Flipped Classroom in Corporate Trainings: Evaluation eines Pilotprojekts
Die Lehr- und Lerndidaktik hat sich in den letzten Jahren durch die rasant fortschreitende Digitalisierung und den technologischen Fortschritt grundlegend gewandelt, insbesondere im Bereich der Wissensvermittlung und Kompetenzentwicklung (Grogorick/Robra-Bissantz, 2021, S. 1297). Traditionelle Schulungsmethoden, die sich zum Beispiel auf Präsenzveranstaltungen wie Frontalvorträge beschränken, verlieren zunehmend an Relevanz und Beliebtheit. Lernende geben sich nicht mehr mit dem Ansatz der reinen Wissensvermittlung zufrieden, der neben unflexiblen Lernorten auch starre Lernzeiten und standardisierte Interaktionsformen vorschreibt (Turnbull et al., 2020, S. 1052). Mit dem Fortschritt haben sich auch die Anforderungen an Lernmedien grundlegend geändert, von denen eine interaktive Gestaltung erwartet wird. Dies hat zu einem Paradigmenwechsel von traditionellen, lehrerzentrierten Ansätzen hin zu selbstgesteuerten Modellen geführt, bei denen die individuellen Präferenzen und Bedürfnisse der Lernenden im Mittelpunkt stehen (Jacot et al., 2014, S. 23).
Blended Learning klar an der Spitze
In einer aktuellen Trendstudie wurden E-Learning-Experten zum digitalen Lernen befragt. Auf die Frage, welche Lernformen in den nächsten drei Jahren eine zentrale Rolle für das betriebliche Lernen in Unternehmen spielen werden, wurde Blended Learning, also die Kombination von Präsenz- und Online-Lernen, am häufigsten genannt (mmb Institut, 2023, S. 6). Dabei prognostizieren 90 Prozent der Befragten, dass Blended Learning als Lernform in Unternehmen in den nächsten drei Jahren eine entscheidende Rolle spielen wird, was sicherlich auch auf die nach der Covid-19-Pandemie wieder möglichen Präsenzveranstaltungen zurückzuführen ist.
Eine der Blended-Learning-Methoden, die in den letzten Jahren aufgrund der zunehmenden Digitalisierung der Lehre sowohl in der Praxis als auch in der Forschung besondere Aufmerksamkeit erfahren hat, ist Flipped Classroom (Kulgemeyer, 2023, S. 13), bei der eine Selbstlernphase mit einer anschließenden gemeinsamen Präsenzphase kombiniert wird (Finkenberg, 2018, S. 15). Ursprünglich für den Primar- und Sekundarbereich konzipiert, hat dieser Ansatz inzwischen auch Einzug in die Hochschulbildung gehalten und gewinnt nun auch in der betrieblichen Bildung zunehmend an Bedeutung (Nederveld/Berge, 2015, S. 162). Für die betriebliche Aus- und Weiterbildung wird Flipped Classroom sogar als revolutionär bezeichnet (Jacot et al., 2014, S. 27).
In der bisherigen einschlägigen Forschung fehlen empirische Nachweise dafür, dass die Methode Flipped Classroom in Unternehmen zu nachweisbar besseren Lernerfolgen führt. Offen ist ebenfalls, welche Chancen und Potenziale, aber auch welche Herausforderungen sich bei der Umsetzung und Durchführung der Methode für Corporate Trainings ergeben. Die Forschungslücke kann dazu führen, dass Unternehmen die Methode aufgrund mangelnder wissenschaftlicher Orientierung nicht effektiv in Corporate Trainings einsetzen und somit der gewünschte Lernerfolg ausbleibt.
Ziel der Studie ist es daher, die Chancen und Herausforderungen der Flipped-Classroom-Methode für Corporate Trainings aus Sicht der Lernenden und der Lehrenden zu untersuchen und daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten.
Die Methode Flipped Classroom
Bei Flipped Classroom geht der Präsenz- beziehungsweise Kollaborationsphase eine Selbstlernphase voraus, wobei die Methode unterschiedlich umgesetzt werden kann. Aus einer Vielzahl von Varianten hat sich eine Grundform herausgebildet, die aus den drei Elementen "Instruktion", "Assessment" und "Applikation" besteht (Finkenberg, 2018, S. 17). Dies ist in der Abbildung 1 dargestellt, in der die einzelnen Elemente den jeweiligen Phasen zugeordnet sind.
In der Selbstlernphase werden die Lerninhalte asynchron über verschiedene zur Verfügung gestellte Lernmedien, häufig in Form von Lernvideos, vermittelt und dienen als Grundlage für die Kollaborationsphase (Kulgemeyer, 2023, S. 13). Bei Lernvideos empfiehlt es sich, zu Beginn klare Vorgaben zu machen, welche Videos die Lernenden sehen sollen (Kulgemeyer, 2018, S. 9). Ein Lernmanagementsystem (kurz: LMS) kann dabei helfen, diese Vorgaben effektiv zu organisieren und umzusetzen (Nederveld/Berge, 2015, S. 168).
Auf die Selbstlernphase folgt die Kollaborationsphase, die häufig in Präsenz stattfindet, aber auch in Form von synchronen Online-Meetings mithilfe von Videokonferenzsoftware durchgeführt werden kann (Fazal/Navarrete, 2020, S. 147).
Der erste Teil, das "Assessment", stellt ein wichtiges Bindeglied zwischen den beiden Phasen dar und dient dazu, das Gelernte zu überprüfen und abzufragen. Oft wird ein Quiz als Einstieg gewählt, da es eine einfache Methode ist, das in der Selbstlernphase erworbene Wissen zu aktivieren und gleichzeitig den gegenseitigen Austausch unter den Teilnehmenden anzuregen. Ebenso ermöglicht es sowohl den Lernenden als auch den Lehrenden, die Qualität der Vorbereitung und das Verständnis der vermittelten Inhalte zu überprüfen, wobei sich das Quiz auf die wesentlichen Inhalte beschränken und kurz gehalten werden sollte (Finkenberg, 2018, S. 16–18).
Der zweite Teil "Applikation" bildet den Schwerpunkt der Kollaborationsphase, in der die gemeinsame Anwendung des Gelernten stattfindet. Dies kann durch Fallstudien, praktische Beispiele und Simulationen wie Rollenspiele geschehen (Towfigh et al., 2022, S. 92).
Ziel ist es, dass die Lernenden das in der Selbstlernphase erworbene Wissen in kooperativen und aktivierenden Lernformen anwenden und zu Expertenwissen vertiefen. Der Lehrende nimmt dabei die Rolle eines Coaches oder Lernbegleiters ein, der die Lernenden durch individuelle Unterstützung und Anregungen begleitet und berät. Der Kern der Flipped-Classroom-Methode liegt somit in der effektiven Nutzung der gemeinsamen Kollaborationszeit (Finkenberg, 2018, S. 16–20). Daraus ergeben sich sowohl Chancen als auch Herausforderungen:
- Selbstbestimmung und multimediales Lernen: In der Selbstlernphase haben die Lernenden die Möglichkeit, ihre Lernerfahrungen durch die verschiedenen zur Verfügung gestellten Lernmedien selbstbestimmt zu gestalten und den Lernweg, die Lernzeit und den Lernort frei zu wählen (Finkenberg, 2018, S. 19; Nederveld/Berge, 2015, S. 167).
- Aktive Beteiligung der Lernenden: Durch die Verlagerung der theoretischen Wissensvermittlung bleibt in der Kollaborationsphase mehr Zeit für die Anwendung des Wissens (Finkenberg, 2018, S. 19; Tolks et al., 2016, S. 6), wodurch aktive Lerntechniken wie Teamarbeit oder Diskussionen eingesetzt werden können, um den Unterricht zu bereichern und das Engagement der Lernenden zu erhöhen (Lewis, 2019, S. 2).
- Lernbegleitung: Lehrende fungieren während der Kollaborationsphase als Coach, was zu einer Verbesserung der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden führen kann. Individuelle Stärken und Lernschwierigkeiten der Lernenden können dadurch besser erkannt und entsprechende Unterstützung angeboten werden (Finkenberg, 2018, S. 20; Sams/Bergmann, 2012, S. 25).
- Umsetzungsaufwand und erforderliche Kompetenzen: Die initiale Umsetzung der Methode erfordert die Neugestaltung beziehungsweise Überführung der Lerninhalte in neue Formate für die Selbstlernphase sowie die Planung und Abstimmung der Kollaborationsphase, was gleichzeitig neue Kompetenzen der Lehrenden voraussetzt (Lewis, 2019, S. 2–3; Nederveld/Berge, 2015, S. 167).
- Eigenverantwortung: Die Effektivität der Kollaborationsphase hängt davon ab, dass sich die Lernenden in der Selbstlernphase selbstständig mit den Kursinhalten auseinandergesetzt haben, was eigenverantwortliches Lernen voraussetzt (Lewis, 2019, S. 2–3; Finkenberg, 2018, S. 22).
- Fehlendes unmittelbares Feedback: Die Lernenden sind in der Selbstlernphase auf sich allein gestellt, weshalb Fragen zu den Lerninhalten gegebenenfalls erst in der kollaborativen Phase beantwortet werden können (Sams/Bergmann, 2012, S. 23). Eine klare Anleitung und verständliche Materialien sind daher entscheidend für den Lernerfolg (Sointu et al., 2023, 513 und 516).
In Bezug auf den betrieblichen Kontext geht aus der Literatur hervor, dass einige der Hauptvorteile von Flipped Classroom, die in erster Linie für Schüler und Studierende untersucht wurden, auch für erwachsene Lernende in der beruflichen Weiterbildung gelten (McDonald/Smith, 2013, S. 437). Darüber hinaus wird erwähnt, dass viele Tools und Ressourcen für Flipped Classroom zwar auf den schulischen und akademischen Bereich ausgerichtet sind, aber leicht in Unternehmen angewendet werden können (Nederveld/Berge, 2015, S. 171). Diese Aussagen wurden in den Studien jedoch bisher nicht empirisch untersucht.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Einsatz der Methode Flipped Classroom im betrieblichen Kontext bisher wenig Beachtung in der Literatur gefunden hat und es keine eindeutigen wissenschaftlichen Belege dafür gibt, dass er in Unternehmen zu nachweisbar besseren Lernerfolgen führt. Daher wurde folgende Forschungsfrage formuliert, die anhand eines Pilotprojekts in einem mittelständischen Medizintechnikunternehmen empirisch untersucht wurde:
Welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich aus Sicht der Lernenden und Lehrenden durch die Flipped-Classroom-Methode für das Corporate Training?
Pilotprojekt bei einem mittelständischen Medizintechnikunternehmen
Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde ein qualitativer Forschungsansatz gewählt, der auf zehn Einzelinterviews mit den Teilnehmenden des Pilotprojekts basiert. Die Interviews wurden teilstrukturiert mit neun Lernenden und dem Lehrenden durchgeführt, um die beiden unterschiedlichen Perspektiven zu erfassen. Das Pilotprojekt wurde in einem mittelständischen Medizintechnikunternehmen (ca. 1.000 Mitarbeitende) zum Erwerb von Produkt- und Prozedurwissen aus dem Bereich der Gastroenterologie nach der Methode des Flipped Classroom entwickelt, durchgeführt und evaluiert.
Das Pilotprojekt wurde in deutscher Sprache erstellt und richtete sich an die für Deutschland zuständigen Vertriebs- und Applikationsmanager. Diese müssen sowohl über fundierte Produktkenntnisse verfügen als auch auf dem neuesten Stand der angewandten Verfahren in den jeweiligen Fachgebieten sein, um eine qualitativ hochwertige Schulung beziehungsweise Einweisung der vertriebenen Medizinprodukte anbieten und sicherstellen zu können. Zu beachten war, dass die Zielgruppe eine heterogene berufliche Seniorität aufwies und eine unterschiedliche Erfahrung im Bereich der Gastroenterologie hatte. Die Teilnahme an der Schulung war freiwillig, das heißt, die zum Pilotprojekt eingeladenen Mitarbeitenden konnten sich in eine Teilnehmerliste eintragen.
Lehrender und gleichzeitig inhaltlicher Experte war der zuständige Produktmanager für Gastroenterologie, der über langjährige Erfahrung in diesem Fachbereich verfügt und auch Erfahrungen in der Erwachsenenbildung hat. Das Pilotprojekt wurde gemeinsam mit dem Academy Manager, der die Akademie des Medizintechnikherstellers leitet und langjährige Erfahrung im Bereich Lernen und Training mitbringt, konzipiert und durchgeführt.
In mehreren Projekttreffen wurde die Schulung unter Berücksichtigung der Grundform der Flipped-Classroom-Methode aus den theoretischen Grundlagen konzipiert und entwickelt.
Um die Inhalte für die Selbstlernphase kompakt zu halten und eine bessere Aufteilung und Organisation für die Lernenden zu ermöglichen, wurden vier kurze Kapitel erstellt, die in einem hierarchisch strukturierten Lernpfad angeordnet werden sollten. Gleichzeitig wurden verschiedene Lernmedien wie Fachartikel, Broschüren und Übungsaufgaben zusammengestellt, wobei das Hauptmedium eigens produzierte Lernvideos mit einer Länge von fünf bis neun Minuten waren. Die verschiedenen Lernmedien sollten den Lernenden die Möglichkeit geben, sich ihr Wissen selbstbestimmt und entsprechend ihren Lernpräferenzen anzueignen und es zu vertiefen. Da im Unternehmen bereits ein Learning-Management-System (kurz: LMS) etabliert war, konnten die Selbstlernphase inklusive der Lernmedien und die Kollaborationsphase darüber abgebildet und den Teilnehmenden nach Freischaltung zur Verfügung gestellt werden.
Nach einem internen Freigabeprozess, der eine Korrekturschleife für die Nachbearbeitung eines Lernvideos beinhaltete, wurden die Lernenden zur Schulung eingeladen, wobei ihnen zwölf Werktage beziehungsweise 16 Kalendertage für die Selbstlernphase bis zur gemeinsamen Kollaborationsphase zur Verfügung standen, um sich das Wissen über die verschiedenen Medien anzueignen. Über ein im LMS integriertes Kontaktformular hatten die Lernenden während der Selbstlernphase die Möglichkeit, sich bei Fragen an die Schulungsverantwortlichen zu wenden. Alle neun Lernenden schlossen die Selbstlernphase fristgerecht ab.
Abbildung 2 zeigt, wie die beiden Phasen gemäß der Flipped-Classroom-Methode im LMS dargestellt wurden. Durch Anklicken einer der beiden Phasen gelangte man direkt zu den entsprechenden Kursmodulen, das heißt entweder zum Lernpfad mit den einzelnen Lernkapiteln der Selbstlernphase oder zur Kursbuchung für die Kollaborationsphase.
Die Kollaborationsphase wurde online über eine Videokonferenzsoftware (MS Teams) durchgeführt und war auf insgesamt zwei Stunden angesetzt. Basierend auf der Konzeptentwicklung wurde die Phase in zwei Teile gegliedert:
Der erste Teil bestand aus einem interaktiven Clicker-Quiz mit zehn Multiple-Choice-Fragen, um das Wissen der Lernenden aufzufrischen und zu überprüfen. Hierfür wurde die Plattform Mentimeter verwendet, die interaktive Online-Umfragen mit anonymer Live-Abstimmung ermöglicht.
Für den zweiten Teil und damit den Hauptteil der Phase wurden die Lernenden in zwei Gruppen aufgeteilt, in denen Anwendungsaufgaben und Rollenspiele zur Vertiefung des Wissens und zum Praxistransfer durchgeführt wurden. Der Produktmanager fungierte während der gesamten Phase als Moderator und Coach und begleitete die Lernenden in ihrem Lernprozess, während der Academy Manager technische Unterstützung leistete. Aus verschiedenen Gründen (inhaltliche Verständnisfragen und technische Schwierigkeiten einzelner Lernender) kamen die beiden Gruppen bei der Bearbeitung der Aufgaben unterschiedlich schnell voran, sodass dieser Teil um 30 Minuten verlängert wurde. Eine abschließende Diskussion im Hauptraum mit allen Teilnehmenden war jedoch aus Zeitgründen nicht mehr möglich.
Ergebnisse des Pilotprojekts
Lernende: Der Aufbau der Methodik mit den zwei Phasen wurde von den Lernenden als klar und verständlich empfunden, was es ihnen erleichterte, sich auf die Methode einzulassen. Die Selbstlernphase inklusive der zur Verfügung gestellten Lernmedien wurde von allen Lernenden positiv bewertet, wobei insbesondere die Lernvideos intensiv genutzt und als besonders effektiv für das Verständnis bewertet wurden. Dies wird vor allem durch die Aussage eines Lernenden im Interview unterstrichen: "Am meisten habe ich von den Lernvideos profitiert, die ich mir in Ruhe angeschaut habe. Besonders hilfreich war, dass man in den Videos zurückspulen und so einzelne Sequenzen wiederholen konnte, wenn etwas unklar war." Andere Lernmaterialien wie Fachartikel oder Broschüren wurden unterschiedlich herangezogen.
Der erste Teil der Kollaborationsphase, das Clicker-Quiz, wurde von den Lernenden als motivierend, unterhaltsam und anregend empfunden, um das in der Selbstlernphase Gelernte zu überprüfen und aufzufrischen. Darüber hinaus schuf es nach den Erfahrungen der Lernenden von Anfang an eine angenehme, offene und interaktive Atmosphäre zwischen den Schulungsteilnehmenden.
Der zweite Teil der Kollaborationsphase brachte für die Lernenden unterschiedliche Erfahrungen mit sich. Insbesondere die interaktiven Elemente wie Rollenspiele wurden von einigen positiv hervorgehoben und ihr praktischer Nutzen betont: "Es ist etwas ganz anderes, wenn man das Gelernte, also die Theorie, im zweiten Teil direkt praxisnah üben und anwenden kann, zum Beispiel in einer Simulation. Das vertieft das Wissen noch einmal und es prägt sich einfach viel besser ein." Demgegenüber wurden aber auch Herausforderungen wie die begrenzte Zeit für die Aufgaben und technische Schwierigkeiten angesprochen. Einzelne Lernende fühlten sich von der Handhabung der Online-Schulung überfordert und konnten der Aufgabenstellung nicht folgen. Ein befragter Lernender beschrieb dies wie folgt: "Es ging mir zu schnell und es war mir zu kompliziert. Ich war zu sehr damit beschäftigt, die Software zu bedienen, die verschiedenen Dokumente herunterzuladen und sie mit der Aufgabenstellung in Verbindung zu bringen." Ein anderer Lernender sprach zusätzlich von Barrieren und Einschränkungen, die er aufgrund der Tatsache empfand, dass die Kollaborationsphase online und nicht in Präsenz stattfand. "Wenn man in einer Schulung physisch zusammensitzt, ist es einfacher, mit den Teilnehmenden zu interagieren und sich auszutauschen. In einem Online-Setting finde ich das schwieriger, weil es auch gewisse Kommunikationsbarrieren gibt. Das gilt auch für die Koordination der Aufgaben und die Zusammenarbeit in den Breakout-Räumen."
Fast alle Lernenden empfanden die Rolle des Lehrenden als Coach in dieser Phase als lernförderlich und unterstützend, da sie durch seine Anleitung und Beratung zu eigenständiger Erarbeitung der Aufgaben ermutigt wurden. Nur zwei der neun Lernenden kritisierten diese Rolle und wünschten sich die traditionelle Rolle des Lehrenden als aktiven Wissensvermittler, der komplexe Inhalte präsentiert und erklärt, anstatt sie selbst erarbeiten zu müssen. "Mir hat ein Moderator gefehlt, der das Ganze leitet, die Aufgabenstellung in Ruhe erklärt und das Ziel der einzelnen Gruppenarbeiten noch einmal verdeutlicht", so die Aussage eines Lernenden.
In der Vergangenheit fanden die Schulungen im Unternehmen überwiegend in traditionellen Schulungsformaten statt, zum Beispiel in Form von Vorträgen und Präsentationen mit einem hohen Anteil an Frontalunterricht und wenig Interaktion. Sieben der neun Lernenden äußerten in diesem Zusammenhang den Wunsch, die Flipped-Classroom-Methode in zukünftigen Schulungen auszuweiten und in weitere Fachbereiche des Unternehmens zu integrieren. Besonders deutlich wird dies in der Aussage eines Lernenden: "Also ich fand es viel besser. Ich persönlich profitiere auch viel mehr von so einer Lehrmethode als vom klassischen Frontalunterricht." Ein anderer befragter Lernender empfand insbesondere die Aufteilung in Selbstlern- und Kollaborationsphase inklusive der verschiedenen interaktiven Elemente als sehr erfrischend und äußerte: "Das Gelernte wird in der Methode von verschiedenen Seiten beleuchtet: Es wird gelehrt, geteilt, abgefragt und gefordert. Das macht Spaß, das motiviert und das ist definitiv die Zukunft der Lehr- und Lernmethoden."
Insgesamt wurde die Methode Flipped Classroom von allen Lernenden positiv bewertet, insbesondere die kontinuierliche Verfügbarkeit der Lernmaterialien aus der Selbstlernphase wurde geschätzt.
Lehrender: Der Lehrende beziehungsweise Produktmanager für Gastroenterologie hatte vor dem Pilotprojekt keine Erfahrung mit der Methode Flipped Classroom, konnte aber auf umfassende Erfahrungen in der Erwachsenenbildung zurückgreifen.
Entscheidend für die erfolgreiche Konzeptentwicklung war die enge Zusammenarbeit mit dem Academy Manager, der vor allem den methodisch-didaktischen Rahmen vorgab. Bei der Erstellung von Lernmedien wie Lernvideos half es dem Lehrenden, sich in die Rolle der Lernenden zu versetzen, was Erfahrung und Kompetenz voraussetzt. In diesem Zusammenhang wurde die Bedeutung von Authentizität in Lernvideos hervorgehoben, um unnötige Korrekturschleifen bei kleinen sprachlichen Fehlern zu vermeiden. Darüber hinaus halfen kurze Lerneinheiten, sogenannte "Learning Nuggets", die Inhalte kompakt und für die Lernenden möglichst praxisnah und verständlich zu gestalten.
Der erste Teil der Kollaborationsphase mit dem interaktiven Clicker-Quiz funktionierte aus Sicht des Lehrenden sehr gut und war geeignet, das Wissen der Lernenden aus der Selbstlernphase aufzufrischen und den Einstieg in die Diskussionen zu erleichtern. Die Moderation des Quiz erforderte jedoch Übung und Erfahrung, da die Lernenden anfangs zurückhaltend und gezielte Interaktionsmechanismen notwendig waren.
Im zweiten Teil der Kollaborationsphase wurden die Lernenden zur Bearbeitung der Aufgaben auf zwei digitale Räume verteilt, wodurch eine neue Dynamik in einer kreativen und kollaborativen Umgebung entstand. Eine besondere Herausforderung stellte jedoch der Zeitfaktor dar, da die beiden Gruppen unterschiedlich schnell mit der Bearbeitung der Aufgaben vorankamen und Verständnisfragen sowie technische Herausforderungen parallel auftraten. Insbesondere die Unterstützung durch eine zweite Person mit Methodenkompetenz, wie in diesem Fall durch den Academy Manager, wurde in diesem Zusammenhang empfohlen. Der befragte Lehrende begründete dies wie folgt: "Ich kann mich natürlich nicht bei zwei Gruppen teilen. Das heißt, für mich war es wichtig, dass ich trotzdem jemanden habe, der mich unterstützt. Gleichzeitig habe ich gemerkt, dass oft nicht so sehr fachlich-inhaltliche Fragen auftauchen, sondern eher Fragen zu den Rahmenbedingungen."
Der Lehrende empfand seine Rolle als Coach in dieser Phase als herausfordernd, da er es gewohnt war, eine aktive Rolle als Wissensvermittler einzunehmen, was eine Umstellung und Anpassungsfähigkeit an die neue Rolle erforderte.
Insgesamt bewertete der Lehrende Flipped Classroom nach dem Pilotprojekt positiv und schätzte insbesondere die Flexibilität der Methode und die Möglichkeit, die Schulungen modular zu erweitern und die Lernmedien als Nachschlagewerk zu nutzen. Zudem bewegten sich die Lernenden nach den Aussagen des Lehrenden durch den selbstbestimmten Lernprozess und die unmittelbare Anwendung des Gelernten mit Praxisbezug auf einem höheren kognitiven Niveau.
Praktische Implikationen und Handlungsempfehlungen
Die Ergebnisse zeigen, dass die Methode sowohl individualisiertes, flexibles als auch aktivierendes Lernen fördert und mit einer gesteigerten Lehr- und Lernzufriedenheit verbunden ist. Insbesondere durch die unmittelbare Anwendung des in der Selbstlernphase Gelernten in der gemeinsamen Kollaborationsphase konnten im Pilotprojekt eine vertiefte Wissensvermittlung erreicht und der Praxisbezug sichergestellt werden, wodurch ein nachhaltiger Lernerfolg erzielt und die Integration in den Berufsalltag erleichtert wurde. Darüber hinaus bietet Flipped Classroom die Chance, der Wissensheterogenität in den Schulungszielgruppen effektiv zu begegnen und die Lernenden individuell zu fördern, wodurch eine starke Lernendenzentrierung in den Mittelpunkt rückt. Insbesondere in der Selbstlernphase tragen die kurzen Lerneinheiten sowie der Methodenmix aus analogen und digitalen Lernmedien dazu bei, die Lerninhalte kompakt zu halten und durch die Vielseitigkeit unterschiedliche Lerntypen anzusprechen. Es ist dabei wichtig, sorgfältig zu prüfen, ob die Anwendung der Flipped-Classroom-Methode in Corporate Trainings einen Mehrwert bringt. Die Methode sollte nicht vorausgewählt werden, sodass sich der Inhalt der Schulung nach der Methode richtet, sondern umgekehrt, wobei die gewählte Methode auch zu den Teilnehmenden passen sollte.
Aus den Ergebnissen der qualitativen Forschung und den Erfahrungen des Pilotprojekts lässt sich ableiten, dass der Schlüssel zum Erfolg der Methode insbesondere in der Übernahme der Eigenverantwortung der Lernenden liegt. Die Lernenden müssen intrinsisch motiviert sein, die Selbstlernphase effektiv zu nutzen und sich entsprechend intensiv mit den Lernmedien vorzubereiten, um den größtmöglichen Nutzen aus der Kollaborationsphase ziehen zu können. Dies wird vor allem durch die Arbeits- und Lernkultur im Unternehmen beeinflusst, die eigenverantwortliches Lernen ermöglichen und fördern muss.
Das untersuchte Medizintechnikunternehmen stellt hierfür vor allem Ressourcen zur Verfügung, indem zum Beispiel jeder Mitarbeitende über eine Lernplattform der Akademie Zugang zu qualitativ hochwertigen Lernangeboten in unterschiedlichen Formaten hat und den Mitarbeitenden ausreichend Lernzeit während der Arbeitszeit zur Verfügung steht. Darüber hinaus werden die Relevanz der Lerninhalte sowie der Lernfortschritt der Mitarbeitenden regelmäßig im Rahmen von Review-Runden durch Führungskräfte, Fachexperten und den Academy Manager überprüft und entsprechend an die Mitarbeitenden kommuniziert.
Ebenso ist die Methode in der initialen Umsetzung mit einem hohen Planungs- und Vorbereitungsaufwand verbunden und erfordert neue Kompetenzen seitens der Schulungsverantwortlichen, um ein effektives Konzept mit zwei aufeinander abgestimmten Phasen zu entwickeln, umzusetzen und durchzuführen. In diesem Zusammenhang hat sich im Pilotprojekt die Zusammenarbeit zwischen dem Produktmanager, der den inhaltlichen Part übernahm, und dem Academy Manager, der den methodisch-didaktischen Rahmen vorgab, als besonders effektiv erwiesen. Auch die dauerhafte Verfügbarkeit der Lernmedien aus der Selbstlernphase bietet die Möglichkeit, die Schulung flexibel zu erweitern oder in einen bestehenden Lernweg zu integrieren, wobei auch die Lernenden jederzeit auf die Lernmedien zugreifen können. Im Rahmen des Pilotprojekts konnten zehn zentrale Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, die auch auf andere Projekte und Bereiche im Zusammenhang mit Flipped Classroom im betrieblichen Kontext übertragbar sind und in Abbildung 3 zusammengefasst wurden.
Insgesamt stehen Rahmenbedingungen wie die technische Ausstattung, die in der Regel in den Unternehmen vorhanden ist, oder das eigenverantwortliche Lernen, das in vielen Jobrollen, zum Beispiel bei Vertriebsmitarbeitenden, automatisch gegeben oder in der Lernkultur des Unternehmens verankert ist, dem Einsatz von Flipped Classroom im betrieblichen Kontext nicht entgegen. Auch wenn die Implementierung der Methode mit einem hohen initialen Aufwand verbunden ist und für Lehrende und Lernende zunächst eine Umstellung bedeuten mag, kann sie die Effizienz und Effektivität des Lehr- und Lernprozesses erhöhen und langfristig die Anpassungsfähigkeit der Lehrenden und Lernenden an sich verändernde Arbeits- und Lernumgebungen stärken. Letztlich fördert die Methode eine innovative und moderne Lernumgebung und bietet damit Unternehmen die Chance, sich durch ein effektives Wissensmanagement nachhaltig und agil aufzustellen und den Digitalisierungs- und Transformationsgrad zu erhöhen.
Die Methode Flipped Classroom wird sich auch in Zukunft weiterentwickeln, da neue moderne Technologien und Tools kontinuierlich integriert werden können, um den sich ändernden Anforderungen gerecht zu werden. Zusammenfassend kann daher konstatiert werden, dass Flipped Classroom vielversprechende Chancen und Potenziale bietet und von den Unternehmen bei der Auswahl ihrer Schulungsmethoden stärker berücksichtigt und einbezogen werden sollte.
Dieser Beitrag ist erschienen im Wissenschaftsjournal PERSONALquarterly, Ausgabe 4/2024 mit dem Schwerpunktthema "Resilienz am Arbeitsplatz".
Die Autoren:
Prof. Dr. Stefan Detscher, Geschäftsführender Direktor Digital Business Institute & School, Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) Nürtingen-Geislingen
Patrick Walker, Academy Manager – Learning & Training, Bowa Medical, Bowa-electronic GmbH & Co. KG
Moritz Astfalk, Product Manager – Learning & Training, Bowa Medical, Bowa-electronic GmbH & Co. KG
Literaturverzeichnis:
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Finkenberg, F. (2018): Flipped Classroom im Physikunterricht. Berlin, Germany: Logos Verlag Berlin GmbH.
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