Lern-Communitys im Unternehmen aufbauen
Eine Lern-Community ist eine spezialisierte Form einer Gemeinschaft, deren Mitglieder ein gemeinsames Lerninteresse an einem bestimmten Thema verbindet. Durch Vernetzung und Austausch bildet die Lern-Community ein Unterstützungssystem, das ihre Mitglieder bei ihrem Lernprozess nutzen und gleichzeitig selbst mit ihren Lernergebnissen speisen. Beliebt sind vor allem Lernthemen, die relevant für die berufliche Praxis sind. Daher kommt dem Prinzip des Praxistransfers des Erlernten eine herausragende Bedeutung in der Arbeit der Community zu. Darauf sollten vor allem die Gründerinnen und Gründer sowie die Facilitatorinnen und Facilitatoren einer Community achten, wenn sie die Community aufbauen und betreiben möchten.
Gegründet werden Lern-Communitys typischerweise von besonders engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die später selbst darin tätig sein wollen. Community-Facilitatoren bilden wiederum eine spezialisierte Rolle, die sich vor allem mit der Planung, Organisation, Moderation und jeder Form der Unterstützung des Lernprozesses beschäftigt. Diese Rolle kann sowohl von externen Personen als auch von Mitgliedern der Community übernommen werden. Sie sind deswegen so hilfreich, weil es keine vorgegebene Hierarchie und kein festes Regelwerk gibt, wie gelernt wird. Die Förderung von Selbstorganisation ist hier der Schlüssel zum Erfolg.
Lern-Communitys brauchen die Legitimation im Unternehmen
Das erste, was für den Start von Lern-Communitys benötigt wird, ist eine Legitimation, die die Mitarbeitenden bestärkt, sich zu engagieren. Denn Communitys entstehen quer zur offiziellen Organisationsstruktur und werden dadurch leider allzu oft nicht als Teil der Arbeit, sondern eher als nettes Luxusgut betrachtet. Das muss nicht sein.
Der beste Fall von Legitimation, den ich erlebt habe, war, dass sich zwei Bereichsleiter überzeugen ließen und den Aufbau einer Community als Sponsoren unterstützten. Sponsor bedeutete, dass sie Ressourcen (externe Facilitatoren, Arbeitszeitbudget) bereitstellten. Darüber hinaus leisteten sie wichtige Überzeugungsarbeit auf den Managementebenen und bei ihren Mitarbeitenden. Was hat sie dazu bewogen? Es erfüllte sich damit ihr Wunsch, dass sich eine bestimmte, über den Bereich verteilte Fachrichtung in einer Community zusammenfand, voneinander lernte und Best Practices für die Zusammenarbeit erarbeitete. Eine weitere Variante der Legitimation kann die Anerkennung als offizielle Weiterbildung durch das Unternehmen sein.
Thema und Zweck einer Lern-Community
Wenn die Legitimation gegeben ist, gibt es drei Fragen, die bei der Gründung bedacht werden sollten:
- Was ist das Thema der Community?
- Welchen praktischen Zweck verfolgt die Community (wozu)?
- Wem steht sie offen (Mitgliedschaft)?
Das Thema sollte sich an den Bedarfen orientieren, die im Unternehmen bestehen. Vor allem dort, wo das Thema im Arbeitsalltag relevant ist. Die Ermittlung dieser Bedarfe kann durch Interviews, Befragungen und offene Themensammlungen erfolgen. Je nachdem, wie groß das Thema ist und wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitwirken könnten, eignen sich auch offene Konferenzformate wie "Open Spaces" oder "Learnathons" zur Bedarfsermittlung. Diese beiden Formate setzen bewusst darauf, dass die Teilnehmenden ihre eigenen Themen mitbringen, vorstellen und Gleichgesinnte finden können.
Ein Beispiel: In einem Unternehmen hatten Führungskräfte das Gefühl, dass es im Bereich des Software-Testings nicht gut läuft. Was genau die Ursache war oder was verbessert werden könnte, war noch nicht klar genug. Besonders daran war, dass dieses Fachgebiet sich dezentral über das gesamte Unternehmen verteilte. Also führten wir Interviews durch. Die Hauptfrage war dabei, was ist der Status quo und wo liegen die aktuell größten Probleme aus Sicht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Interviewten haben wir auf Empfehlung angesprochen – zuerst auf Empfehlung ihrer Führungskräfte und dann auf die Empfehlung der Interviewten selbst. Wir fragten in allen Interviews, mit wem wir denn noch sprechen sollten. Meist waren die Empfohlenen besonders engagiert, erfahren oder besaßen besondere Expertise. Oder alles gleichzeitig. Nach etwa 40 Interviews stachen drei Themen besonders heraus: Den Interviewten fehlte es an fachlichem Know-how, einem Überblick über die unternehmensweit eingesetzten Werkzeuge und Methoden sowie dem Wissen, was gerade außerhalb des Unternehmens Stand der Disziplin ist. Eine Maßnahme war die Gründung einer Community für Software-Testing mit mittlerweile über 100 Mitgliedern.
Wenn ein signifikanter Bedarf in einem bestimmten Themenbereich identifiziert wurde, sollten sich Gründerinnen und Gründer nun fragen, welche Zwecke die Community verfolgt.
Das Prinzip, einen Zweck zu formulieren, ist einfach: Wer will was lernen und wozu. Zwecke helfen abzuleiten, wie das Gelernte in die Praxis umgesetzt wird. In der Teamleitenden-Community könnten zum Beispiel Gespräche nachgestellt, Gespräche gemeinsam nachbereitet oder ein Katalog guter Themen und Fragen für Entwicklungsgespräche erarbeitet werden.
Lernen sichtbar machen
Die nächste Frage ist, für wen die Community offen ist. Für alle Interessierte? Nur für bestimmte Rollen oder Fachbereiche? Welches Vorwissen sollte vorhanden sein? Sind Neulinge willkommen? Je offener die Community ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich Themen wiederholen und regelmäßig Aufwand in die Aufnahme und Einarbeitung von Neuzugängen gesteckt wird. Der Vorteil dabei ist wiederum, dass Neuzugänge natürlich auch viel Potenzial zur Belebung der Community mitbringen können. Manchmal wünschen sich Communitys, eine gewisse fachliche Tiefe des gemeinsamen Lernens zu erreichen. Dies schränkt den Teilnehmerkreis ein, denn um die Teilnahme und den kollektiven Lernstand stabil zu halten, sind kleine Gruppen mit weniger als zehn Personen am besten geeignet.
Generell ist die Empfehlung, das Thema breit anzugehen, und wenn sich kleine Gruppen mit einem relativ exklusiven Thema befassen wollen, dann können sie das innerhalb der Community tun. Das ist aber immer an die Bedingung geknüpft, dass dieser kleine Kreis nach einer gewissen Zeit zurückkommt und seine Erkenntnisse und Ergebnisse mit der gesamten Community teilt. Dahinter steht wiederum Prinzip: Das Lernen der Community sollte sichtbar gemacht werden für die gesamte Community und darüber hinaus. Dies kann durch kleine freizugängliche Communitytreffen geschehen oder durch spezielle Veranstaltungen, an denen sich Communitys vorstellen. Dies kann auch durch offene Reviews (siehe unten) geschehen oder durch Dokumente, die verbreitet werden.
Ist das Konzept einer Community noch völlig neu oder für die Unternehmenskultur eher ungewöhnlich, ist es ratsam, sich im Vorfeld mit potenziellen Mitgliedern auszutauschen. Ob dies in Form einer eigens organisierten Informationsveranstaltung oder im Rahmen bestehender Treffen oder Veranstaltungen geschieht, ist unerheblich. Wichtig ist nur, dass die Möglichkeit zum Austausch gegeben ist. Typische Fragen, die dabei auftauchen, sind: Wie viel Zeit kann ich mir für die Communityarbeit nehmen? Was ist, wenn ich mal weniger Zeit habe? Wie läuft es ab? Was kann ich mir genau unter dem Thema vorstellen?
Kick-off und Lernphase einer Lern-Community
Eine Community beginnt in der Regel mit einem Kick-off -Treffen. Eine Lern-Community ist ein soziales System, das auf dem Aufbau von Beziehungen zwischen den Beteiligten basiert. Daher ist ein wesentlicher Teil des Kick-offs das Kennenlernen. Wer sind die anderen Teilnehmenden? Was machen sie? Warum sind sie hier? Methodisch eignen sich verschiedene Formen des moderierten Kennenlernens, zum Beispiel Soziogramme oder das gemeinsame Ausfüllen von Steckbriefen. Wichtig ist auch zu thematisieren, welche Umgangsformen, zum Beispiel Feedbackregeln oder Verhaltensregeln, innerhalb der Community gelten sollen.
Weitere Bestandteile des Kick-offs sind die Planung des Vorgehens, die Rollenverteilung und die Formulierung erster Ziele. Die Vorgehensweise hängt vor allem von der Anzahl und Häufigkeit der gemeinsamen Treffen ab. Die Spanne reicht von wöchentlich bis monatlich. Bei der Rollenverteilung ist es wichtig, klarzumachen, dass eine Community vom Engagement ihrer Mitglieder lebt. Mindestens die Organisation, Moderation und Dokumentation der Treffen sollte aufgeteilt werden.
Beispiel: Selbst- und Teammanagement als Thema
Die Ziele werden aus Thema und Zweck abgeleitet. Sie sollten ein praxisorientiertes Ergebnis beinhalten, zum Beispiel ein Dokument oder eine Anwendung des Gelernten in der eigenen Arbeitspraxis. Beim Kick-off werden die Ziele der Community gesammelt, gemeinsam priorisiert und mit der Lernphase begonnen. In regelmäßigen Treffen wird die Community genutzt, um sich auszutauschen, Lernstände zu teilen und das weitere Vorgehen zu besprechen. Es ist auch üblich, Gäste mit wertvollem Input einzuladen, zum Beispiel Fachexperten.
Im Falle einer Community von neuen Führungskräften stand Selbst- und Teammanagement bei besonders hoher Auslastung als Thema fest. Da die Interessen der 20 Mitglieder recht unterschiedlich waren, organisierten sie sich in Kleingruppen und gingen über mehrere Monate eigenen Unterthemen nach. Um die Themenzuordnung zu beschleunigen, hatten die Facilitatoren vorbereitete Unterthemen zur Wahl gestellt, aber die Themen konnten auch selbst gewählt werden. Alle Gruppen arbeiteten in separaten Treffen an ihren Themen. Die Vorgabe war, je Gruppe ein praxisorientiertes Dokument ("Artefakt") zu erstellen, das als Art Anleitung später auch anderen Führungskräften außerhalb der Community zur Verfügung stehen kann und verständlich ist.
Unterthemen waren unter anderem Methoden zur gemeinsamen Priorisierung mit dem eigenen Team, KI-Tools zur Unterstützung bei der Selbstorganisation oder Kapazitätsplanung bei unsicheren Bedingungen. In den monatlichen Communitytreffen wurden Arbeitsstände geteilt und jeweils auf die Arbeitsergebnisse der anderen Gruppen reagiert. Das andere Hauptelement der Communitytreffen waren Gastbeiträge von erfahrenen Führungskräften. Sowohl die Gäste als auch das ergebnis- und praxisorientierte Arbeiten an den Dokumenten bewerteten die Mitglieder als hilfreich.
Artefakte erleichtern das Feedback
Um die Ergebnisse und das Vorgehen in der Community regelmäßig gemeinsam zu diskutieren, eignen sich Retrospektiven und Reviews sehr gut. In der Retrospektive werden das Vorgehen und die Zusammenarbeit reflektiert. Solche gruppendynamischen Themen treten zugunsten der sachlichen Lernthemen gerne in den Hintergrund. Die Retrospektive lenkt bewusst davon ab und thematisiert Fragen wie: Wie sind wir bisher vorgegangen? Wie war das für uns? Was wollen wir wie verbessern?
Das Review bietet der Community die Möglichkeit, gemeinsam auf aktuelle Ergebnisse und Lernstände zu blicken und Feedback von außen zu erhalten. Dazu werden Interessierte oder bestimmte Personen, deren Wissen und Kenntnisse für das Lernvorhaben der Community interessant sein könnten, eingeladen. Die Teilnehmenden sind aufgefordert, ihre Lernstände so anschaulich wie möglich zu präsentieren. Dabei geht es nicht um eine perfekte Präsentation, sondern um etwas, das ich als Artefakt bezeichne. Das ist ein Ergebnis, gerne auch unfertig, das teilbar, möglichst verständlich und leicht zugänglich ist. Oft sind es Dokumente, aber natürlich ist auch jedes andere greifbare Arbeitsergebnis denkbar. Artefakte erleichtern das Feedback und können leicht verbreitet werden.
Vorsicht an dieser Stelle: Gerade diese Situation, anderen noch nicht fertige Ergebnisse zu zeigen, löst oft Unsicherheit in der Community aus. Daher sollte allen Beteiligten bewusst gemacht werden, dass es darum geht, sich gegenseitig zu unterstützen und wohlwollend voranzubringen. Darüber hinaus gibt es kaum wichtigere Mechanismen, die so eng mit dem Geist einer Lern-Community verbunden sind wie Vernetzung, Austausch, Feedback und die Erarbeitung konkreter, anfassbarer Ergebnisse.
Dieser Beitrag ist erschienen in neues lernen, Ausgabe 6/2024, das Fachmagazin für Personalentwicklung. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der App personalmagazin - neues lernen. In der App finden Sie auch die aktuellen News rund um "neues lernen" und den Podcast für die betriebliche Lernszene. Kristina Enderle da Silva und Julia Senner hinterfragen im Podcast "neues lernen" aktuelle Lerntrends, liefern Fakten und geben Einblicke in die Unternehmenspraxis.
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