"Egoisten sind nicht erfolgreicher"
Seit zehn Jahren gibt es an der LMU das Munich Experimental Laboratory for Economic and Social Sciences, kurz: Melessa. Professor Klaus Schmidt erklärt, welche Bedeutung die experimentelle Forschung in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften hat und welche neuen Erkenntnisse in der Verhaltensökonomie durch diese Forschung gewonnen werden können.
Das Bild des rationalen Homo Oeconomicus genügt nicht
Vor zehn Jahren haben Sie das Labor Melessa mit gegründet – was lässt sich aus Laborexperimenten lernen?
Klaus Schmidt: Die traditionelle Volkswirtschaftslehre geht vom Menschenbild des Homo oeconomicus aus, also von der Vorstellung, dass alle Menschen vollständig rational sind und sich immer eigennützig verhalten. Es ist offensichtlich, dass das eine Idealvorstellung ist, die dem Verhalten tatsächlicher Menschen nicht entspricht. Aber die interessante Frage ist, ob die Abweichungen von rationalem und eigennützigem Verhalten systematisch oder zufällig sind, und wie wir systematische Abweichungen in besseren Modellen abbilden können. Das Labor ermöglicht es, in einer kontrollierten Umgebung zu untersuchen, wie sich Menschen tatsächlich verhalten.
Anhand welcher Fragen wird das gemacht?
Schmidt: Ein klassisches Beispiel ist das Ultimatum-Spiel, ein einfaches Verhandlungsexperiment, in dem ein Geldbetrag, zum Beispiel zehn Euro, zwischen zwei Parteien aufgeteilt werden muss. Die Regeln sehen vor, dass nur einer der beiden einen Vorschlag machen darf, wie der Betrag aufgeteilt wird. Die andere Partei kann diesen Vorschlag annehmen oder ablehnen. Lehnt sie ab, bekommt keiner von beiden etwas. Nach der traditionellen Spieltheorie denkt derjenige, der entweder annehmen oder ablehnen kann, nur an sein eigenes Einkommen und nimmt daher jeden Betrag an, selbst wenn es nur zwei Cent wären. Der Theorie zufolge sieht die andere Partei das voraus und behält daher fast alles für sich. Doch diese theoretische Vorhersage wird im Experiment klar widerlegt: Fast die Hälfte der Versuchspersonen teilt die zehn Euro gleich auf, bestenfalls behalten sie sechs Euro und geben vier Euro ab. In den seltenen Fällen, in denen ein sehr unfairer Vorschlag gemacht wird, zum Beispiel acht Euro für mich und zwei für den anderen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass dieser abgelehnt wird und keiner etwas bekommt.
Forschung zeigt heterogene Verhaltensmuster
Warum verhalten sich die Menschen in dieser Situation scheinbar irrational?
Schmidt: Es gibt zwei Hypothesen. Die eine wäre: Die Leute sind irrational und verstehen nicht, was sie da machen. Die zweite, dass sie nicht vollkommen eigennützig sind, sondern dass Fairness und Reziprozität eine wichtige Rolle bei ihren Entscheidungen spielen. Dazu gibt es inzwischen eine umfangreiche Literatur, die zeigt, dass Fairness eine ganz wichtige Rolle spielt. Dazu haben wir auch aus München einiges beigetragen. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass nicht alle Menschen gleich sind. Es gibt einige, denen Fairness extrem wichtig ist und die jedes Angebot, das auch nur ein wenig unfair ist, ablehnen würden. Und es gibt andere, denen das egal ist und die dem Bild des Homo oeconomicus ganz gut entsprechen, weil sie sich überwiegend eigennützig verhalten. Interessant ist auch, dass diese Heterogenität des Verhaltens im Zeitverlauf stabil ist. Es ist eben nicht so, dass sich die Egoisten durchsetzen; sie sind nicht erfolgreicher. Diejenigen, die stärker auf Kooperation setzen und für die Fairness wichtig ist, schneiden in Experimenten in der Regel genauso gut ab.
Lassen sich diese Unterschiede im Verhalten an etwas festmachen, etwa dem Alter oder Geschlecht?
Schmidt: Tendenziell verhalten sich Ältere fairer und entsprechen weniger dem Modell des Homo oeconomicus als etwa Studenten. Frauen sind etwas risikoaverser als Männer, die zudem eher bereit sind, sich in eine Wettbewerbssituation hinein zu begeben – was Frauen tendenziell zu vermeiden versuchen. Das ist eine wichtige Erklärung dafür, warum es nach wie vor Unterschiede in den Karriereprofilen von Frauen und Männern gibt, obwohl Frauen inzwischen mindestens ebenso gut ausgebildet sind wie Männer.
Geben und Nehmen spielt für die Motivation wichtige Rolle
Welche weiteren konkreten Erkenntnisse gewinnen Sie aus den Experimenten?
Schmidt: Als Ökonomen fragen wir uns, wie wir das ökonomische Verhalten von Menschen beeinflussen können, sodass letztlich etwas Gutes dabei herauskommt. Zum Beispiel spielt bei der Mitarbeiter-Motivation Reziprozität eine wichtige Rolle. Wenn Mitarbeiter das Gefühl haben, ausgebeutet zu werden, hält sich ihr Arbeitseinsatz in Grenzen. Verhaltensökonomische Studien zeigen, unter welchen Umständen es besser ist, auf monetäre Anreize wie etwa Bonuszahlungen zu setzen, und wann andere Motivationsformen effektiver sind, zum Beispiel Teamarbeit, die Identifikation mit dem Unternehmen oder langfristige Karriereperspektiven.
Haben Sie weitere solch konkreter Ergebnisse für den Arbeitsalltag?
Schmidt: In einer anderen Studie haben wir zum Beispiel die Auswirkung von kleinen Geschenken untersucht. In Geschäftsbeziehungen ist es häufig der Fall, dass man etwas geschenkt bekommt – etwa als Beschaffungsmanager von Zulieferern oder als Arzt von Pharmaunternehmen. Wir haben in unserer Studie gezeigt, dass kleine Geschenke einen starken Effekt haben. Selbst, wenn die Interaktion völlig anonym ist und man weiß, dass der Schenkende nur das eigene Verhalten zu Lasten Dritter beeinflussen will, lassen sich trotzdem sehr viele Menschen davon beeinflussen. Durch ein Geschenk entsteht eine Bindung zwischen den beiden Parteien, die dazu führt, dass man sich reziprok verhält.
Lässt sich daraus die Empfehlung ableiten, Geschenke im öffentlichen Bereich zu verbieten?
Schmidt: Ja, ich bin der Meinung, dass Beamte keine, auch keine kleinen, Geschenke annehmen sollten. In öffentlichen Ämtern sollte die generelle Regel gelten, dass jeder sein Essen selbst bezahlt. Wenn man zum Essen eingeladen wird, fällt es nun mal schwerer, einen Gefallen abzuschlagen.
2017 hat der Verhaltensökonom Richard Thaler den Wirtschaftsnobelpreis erhalten, unter anderem ist mit seinem Namen der Begriff des Nudging verbunden, wonach sich das Verhalten von Menschen durch leichte „Anschubser“, wie zum Beispiel die Darstellung und Gestaltung von Entscheidungssituationen, beeinflussen lässt. Manche warnen vor Manipulation. Wie sehen Sie das?
Schmidt: Ich glaube, dass das Nudging eine wichtige und gute Idee ist. Im Gegensatz zu vielen anderen staatlichen Maßnahmen bedeutet Nudging ja nicht, dass man den Menschen etwas aufzwingt. Es gibt viele Bereiche, in denen sich mit kleinen Schubsern das Verhalten sanft beeinflussen lässt. Bei der Ernährung zum Beispiel würde ein Veggie-Day keine Wahlfreiheit lassen, alle wären gezwungen, einen Tag in der Woche vegetarisch zu essen. Beim Nudging würden nur die Salate weiter vorne platziert und dafür der fette Schweinebraten nach hinten geschoben – jeder kann immer noch selbst entscheiden, was er essen will.
Nudging kann richtige Entscheidungen ohne Bevormundung fördern
Das setzt aber voraus, dass jemand weiß, was „richtig“ ist. Ist das nicht doch manipulativ?
Schmidt: Es gibt oft überzeugende ökonomische, medizinische oder moralische Argumente dafür, dass viele Menschen mit ihrem Verhalten sich selbst oder anderen Schaden zufügen. Wir stimmen zum Beispiel alle überein, dass Altersarmut schlimm ist und vermieden werden sollte. Aber wenn man den Menschen das Sparen völlig freistellt, wird zu wenig für das Alter gespart. Die Richtung, in die die Menschen bewegt werden sollten, ist hier unstrittig. Man darf nicht vergessen: Wir haben in Deutschland traditionell in vielen Bereichen eine sehr paternalistische Politik. Jeder Arbeitnehmer ist gezwungen, einen bestimmten Anteil seines Einkommens in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen – das ist eine harte Zwangsmaßnahme. Richard Thaler hat in den USA die Initiative „Save More Tomorrow“ gestartet. Dabei können Arbeitnehmer heute die freiwillige Verpflichtung eingehen, von zukünftigen Lohnerhöhungen die Hälfte fürs Alter zu sparen. Damit wird ihnen die Möglichkeit gegeben, sich vorab zu binden – auch weil jeder selbst weiß, dass es im aktuellen Moment leichter ist, eine Entscheidung für die Zukunft zu fällen, die im Moment der Lohnerhöhung, wo man das Geld für alles Mögliche ausgeben will, schwerer fallen würde. Es wird dabei niemand zum Sparen gezwungen, es wird nur das Entscheidungsproblem so strukturiert, dass es leichter fällt, die richtige Entscheidung zu fällen. Die Bundesregierung, aber auch die englische und amerikanische Regierung, haben inzwischen eigene Abteilungen geschaffen, die versuchen, Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie bei solchen gesellschaftlichen Problemen einzusetzen.
Färben Ihre Forschungsergebnisse auch auf Ihren eigenen Alltag ab? Auf Ihrer Webseite steht etwa, dass Sie keine Geschenke annehmen …
Schmidt: Ja, es fließt schon vieles in mein Verhalten ein, wobei es oft so ist, dass mir dadurch klar wird, warum ich etwas auf eine bestimmte Art mache.
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