Psychologe: "Das Rote-Flaggen-System ist kontraproduktiv"

Der Betriebsrat der Deutschen Bank geht auf die Barrikaden, weil das Unternehmen ein neues Kontrollsystem eingeführt hat: Mitarbeiter erhalten bei Fehlverhalten eine „Rote Flagge“. Auch Professor Friedemann W. Nerdinger übt harte Kritik an diesem System.

Haufe Online Redaktion: Für wie sinnvoll erachten Sie ein System der Flaggen – wie es die Deutsche Bank eingeführt hat – in der Führung?

Friedemann W. Nerdinger: Wie das System genau aussieht, ist momentan noch nicht ganz klar. Der Betriebsrat beklagt ja die mangelnde Transparenz des Systems, auch werden scheinbar Führungskräfte, deren Mitarbeiter viele solcher Flaggen anhäufen, zur Rechenschaft gezogen. Das deutet daraufhin, dass das System von der Personalabteilung durchgeführt wird. Das lassen auch die bekannt gewordenen Beispiele vermuten, wonach zum Beispiel das Versäumnis von Schulungen damit bestraft wird. Ein solches System dient natürlich nicht der Führung, sonst müssten es die Führungskräfte den Mitarbeitern transparent machen, selber die Mahnungen aussprechen und jeden Verstoß mit ihnen besprechen. Vielmehr ist es ein System zur Kontrolle des Mitarbeiterverhaltens durch eine zentrale Abteilung. Insofern ist es nicht nur kein sinnvolles Führungsinstrument, sondern sogar kontraproduktiv, da es letztlich die Autorität der Führungskräfte untergräbt.

Haufe Online Redaktion: Gibt es Erfahrungswerte zu diesem System?

Nerdinger: In der empirischen Personalforschung ist mir dieses System noch nicht untergekommen, ich kenne es nur aus Diskussionen um die Corporate Governance. Die damit bezeichneten Regelsysteme sind ja häufig durch juristisches Denken geprägt, und das zeigt sich auch in dem System der roten Flaggen. Das ist ein Bestrafungssystem, das – wie zum Beispiel bei gestaffelten Abmahnungen – eine Kontrolle des Mitarbeiterverhaltens arbeitsrechtlich möglichst einwandfrei ermöglichen soll. Die Folgen für das Vertrauensverhältnis zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern sowie für deren Motivation werden dabei nicht berücksichtigt.

Haufe Online Redaktion: Inwiefern macht es überhaupt Sinn, das Verhalten der Mitarbeiter so transparent zu kontrollieren? Wirkt sich dies nicht negativ auf die Motivation aus?

Nerdinger: Genau das ist das Problem. Wissenschaftlich ist schon seit bald hundert Jahren eindeutig klar, dass Bestrafungen sehr viel schlechter wirken als Belohnungen. Bestrafungen – und als solche kann man das Zeigen einer roten Flagge einstufen – werden nur unter bestimmten Bedingungen wirksam. So müssen die Bestraften vor allem andere Verhaltensmöglichkeiten sehen. Das erfordert es aber, mit ihnen zu sprechen und diese Möglichkeiten aufzuzeigen. Weiter muss die Bestrafung regelmäßig und unmittelbar nach dem Auftreten des unerwünschten Verhaltens erfolgen. Da kann bei einem System, das von der Personalabteilung verwaltet wird, gar nicht klappen! Zudem ist zu bedenken, dass Bestrafungen in der Regel unerwünschte Wirkungen haben: Sie lösen negative Emotionen wie Angst, Scham oder Wut aus, die letztlich eine Verhaltensänderung verhindern. Aus all diesen Gründen ist es lernpsychologisch viel besser, erwünschtes Verhalten zu belohnen. Es kommt also darauf an, die Mitarbeiter dafür zu belohnen, wenn sie sich richtig verhalten – dann wird dieses Verhalten künftig wieder gezeigt. Das kann aber keine Personalabteilung, sondern nur ein aufmerksamer Vorgesetzter, dem die Mitarbeiter vertrauen.

Haufe Online Redaktion: Was würden Sie also stattdessen empfehlen?

Nerdinger: Will ein Unternehmen, dass sich seine Mitarbeiter in einer bestimmten Weise verhalten, dann müssen zunächst die Führungskräfte daraufhin geschult werden, welches Verhalten erwünscht ist, wie man dieses Verhalten erkennt und wie man es verstärkt. Im nächsten Schritt müssen die Führungskräfte mit den ihnen unterstellten Mitarbeitern genau besprechen, wie sie sich verhalten sollen und was auf keinen Fall akzeptiert wird. Dann müssen sie vor allem erwünschtes Verhalten belohnen – wobei häufig ein kurzes Lob genügt. Sollte tatsächlich ein problematisches Verhalten auftreten, müssen die Führungskräfte im Vier-Augen-Gespräch dem Betroffenen verdeutlichen, was falsch und inakzeptabel an seinem Verhalten war und ihm aufzeigen, was künftig von ihm erwartet wird. Nur wenn der Mitarbeiter wieder bei einem ähnlichen Fehltritt erwischt wird, kann ihm der direkt Vorgesetzte eine rote Flagge zeigen.

Prof. Dr. Friedemann W. Nerdinger hat den Lehrstuhl für ABWL: Wirtschafts- und Organisationspsychologie an der Universität Rostock inne.

Das Interview führte Kristina Enderle da Silva, Redaktion Personal.


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