Der Jahreswechsel ist das kollektive Ritual des Neubeginns. Zwölf Monate liegen vor uns wie ein leeres Blatt Papier. Sehr schnell werden aus bewusst gesetzten Zielen unbewusste Forderungen: Unerfüllte Erwartungen entwickeln sich zu Unglücksgaranten, erfüllte Erwartungen mutieren zur Selbstverständlichkeit.
Unterscheiden zwischen Bedürfnissen, Ansprüchen und Wünschen
Vermeiden lässt sich diese Falle, indem wir unsere Haltung bei Erwartungen klarer differenzieren: Es gibt Bedürfnisse, Ansprüche und Wünsche. Bedürfnisse erkennen wir durch die Worte "Ich brauche …". Bei einem Baby zeigen sie sich sehr klar: Schlaf, Nahrung, Sauberkeit und ein liebevolles Umfeld. Natürlich haben auch Erwachsene Bedürfnisse. In einem bestimmten Bereich machen sie sehr viel Sinn, woanders limitieren sie uns. Interessant wird es in Situationen, die objektiv keineswegs existenziell bedrohlich sind und trotzdem zu passiv-aggressiven Anklagen führen. Dann kippt es.
Dieses Verhalten äußert sich, wenn jemand ein bestimmtes Ergebnis anvisiert, dafür aber nicht den Preis zahlen will. Der innere Druck entlädt sich als Klage nach außen. Menschen manövrieren sich in die Opferhaltung und nehmen andere in Haft: "Wenn du mir dieses verwehrst, kann ich jenes nicht erreichen." Oder: "Weil du das gesagt hast, bin ich demotiviert." Diese Sätze kennen wir alle – als Absender und Adressat.
Ansprüche verhindern Anerkennung
Pocht jemand auf sein Recht, formuliert er Ansprüche: "Ich verlange … von dir, meinem Chef, dem Team, meinem Partner, vom Leben …" Hohe Ansprüche klingen erst einmal positiv-leistungsorientiert. Doch sie sind nur bis zu einem bestimmten Grad sinnvoll. Darüber hinaus schaden sie uns. Denn was passiert, wenn ich von anderen mehr fordere als von mir? Dann hagelt es Vorwürfe: "Du musst, die müssten, alle sollten, was fällt dir ein …" Ansprüche an andere verhindern Anerkennung. Egal, wie gut jemand abliefert – er erfüllt immer nur das Mindestmaß. Oft stellen Menschen an sich selbst so hohe Ansprüche, dass sie ausbrennen. Meistern sie eine Aufgabe, setzen sie die eigene Leistung herab: "Es ist ja normal, dass ich das erreicht habe." Gelingen neun von zehn Projekten, bemerken viele nur den einen Fehlschlag.
Wünsche öffnen Türen für eine konkrete Idee der Zukunft
Erst die dritte Haltung bringt uns wirklich weiter: Wünsche. Manche empfinden Wünsche als schwammig und wachsweich. Stimmt das? Stellen Sie sich vor, ein Mensch bittet Sie um ein Gespräch und fordert: "Ich will, dass du …", "Ich brauche von dir …", "Ich verlange, dass …" Keine gute Basis. Viel mehr Türen öffnen sich bei folgendem Ansatz: "Ich würde mir wünschen …", "Kannst du dir vorstellen, dass …" Wünsche lassen dem Gegenüber Raum. Und man selbst spürt Vorfreude – ohne dass daraus ein Anspruch wird.
Die besten Führungskräfte verfügen über die Fähigkeit des zupackenden Loslassens." – Boris Grundl
Beim Wünschen hat jemand eine konkrete Vorstellung der Zukunft. Er handelt konsequent in diese Richtung. Dabei vergewaltigt er weder sich noch andere und besinnt sich auf das Mögliche. Für ihn steht fest, dass er sein Ziel irgendwann erreicht. Es bleibt nur die Frage wann und wie. Am Ende kann er zupacken und gleichzeitig loslassen. Die besten Führungskräfte verfügen genau über diese Fähigkeit – zupackendes Loslassen. Sie handeln kraftvoll, packen zu und lassen gleichzeitig los. Diesen mentalen Zustand wünsche ich Ihnen von Herzen – nicht nur für dieses Jahr, sondern für alle Zeit, die Sie auf dieser Welt bekommen haben.
Über den Kolumnisten: Boris Grundl ist Führungskräftetrainer und gilt bei Managern und Managerinnen sowie Medien als "Der Menschenentwickler" (Süddeutsche Zeitung). Er ist Inhaber des Grundl Leadership Instituts, das Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Dafür erforscht, testet und lehrt das Institut hochwertige, praxisrelevante Unterscheidungen - als Voraussetzung für Wahrnehmung und Erkenntnis. Seine Kolumne erscheint in der Haufe-Zeitschrift "wirtschaft + weiterbildung".