Digitalisierung: Gewappnet für zukünftige Rollen

Automatisierung und Digitalisierung prägen schon heute die Arbeitswelt von morgen. Doch sie bleiben für viele Führungskräfte und Beschäftigte eher vage Begriffe als konkrete Handlungsfelder. Siemens Financial Services wollte das ändern und hat in einem Projekt Anforderungsprofile für die künftigen Rollen seiner Mitarbeitenden entwickelt.

Welche Auswirkungen haben Digitalisierung und Automatisierung für das Unternehmen und welche Anforderungen stellen sie an Führungskräfte und Beschäftigte? Diesen Fragen ging Siemens mit einem Pilotprojekt bei Siemens Financial Services (SFS) nach. Denn all zu oft bleibt die Art und das Ausmaß der Veränderungen, die die technologischen Entwicklungen für Mitarbeitende bedeuten, zahlreicher Studien und Prognosen zum Trotz, unklar. Das kann zu Verunsicherung in der Belegschaft führen. Gleichzeitig erschwert es Führungskräften und Mitarbeitenden, sich auf die Anforderungen der neuen Arbeitswelt vorzubereiten. Um das zu ändern und gezielt Fähigkeiten und Kompetenzen für den Umgang mit automatisierten oder algorithmisch unterstützten Arbeitsprozessen aufzubauen, entschloss sich SFS, Jobprofile der Zukunft zu entwickeln. Dafür sollten bestehende Jobprofile mit künftigen Anforderungen abgeglichen und bei Bedarf angepasst oder erweitert werden.

Wichtig war dabei, dass die Geschäftsbereiche die Transformation aus eigenem Antrieb meistern, indem sie ihre Mitarbeitenden ermutigen, die Veränderungen mitzugestalten." SFS #Nextwork

Weiterbildungs- und Umschulungsbedarf identifizieren

Um dieses Thema proaktiv zu adressieren, hatte Siemens die HR-Initiative #Nextwork ins Leben gerufen. Hierbei arbeiten die Geschäftsbereiche und die Personalabteilung gemeinsam daran, passende Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen für Mitarbeiter zu identifizieren. Um die Geschäftsbereiche bestmöglich und individuell unterstützen zu können, wurden fundierte Methoden in Form eines "Modular Kit" ausgearbeitet, das sich folgendermaßen zusammensetzt: Aktuelle Jobrollen und Prozesse werden analysiert und künftige Jobrollen identifiziert beziehungsweise von technischen Trends abgeleitet. Auf dieser Grundlage ließen sich anschließend Weiterbildungs- sowie Umschulungsmaßnahmen bestimmen, die die Mitarbeitenden auf die künftigen Anforderungen vorbereiten sollen. Wichtig war dabei, dass die Geschäftsbereiche die Transformation aus eigenem Antrieb meistern, indem sie ihre Mitarbeitenden ermutigen, die Veränderungen mitzugestalten und voranzutreiben. SFS pilotierte diese Methode zunächst für ausgewählte Bereiche des Kreditrisikomanagements.

Technologiefolgen abschätzen

Im Vergleich zu verschiedenen Studien, die zumeist allgemeine Aussagen über die Entwicklung generischer Rollen trafen, nahm #Nextwork bei SFS die in der Organisation existierenden Rollen und Abläufe als Ausgangspunkt seiner Szenarien und inkludierte ebenso die zu erwartenden Resultate laufender und konkret geplanter Automatisierungs- und Digitalisierungsprojekte. Damit wurde eine spezifische und belastbare Abschätzung der Auswirkungen neuer Technologien auf diese Geschäftsprozesse und Jobprofile möglich und zugleich ein zeitlicher Erwartungshorizont entwickelt.

Nachdem im ersten Schritt zunächst ein schärferes Bild der zu erwartenden Profile entstand, wurde sodann eine Überleitung und ein Abgleich bestehender und potenzieller Skills zu diesen neuen Fähigkeiten möglich. Zugleich wurde eine kritische Diskussion darüber stimuliert, wie bestehende Rollen bei der Umsetzung der Digitalisierung aktiv eingebunden werden können, daran mitarbeiten – ja diese Transformation durch ihr Wissen (Domain Knowledge) sogar erst ermöglichen – und sich so auf die neuen Profile zubewegen können (Abbildung 1).

Nextwork bei SFS

 
Eine weitere kritische Reflektion wurde auch zu der Frage angestoßen, wie Mensch und Maschine in der Zukunft zusammenarbeiten sollen und wollen. Inwieweit sollen Verantwortlichkeiten an die Maschine delegiert werden, wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine konkret und wer trifft im Zweifelsfall die endgültige Entscheidung?

Jobprofile der Zukunft

Um neue Profile erfolgreich zu skizzieren, bedarf es eines gemeinsamen Verständnisses darüber, wie sich die unternehmensspezifischen Geschäftsprozesse durch Automatisierung und Digitalisierung verändern. Im Rahmen des Projekts wurden deshalb zunächst die Geschäftsprozesse des definierten Untersuchungsbereichs mit den Process Ownern analysiert: Welche Rollen agieren in welchem Arbeitsschritt mit welchen Kapazitäten? Welche Tools und Technologien werden heute eingesetzt? 

In einem zweiten Schritt erfolgt eine Abschätzung, wie sich sowohl das Endprodukt oder auch das Geschäftsmodell (beispielsweise Sensoren in finanzierten Produkten oder Micropayments) durch den Einsatz entsprechender Technologien (zum Beispiel Robot Process Automation) verändern könnten – und somit auch die Rollen der Mitarbeitenden. Das kann dazu führen, dass bestehende Rollen angepasst werden müssen, aber auch, dass ganz neue Rollen entstehen (Abbildung 2). Dabei wurde neben internen Strategiepapieren, beispielsweise Roadmaps für die Umsetzung der digitalen Transformation, auch externe Expertise zurate gezogen, um die weiteren Entwicklungen am Markt vor allem in zeitlicher Hinsicht mit bewerten zu können.

Technologiefolgenabschätzung SFS Tebble


Im vorliegenden Fall wurden mit den Beteiligten primär die Möglichkeiten einer Automatisierung einzelner Arbeitsschritte (Herausnahme von Schnittstellen) sowie die Unterstützung menschlicher Entscheidungen durch intelligente Assistenzsysteme, sogenannte Intelligence Augmentation, diskutiert. Diese Abschätzung der Effekte wird dann mit den bereits heute geplanten Veränderungsprojekten und Strategien rückgekoppelt und eine inhaltliche und zeitliche Verifikation vorgenommen: Wann werden welche Entwicklungen voraussichtlich wie umgesetzt? 

Konkrete Szenarien für die nächsten drei bis fünf Jahre

Technologieexperten entwarfen dazu Szenarien und diskutierten diese mit Führungskräften und Prozessmitarbeitenden. Daraus ließen sich wesentliche Änderungen für die einzelnen Rollen des Geschäftsprozesses ableiten. Einzelne Tätigkeiten verringerten sich in ihrem Ausmaß oder wurden komplett obsolet, andere Tätigkeiten wurden im Gegenzug wichtiger und neue Aufgaben und Verantwortlichkeiten konnten abgeleitet werden. Sehr konkret konnte dies in wesentlichen Punkten für die nächsten drei bis fünf Jahre ausgearbeitet und mit einem Projektportfolio unterlegt werden, für die Zeitphase danach eher explorativ. 

Die Herausforderung in automatisierten Prozessen liegt vor allem darin, dass Mitarbeitende die Arbeitsweise der zugrundeliegenden Technologie oftmals nicht mehr durchdringen." SFS/Tebble

Aus den Szenarien ließen sich künftige Anforderungen an die Mitarbeiter ableiten, also beispielsweise welche Fähigkeiten diese benötigen würden. Aus einem Abgleich des künftigen mit dem gegenwärtigen Rollenprofil könnte dieses weiterentwickelt werden. Aufgaben wurden gestrichen, neue Aktivitäten oder Verantwortungen hinzugefügt, Skill-Sets angepasst. Mitunter wurden Funktionen sogar neu eingruppiert. So wurde unmittelbar eine Diskussion darüber möglich, wie die Rolle des Menschen in einem automatisierbaren und/oder algorithmisch unterstützten Prozess zu definieren ist.

Grade maschineller Unterstützung bestimmen

Die Herausforderung in automatisierten Prozessen liegt vor allem darin, dass Mitarbeitende die Arbeitsweise der zugrundeliegenden Technologie – beispielsweise eine bestimmte Kalkulationsmethode – oftmals nicht mehr durchdringen. Diese Erkenntnis hat eine weitere Kernfrage aufgeworfen: Wie kann zentrales Fachwissen der Mitarbeitenden (zum Beispiel: Evaluierung von Risiken) trotz einer möglichen Automatisierung erhalten oder sogar vertieft werden? Als Lösungsansatz wurde etwa das Szenario entworfen, dass es für bestimmte Rollentypen und Erfahrungen unterschiedliche Grade und Arten der maschinellen Unterstützung geben kann: Bei geringer Erfahrung würde dem betreffenden Mitarbeitenden demnach mehr aktive und umfassende Unterstützung bereitgestellt, die Technologie hätte dabei eine Art Trainerfunktion.

Das könnte bedeuten: Die Maschine gibt eine Lösung vor, die der Mitarbeitende begründen beziehungsweise nachvollziehen muss, aber auch infrage stellen kann. Bei großer inhaltlicher Erfahrung oder bei sehr komplexen Transaktionen, die zum jeweiligen Entscheidungszeitpunkt noch nicht tiefer automatisiert sind, fungiert die Technologie eher als Sparring- und Review-Partner. Es entwickelt sich so die Vorstellung eines technologischen Unterstützungssystems, welches individuell an das Erfahrungs-Level des Mitarbeitenden anpassbar wäre und so gewährleisteten könnte, dass der Mensch die Maschine verstehen, steuern und kollaborativ mit ihr zusammenarbeiten kann.

Transformative Rollen

Die Analysen lieferten im konkreten Fall das Ergebnis, dass die Aufgabeninhalte, also das "Was", trotz Digitalisierung im Kern vorhanden bleiben. Die Bearbeitung der Aufgaben, das "Wie", ändert sich durch den Technologieeinsatz jedoch maßgeblich. Die Digitalisierung eines Arbeitsprozesses ist vor allem dann effizient und effektiv möglich, wenn die zugrundeliegenden Aktivitäten wenig komplex, repetitiv mit hoher Fallzahl und gut strukturiert sind. Für den untersuchten Geschäftsbereich könnte dies etwa eine einfache Kreditentscheidung in ähnlich gelagerten Kreditverträgen bei hoher Stückzahl sein. Je weniger komplex diese Entscheidungssituationen sind, desto umfassender kann Technologie eingesetzt werden. In der Folge reduzieren sich etwa manuelle Aktivitäten, wie Informationen sammeln und aufbereiten. Die von Menschen durchgeführten Tätigkeiten verschieben sich im Rahmen dieses Transformationsprozesses so auf höherwertige, komplexere, weniger strukturierte Tätigkeiten (Upskilling).

Komplexe Entscheidungen werden als gesamthafte Erfahrung sichtbar

Für den Fall "Risikomanagement" bedeutet dies konkret, die eigene Kompetenz anderen Bereichen zur Verfügung zu stellen: Mitarbeit in der Verkaufsphase, Entwicklung von Kundenstrategien, optimale Unterstützung der Entscheidungsgremien (Szenario on Demand), Mitarbeit bei der Entwicklung von neuen Produkten. Zugleich können durch den Technologieeinsatz Verbundvorteile entstehen: Komplexe Entscheidungen und Erfahrungen, welche zuvor von Individuen an unterschiedlichen Stellen autonom getroffen wurden, werden unternehmensweit als gesamthafte Erfahrung sichtbar und nutzbar gemacht. Ein gemeinsamer Erfahrungs- und Erkenntnisschatz wird aufgebaut, der sowohl in automatisierte als auch unterstützende Systeme einfließen kann. So werden Fehler insbesondere bei Personen mit geringerer Erfahrung minimiert und die Zentralisierung von Wissen bei einigen wenigen Personen ausgeglichen. 

Transformation schafft neue, zum Teil auch temporäre Rollen

Neben den Auswirkungen des Upskillings und der Verbundeffekte bei vorhandenen Rollen wurde auch deutlich, dass es im Zuge der Transformation zu neuen und zum Teil auch temporären Rollen kommen wird: Das Design und die Umsetzung der skizzierten technologischen Lösungen benötigt Rollen, welche sich auf der einen Seite mit den aktuellen Prozessen, den internen und externen Anforderungen und Regularien und speziell mit der aktuellen Datenin­frastruktur auskennen (etwa der Aufbereitung und dem Verwalten von Daten). Auf der anderen Seite werden diese sich mit der Entwicklung und Umsetzung von Datenverarbeitungsmethoden, dem Projektmanagement und der technischen Umsetzung hin zur neuen Infrastruktur beschäftigen.

Insbesondere die Rollen im Bereich des Datenmanagements und der Datenverarbeitungsmethoden sind auf die Kenntnisse und Erfahrungen der Prozessmitarbeiter angewiesen: Das Zusammenstellen und Kuratieren von Daten, die die Grundlage der Automatisierung und der Intelligence Augmentation darstellen, sind Aktivitäten, die von diesen – und wohl nur von diesen – Mitarbeitern erbracht werden können. Denn das Wissen um Interna ist erforderlich und kann am Markt nicht eingekauft werden.

Neue Lernpfade

Die technologischen Lösungen, die im Rahmen der Technologieabschätzungen in Unternehmen diskutiert und skizziert wurden, sind oftmals proprietäre Lösungen: Ein "Kauf von der Stange" wird schwerer, je mehr Spezifika des Unternehmens integriert werden müssen. Unternehmensspezifische Lösungen sind wiederum nur möglich, wenn Ressourcen der Mitarbeiter in die Transformation eingebunden werden. Diese Transformationsleistungen müssen zusätzlich zu den bestehenden – sich aber auch teilweise ändernden – Rollen/Aufgaben erbracht werden. Neben dem offensichtlichen Vorteil, dass die Digitalisierung vorangetrieben wird, hat diese Herangehensweise einen zweiten Vorteil: Mitarbeitende früh in den Transformationsprozess einzubinden, ermöglicht, diese an die neuen Technologien heranzuführen und die Entwicklung der Systeme und der Datenstrukturen mitzugestalten. Die oft zitierte "hybride" Organisation nimmt hier Gestalt an: Neben den herkömmlichen Arbeiten in den Geschäftsprozessen kommen schrittweise, bisweilen auch sprunghaft, mit zeitlicher Beschränkung neue Tätigkeiten hinzu. 

Unternehmensspezifische Lösungen sind nur möglich, wenn Ressourcen der Mitarbeiter in die Transformation eingebunden werden." SFS/Tebble


Das hybride Arbeiten stellt sodann die HR-Organisation vor neue Herausforderungen: Es wird erkennbar, dass das Lernen einen noch höheren Stellenwert und somit auch eine andere Struktur erfordert: Zusätzlich zu bestehenden Aufgaben gilt es, Mitarbeitende für die Umsetzung der Transformation zu befähigen. Die Umsetzung eines solchen Lernens könnte etwa in einem Pfad bestehen, der sich aus klassischen und 24/7 verfügbaren digitalen Lerninhalten sowie Learning on the Job, beispielsweise durch Projektarbeit, zusammensetzt. Dieser Lernpfad – selbst ein digitales Produkt – kann individuell auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden angepasst werden. Damit wird er zum Wegbegleiter in die Karriere der Zukunft. 

Individuelle Lernpfade bilden somit wesentliche Bestandteile einer zukunftsfähigen HR-Strategie. Dazu können beispielsweise auch die Mitgliedschaft in internen oder externen Communitys of Practice oder eine Schnittstelle zu Arbeitsvermittlungsplattformen zählen. Bei SFS wurde daher aus dem bestehenden internen und externen Trainings- und Schulungsangebot, das von vielen Mitarbeitenden als zu umfangreich und unübersichtlich empfunden wurde, ein neues Curriculum entwickelt. Dieses berücksichtigt gezielt die sich wandelnden Kompetenzen. Das Curriculum soll Mitarbeitenden dabei helfen, die für sie passendsten Lernangebote zu finden und im Dialog mit ihrer Führungskraft einen Entwicklungsplan zu vereinbaren.

Projekt schafft Akzeptanz

Die vorgestellte Methode ermöglicht, zukünftige Jobprofile und damit einhergehende Anforderungen an die Mitarbeitenden erfahrbar zu machen. Entscheidend dabei ist, die Mitarbeitenden an dieser Entwicklung teilhaben zu lassen. So entsteht eine realitätsnahe Zukunftsvision, die den Betroffenen ein Gefühl der Sicherheit und Planbarkeit vermittelt. Die Beschreibungen neuer Tätigkeiten und Profile macht die Digitalisierung für Mitarbeitende greifbarer. Konkrete Szenarien stehen anstelle von vagen Vorstellungen. Auf dieser Grundlage können die Mitarbeitenden sich nun konkret mit anstehenden Änderungen auseinandersetzen und ihr Lernverhalten adjustieren. 

Die Gesamtdauer des Projekts betrug nur wenige Wochen – auch, weil es gelang, sämtliche Fachbereiche real oder virtuell rasch einzubinden. Dass alle Überlegungen und Szenarien auf existierenden Jobprofilen und Geschäftsprozessen basierten, trug zur hohen Akzeptanz der Resultate bei. So sieht sich Siemens Financial Services gut gerüstet für die grundlegenden Veränderungen in der Arbeitswelt.


Zu den Autoren:

Ayad Al-Ani ist assoziiertes Mitglied am Einstein Zentrum Digitale Zukunft, lehrt an der Universität Stellenbosch, Südafrika und Basel und ist Geschäftsführer der Beratungsagentur Tebble.

Joos Duffing ist Personalchef bei Siemens Financial Services.

Christin Schäfer ist Geschäftsführerin und Gründerin von ACS Plus und Mitglied der Datenethikkommission der Bundesregierung.


Dieser Beitrag ist in Personalmagazin 2/2021 erschienen. Lesen Sie die gesamte Ausgabe auch in der Personalmagazin-App.


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