Zu viel Nähe schadet der Führung


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Kolumne Praxisschock: Zu viel Nähe schadet der Führung

Wie gelingt es, ohne Dominanz zu führen und die richtige Balance zwischen Kollegialität und Leadership zu wahren? Die mentale Haltung zu diesen vermeintlichen Gegensätzen lässt sich entwickeln - und muss auch entwickelt werden, wenn Führung gelingen soll. Für unseren Kolumnisten Boris Grundl gilt: Nähe und Distanz, das ist kein "Entweder-oder", sondern ein "Und".

Was ist effektiver: Führen durch Nähe oder durch Distanz? Eines steht fest – je näher wir uns kommen, desto tiefer wird die Beziehung. Als soziale Wesen ist uns Verbundenheit sehr wichtig, daher scheint es zunächst logisch, auf Nähe zu setzen. Doch jeder mit Führungserfahrung weiß, dass dies in eine Sackgasse führen kann. Bei unbequemen Veränderungen oder dem Einfordern von Spitzenleistungen verweigern uns diejenigen, denen gegenüber wir nicht distanziert genug waren, plötzlich die Gefolgschaft. Ist also Distanz die bessere Wahl? Tatsächlich kann eine gewisse Distanz eine Anziehungskraft auf unser Umfeld ausüben. Doch auch das kann problematisch sein, da Menschen unter zu wenig emotionaler Bindung leiden und sich abwenden. Wie lässt sich dieser gordische Knoten durchschlagen?

Eine Reise der mentalen Transformation

Wer in eine Führungsrolle kommt, beginnt oft mit einem Führungsstil, der auf emotionaler Nähe basiert. Wenn beispielsweise ein fähiger Ingenieur zur Führungskraft seiner ehemaligen Kollegen wird, könnte er sagen: "Ich bin zwar jetzt euer Chef, aber unsere Beziehung bleibt unverändert." Das ist jedoch ein Trugschluss. Bisher war er für seine eigenen Ergebnisse verantwortlich, nun trägt er die Verantwortung für die des gesamten Teams. Eine klügere Ansage wäre: "Bis jetzt war ich nicht für die Teamergebnisse verantwortlich. Natürlich wird sich etwas ändern, und wir werden gemeinsam herausfinden, was und wie."

Wenn Nähe in der Führung zur Sackgasse wird

Da dies selten so geschieht, versucht die neue Führungskraft zunächst, durch Sympathie und Nähe zu führen, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie halte sich für etwas Besseres. Mit der Zeit wird diese emotionale Nähe jedoch zur Belastung. Instinktiv distanzieren sich die Teammitglieder bei unbequemen Entscheidungen, und die Führungskraft versucht, diese Distanz durch noch mehr Nähe zu überbrücken, was zu emotionaler Erschöpfung führt. Diese Müdigkeit zeigt sich in vielen Führungsetagen und ist ein Grund, warum immer mehr Menschen Führungsverantwortung scheuen – sie wollen die damit verbundene emotionale Belastung nicht in ihrem Leben haben.

Die Kehrtwende

Die Verletzungen durch zu viel Nähe führen zur Erkenntnis: Dann halte ich eben Distanz. Tatsächlich bemühen sich die Teammitglieder bei zunehmender Distanz von ihrer Seite um mehr Nähe und zeigen oft eine erhöhte Leistungsbereitschaft. Erfahrungsgemäß hält das nicht lange an. Aufgrund der fehlenden emotionalen Bindung empfinden sie die distanzierte Führungskraft als unnahbar oder arrogant und entziehen ihr die Gefolgschaft. Erneut entsteht Frust und Unsicherheit: Wie soll ich mich nun verhalten? Was ist die Lösung?

Distanzierte Nähe – was bedeutet das?

Es gibt einen mentalen Zustand, der beide Pole vereint: distanzierte Nähe. Das bedeutet, man ist den Menschen in seinem Umfeld gleichzeitig nah und distanziert. Die Logik mag einwenden: Das geht nicht – entweder man ist nah oder distanziert! Doch das Bewusstsein weiß, dass dies ein Geheimnis ist, das alle erfolgreichen Führungskräfte früher oder später entdecken – idealerweise früher.

Dieses Konzept lässt sich am effektivsten mit dem Stachelschwein-Prinzip beschreiben: Wir kommen uns so nahe, dass wir uns gegenseitig wärmen, aber nie so nahe, dass wir uns verletzen. Wer einmal die distanzierte Nähe im Umgang mit anderen Menschen gefunden hat, möchte darauf nicht mehr verzichten – selbst in intimeren Beziehungen als am Arbeitsplatz. Denn oft ist zu beobachten, dass zu viel Nähe unbewusste Verletzungen verursacht, die zu großer Distanz bis hin zu Feindseligkeit führen können. Das muss nicht sein. Diese innere Balance wünsche ich Ihnen von Herzen.



Über den Kolumnisten: Boris Grundl ist Führungskräftetrainer und gilt bei Managern und Managerinnen sowie Medien als "Der Menschenentwickler" (Süddeutsche Zeitung). Er ist Inhaber des Grundl Leadership Instituts, das Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Dafür erforscht, testet und lehrt das Institut hochwertige, praxisrelevante Unterscheidungen - als Voraussetzung für Wahrnehmung und Erkenntnis.