menschen ohne Migrationshintergrund, die sozio-ökonomisch benachteiligt aufgewachsen sind. Und genauso gibt es Menschen mit Migrationshintergrund, die wegen ihres Namens oder weil sie einen sichtbaren Migrationshintergrund haben, Diskriminierung erfahren. Gleichzeitig können sie dennoch sozioökonomisch privilegiert sein – also zum Beispiel über finanzielles oder soziales Kapital verfügen, indem ihre Eltern ihnen etwa eine Ausbildung an sehr guten Schulen oder Universitäten ermöglichten.

Haufe Online-Redaktion: Was sind aus Ihrer Erfahrung erste Schritte, die Unternehmen gehen können, wenn sie soziale Herkunft in ihre Diversity-Strategie aufnehmen möchten?

Nepomnyashcha: Viele starten mit einem Talk von mir und machen dazu ein internes Event, um überhaupt erst mal für das Thema zu sensibilisieren. Aber dann muss man auch an der Strategie arbeiten – und zwar entlang des gesamten Employee Lifecycles. Dazu gehört wie gesagt eine gute Datenanalyse, vor allem für große Unternehmen, die sonst keine Grundlage für mögliche Diversitäts- und Inklusionsziele haben.


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Schlagworte zum Thema:  Diversity, Diskriminierung, Personalentwicklung