Schon oft musste an dieser Stelle die Irrationalität des Personalwesens vieler Unternehmen beklagt werden. Dabei mag der Eindruck entstanden ein, dass ein rationales Vorgehen automatisch zu richtigen Entscheidungen führt. Vertreter einer intuitiven Weltsicht wird dies besonders geärgert haben. Für alle Freunde des Schamanencoachings, der Schädeldeutung oder des psychogenetischen Codes soll an dieser Stelle Abbitte geleistet werden. Nein, es ist nicht so, dass Rationalität immer auf den Pfad des Erfolgs führt.
Prognostische Validität – die Gretchenfrage der Personalauswahl
In einer Studie aus dem Jahr 2018 wurden 600 Personen befragt, die sich im Berufsalltag mit Personalauswahl beschäftigen. Die Aufgabe der Befragten war recht einfach. Für eine ganze Reihe unterschiedlicher Personalauswahlmethoden sollten sie einschätzen, wie gut sich mit der jeweiligen Methode die berufliche Leistung eines Bewerbers prognostizieren lässt. Es geht mithin um die Gretchenfrage der Personalauswahl, die sogenannte prognostische Validität.
Eine prognostische Validität von 0 Prozent bedeutet, dass die Ergebnisse des Auswahlverfahrens nichts mit der späteren Leistung im Berufsalltag zu tun haben. Dies gilt beispielsweise für die Graphologie. Wer derartige Methoden einsetzt, kann sich den Aufwand eines Auswahlverfahrens eigentlich auch sparen und gleich eine Münze werfen. Eine Validität von 100 Prozent würde hingegen bedeuten, dass man die berufliche Leistung des Bewerbers vollständig vorhersagen kann. Dies ist utopisch und lässt sich auch mit den besten Verfahren nicht realisieren.
Aussagekraft der Methoden wird massiv überschätzt ...
Die Ergebnisse der Studie erklären ein Stück weit, warum viele Unternehmen die Potentiale der Personalauswahl bei Weitem nicht nutzen:
- Praktiker schätzen die Prognosegüte der Berufserfahrung in Jahren auf fast 55 Prozent. Der reale Durchschnittswert liegt bei etwa 7 Prozent.
- Nehmen wir nicht die Dauer der Berufserfahrung in Jahren, sondern die Vielfalt der beruflichen Aufgaben, die in der bisherigen Berufslaufbahn übernommen wurde, so steigt der reale Wert auf 18 Prozent an. Praktiker glauben, dass er bei 52 Prozent liegt.
- Die in Deutschland immer noch sehr beliebten Einstellungsinterviews mit geringer oder gar fehlender Strukturierung bewegen sich de facto zwischen 4 und 14 Prozent. Die Befragten gehen von 41 Prozent aus.
- Die Prognosegüte hochstrukturierter Interviews liegt der Forschung zufolge zwischen 19 und 49 Prozent. Praktiker schätzen sie auf 47 Prozent.
- Bei Arbeitsproben liegt die Schätzung aus der Praxis bei atemberaubenden 59 Prozent. Wissenschaftlich belegt sind hingegen nur etwa 15 Prozent.
Was sagen uns diese Ergebnisse? Zunächst fällt auf, dass fast alle Methoden in ihrer Aussagekraft massiv überschätzt werden. Dies erzeugt bei den Entscheidungsträgern ein Gefühl der Sicherheit. Egal welche zwei Methoden sie miteinander kombinieren, subjektiv glauben sie, die berufliche Leistung der Bewerber zu 80 Prozent oder mehr vorhersagen zu können. Wer die Aussagekraft der eigenen Methoden derart überschätzt, handelt in gewisser Weise rational, wenn er Bewerber streng herausfiltert, die keine Berufserfahrung haben oder im unstrukturierten Interview Bauchgrummeln verursachen. Wenn der Prognosegewinn eines hochstrukturierten Interviews gegenüber einem unstrukturierten Interview in der subjektiven Wahrnehmung nur wenige Prozent beträgt, ist es rational, den sehr viel größeren Aufwand für ein hochstrukturiertes Interview zu scheuen. Dass in jeder Metastudie das hochstrukturierte Interview um ein Vielfaches aussagekräftiger ist als das unstrukturierte Interview, wissen die Betroffenen nicht und können ihre eigene Fehlentscheidung daher als solche nicht erkennen.
... und auch in die falsche Rangreihenfolge gebracht
Die Überschätzungen fallen jedoch nicht nur insgesamt sehr hoch aus, es verändert sich auch die Rangreihenfolge der Aussagekraft verschiedener Methoden. De facto ist ein hochstrukturiertes Interview sehr viel aussagekräftiger als die Dauer der Berufserfahrung. Der durchschnittliche Praktiker glaubt jedoch, es verhielte sich genau umgekehrt. Nehmen wir nun einmal an, er hätte die Wahl zwischen zwei Bewerbern. Bewerber A hat im hochstrukturierten Interview besser abgeschnitten als Bewerber B. Im Gegenzug weist B jedoch mehr Jahre an Berufserfahrung auf als A. Vor dem Hintergrund der eigenen Fehleinschätzungen entscheidet er sich rational stimmig für Bewerber B und damit objektiv für den falschen Kandidaten.
Ja, liebe Freunde der Intuition, Rationalität kann auch zu Fehlentscheidungen führen und zwar genau dann, wenn keine hinreichende Fachkompetenz vorliegt. Warum sich die Betroffenen die notwendige Fachkompetenz nicht aneignen, ist dann wohl wieder eine Frage des Gefühls.
Der Kolumnist Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.
Schauen Sie auch einmal in den Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" hinein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, wie Sie gute von schlechten Testverfahren unterscheiden, warum Manager scheitern, warum die Aussagekraft von graphologischen Gutachten ein Mythos ist oder was Sprachanalysen über die Persönlichkeit aussagen können.