"Wir sollten uns größere Sprünge zutrauen"
Matthias Haller: Frau Wiese, Sie haben als Mitglied des siebenköpfigen Vorstandsgremiums der Siemens AG eine Doppelverantwortung für die Ressorts Personal und Nachhaltigkeit. Bedeutet das auch doppeltes Stimmgewicht bei Entscheidungen?
Judith Wiese: Viele meiner Vorstandskolleginnen und -kollegen haben eine Verantwortung für Geschäfte sowie für weitere Querschnittsfunktionen wie IT, Cybersecurity oder den Einkauf. Außerdem führen wir im Vorstand auch Länder. So bin ich verantwortlich für die Region Lateinamerika, die nordischen Länder und die Niederlande. Wir haben also alle mehrere Verantwortungsbereiche. Und das ist gut so, denn der Vorstand ist aktienrechtlich ein Organ und somit gesamtheitlich verantwortlich für das Siemens-Geschäft.
"DEGREE" statt "ESG": Nachhaltigkeit ist nah am Menschen
Haller: Bei Personal und Nachhaltigkeit gibt es einige Überschneidungspunkte, etwa den Aspekt der sozialen Nachhaltigkeit. Ist das eine Paarung, die die Kräfte verstärkt?
Judith Wiese: Absolut. People & Organization sowie Nachhaltigkeit liegen im Vorstand tatsächlich gut in einer Hand. Wir haben die ESG-Ziele in unser Nachhaltigkeitsrahmenwerk DEGREE übersetzt – dazu gehören Umweltaspekte (Dekarbonisierung und Ressourceneffizienz), Governance-Aspekte und soziale Aspekte, also „Equity“ (Teilhabe), Employability“ (Beschäftigungsfähigkeit) und Ethik. Nachhaltigkeit ist also sehr nah am Menschen. Dazu kommt: Sowohl Personal als auch Nachhaltigkeit sind Querschnittsfunktionen. Es ist wichtig, dass die Personalarbeit nicht in einem Zentralbereich angesiedelt ist, sondern dass all das, was Menschen, Organisation oder Teamführung angeht, überall im Unternehmen verankert ist. Das Gleiche gilt für die Nachhaltigkeit. Wie in vielen anderen Firmen war Nachhaltigkeit auch bei uns anfangs eine Funktion, die neben anderen Stabsstellen stand. Wirklichen Impact aber hat sie, wenn sie Teil des Geschäftes ist. Mittlerweile haben wir die Nachhaltigkeitsaspekte in allen unseren Geschäften und in allen Funktionsbereichen fest verankert. Bei Siemens geht es dabei nicht nur darum, was wir nach innen tun, sondern wie unser Portfolio nach außen wirkt. Wir glauben, dass mehr als 90 Prozent unseres Umsatzes es den Kunden ermöglicht, einen positiven Nachhaltigkeitsbeitrag zu leisten. Das hängt zum Teil natürlich davon ab, wie Kunden unser Angebot anwenden. Unseren Digitalen Zwilling beispielsweise können sie nutzen, um Kosten zu optimieren - sie können aber neben den Kosten auch die Qualität oder die Nachhaltigkeit optimieren. Nachhaltigkeit ist zudem verstärkt ein Teil unserer zentralen Governance geworden.
Haller: Man kann in Gesprächen mit Personalerinnen und Personalern bisweilen den Eindruck gewinnen, dass die HR-Profession ein Anerkennungsproblem, vielleicht sogar einen Minderwertigkeitskomplex hat. Welchen Stellenwert hat bei Siemens die People-Funktion?
Judith Wiese: Ich bin in meinem Job angelsächsisch sozialisiert worden. Dort hat die Personalfunktion schon länger einen höheren Stellenwert. Ich bin mit dem Selbstverständnis großgeworden, dass es im Unternehmen zwei Copiloten gibt: Finanzen und P&O. Das ist aus meiner Sicht auch richtig so. Gerade in Zeiten, in denen Menschen ein Erfolgs- und Wettbewerbsfaktor sind, ist es wichtig, dass wir uns an den Tisch setzen – egal, ob wir explizit eingeladen sind – und unserer Rolle nachkommen. Wir sind eine Geschäftsfunktion, so sollten wir uns verstehen und so sollten wir auch handeln. Wir haben bei Siemens viel in P&O investiert, vor allem auch in das Thema Daten. Also: Wie datengetrieben sind wir, sind wir in der Lage, wichtige Einsichten mit an den Tisch zu bringen und unsere Themen auch danach zu steuern? Das hat in einem ingenieursgetriebenen Unternehmen bereits viel dazu beigetragen, Glaubwürdigkeit und auch Substanz in die Unterhaltung zu bringen.
Personalarbeit muss das Business verstehen
Haller: In Ihrer Ansprache als frisch gekürte CHRO of the Year 2024 haben Sie betont, dass es der Anspruch der Personalarbeit sein muss, zu verstehen, wie das Business läuft, um überhaupt unterstützen oder gestalten zu können. Wie kann das konkret aussehen?
Judith Wiese: Natürlich können wir unsere Funktion auch rein funktional spielen. Aber am Ende des Tages ist es doch wichtig zu wissen, wo das Geschäft hinwill, wie das Geschäft sich unterscheidet, wo es im Unternehmen und den Märkten strategische Prioritäten gibt. Um dann eine tragfähige und effiziente Personal- und Organisationsstrategie dahinter zu bauen. Wir versuchen immer zu unterscheiden: Es gibt einerseits Themen, die wir für alle im Unternehmen sicherstellen wollen. Beim Thema People Experience beispielsweise wollen wir, dass alle Menschen, die bei Siemens arbeiten, eine positive Erfahrung machen. Das ist im Wesentlichen die Aufgabe von Teams und Führungskräften und sollte überall bei Siemens denselben Werten und Maßstäben folgen. Es gibt andererseits aber auch Themen, bei denen wir entsprechend der Geschäftsstrategie differenzieren. Wir definieren etwa derzeit, welche Schritte es noch braucht, um uns überall als führendes Technologieunternehmen zu positionieren. Dafür haben wir als Unternehmen strategische Prioritäten gesetzt. Um diesen gerecht zu werden, müssen wir uns fragen: Wie laufen die Strukturen und Verantwortungen? Welche Kompetenzen braucht es? Welche Führungskultur braucht es? Welche Incentivierungssysteme? Das sehen wir uns genau an. Wenn ich immer nur den großen Siemens-Durchschnitt vermelde, ist der Erkenntniswert gering. Stattdessen haben wir zum Beispiel in Zeiten nach der Covid-Krise stärker darauf geachtet, wohin sich unsere Tech-Talente bewegen, oder was in ganz spezifischen Märkten, die besonders aufgeheizt waren, passierte. Es braucht also ein Geschäftsverständnis einerseits und das Datenverständnis andererseits, um konkrete Aussagen darüber treffen zu können, wie sich Themen entwickeln und wie wir diese künftig steuern wollen.
Haller: Was sind die Eckpfeiler Ihrer Personalstrategie?
Judith Wiese: Wir haben im April unsere neue P&O-Strategie gelauncht, und zwar im Vorgriff auf die Richtung, die wir als Unternehmen einschlagen. Welche wichtigen transformatorischen Bereiche im Unternehmen müssen sich verändern? Darauf schauen wir und investieren beispielsweise in Experten für Organisationsentwicklung, die diese Prozesse begleiten können. Auch Führung ist natürlich zentral. Wir haben 25.000 Führungskräfte weltweit, 22.000 davon sind sogenannte "First-Line-Manager", die Teams leiten. Deren Hauptaufgabe ist es, die Erfahrung von Menschen bei Siemens zu begleiten und die Effektivität ihrer Teams sicherzustellen. Daneben beschäftigt uns das Thema "Skills for Life", also welche Fähigkeiten brauchen Menschen heute und in Zukunft, um resilient und relevant zu bleiben? Damit sind wir beim lebenslangen Lernen, das mir persönlich ein großes Anliegen ist. Das wollen wir nicht nur für die Menschen bei Siemens realisieren, sondern auch verstärkt zu unseren Kunden und Lieferanten tragen. Auch in den Communities, in denen wir arbeiten, wollen wir uns noch stärker auf das Thema Skills for Life konzentrieren und engagieren.
Veränderung als dauerhaften Zustand annehmen
Haller: Sie haben in Ihrer Ansprache formuliert, dass sowohl in den Unternehmen als auch als im Land die Transformation nicht unter einer Glasglocke abläuft. Aus der Wirtschaft werden immer wieder Rufe nach Subventionen und Beschäftigungssicherungsprogrammen laut, man könnte auch sagen: nach einer Abfederung der Transformationsschmerzen. Ziehen Sich die Unternehmen da zu leicht aus der Verantwortung?
Judith Wiese: Der Punkt ist doch, dass Veränderung einfach passiert – ob ich mich unter die Glasglocke lege und totstelle oder nicht. Insofern müssen Unternehmen und Menschen in Bewegung bleiben. Wir sagen häufig, Lernen ist wie ein Muskel, der regelmäßig trainiert werden muss, damit er nicht verschwindet. Es geht darum, in Bewegung zu bleiben. Menschen und Unternehmen kommen mit Veränderungen viel besser klar, wenn sie das als einen dauerhaften Zustand annehmen und sich selbst eine aktive Rolle dabei zuschreiben. In dem Moment, in dem ich davon ausgehe, dass irgendeiner dafür sorgen wird, dass sich zumindest in meinem Umfeld so wenig wie möglich verändert, gebe ich Selbstbestimmtheit und Gestaltungsmöglichkeiten aus der Hand. Ich finde, das steht keinem von uns Menschen gut, und es steht sicherlich auch keinem Unternehmen gut.
Haller: Wie können Sie den Leuten dieses Verständnis von lebenslangem Lernen vermitteln?
Judith Wiese: Lebenslanges Lernen ist grundsätzlich eine Reise. Wir gehen sie gemeinsam mit unseren Sozialpartnern. Es war uns wichtig, bei Leuten, die lange aus dem formalen Lernen raus waren, Ängste abzubauen, ihnen Sicherheit zu geben und sie dann wieder ins Lernen zu bringen. Außerdem hat sich die Vorstellung, wie man lernt, massiv verändert. Lernen ist viel digitaler geworden. Damit wird auch häufiger und in kleineren Einheiten gelernt. Heute schicken wir die Leute nicht mehr auf einen zweiwöchigen Kurs im Jahr, sondern das Lernen passiert sowohl im täglichen Tun als auch im formalen Lernen nah an der Arbeit. Das kann man orchestrieren und aussteuern. Auch in diesem Bereich haben wir angefangen, datengetrieben zu agieren. Wir messen, was die Leute lernen, wer wie viel lernt und wo wir unter Umständen nachsteuern müssen. Über unsere digitalen Lernplattformen schicken wir auch als "Push" wichtige Lerninhalte zu den Menschen. Als wir beispielsweise den sog. "Siemens Xcelerator" gelauncht haben – unsere digitale Plattform, über die wir den Kunden unsere Produkte anbieten –, haben wir im Vorfeld dafür gesorgt, alle Vertriebsmitarbeitenden entsprechend zu qualifizieren. Zu zentralen Themen bieten wir breit angelegte Basecamps an: eins für die Digitalisierung, eins zu KI und eins zu Nachhaltigkeit. All das sind Beispiele, wie wir die Menschen bei uns in Bewegung halten. Am Ende des Tages passiert auch viel Lernen "on the job".
Gute Kommunikation ist immer vorbereitet und nie zufällig
Haller: Wie würden Sie Ihren Führungsstil beschreiben?
Judith Wiese: Ich bin jemand, der erstens vom Niederrhein kommt und zweitens im Großraumbüro sozialisiert ist. Das heißt, ich komme aus sehr egalitären Strukturen und Kulturen, und so lebe ich auch meine Rolle bei Siemens. Mein Team hat mir zurückgemeldet: "Du bist ambitioniert und hängst die Latte hoch. Aber du tust, was du tust, auf menschliche Art und Weise. Wir haben immer das Gefühl, wir machen es zusammen, und ich fühle mich als Mensch gesehen und abgeholt." Ich denke, dieses Statement trifft es ganz gut!
Haller: Gibt es Vorbilder, von denen Sie persönlich etwas für die Arbeit mitgenommen haben?
Judith Wiese: Da gibt es eine ganze Reihe von Leuten, von denen ich unterschiedliche Dinge mitgenommen haben. Von einem meiner Lieblingschefs habe ich zum Beispiel gelernt, dass gute Kommunikation immer sorgfältig vorbereitet ist und nie zufällig passiert. Das habe ich mir gemerkt.
Haller: Wo nehmen Sie die Energie her oder wo tanken Sie wieder auf?
Judith Wiese: Wenn ich in meiner Arbeitszeit immer nur Energie geben und nie bekommen würde, säße ich schon lange nicht mehr hier. An vielen Tagen, wenn auch nicht immer, gibt mir meine Arbeit viel Energie. Ansonsten sind es ganz simple Dinge, etwa meine "italienischen Momente". Das heißt für mich: Ich gehe nach Hause zu Menschen, die ich liebe und die mich lieben. Wenn es dazu gutes Essen und ein schönes Glas Wein gibt und vielleicht noch die Sonne scheint, dann ist alles gut.
Haller: Sie haben viele Jahre im Ausland verbracht, waren lange in den USA und leben heute mit Ihrer Familie in Maastricht. Wie blicken Sie mit diesen Erfahrungen auf die Debatten und Herausforderungen hierzulande?
Judith Wiese: Wenn man lange im Ausland gelebt hat, lernt man Vieles am eigenen Land wieder enorm zu schätzen. Wir haben in Deutschland eine Bevölkerung, die im Wesentlichen extrem gut ausgebildet ist. Wir haben keine Rohstoffe, aber wir haben Menschen und die Schätze in ihren Köpfen – das ist wichtig und das müssen wir erhalten. Ich finde uns Deutsche in vielen Bereichen angenehm unaufgeregt. Wir sind sachlich und das tut vielen Debatten sehr gut. Ich würde mir aber beim Blick von außen auf Deutschland wünschen, dass wir aus dem sehr Evolutionären, sehr Erfahrungsbasierten herausgehen und uns auch mal zutrauen, größere Sprünge zu machen - also nicht die Frage nach dem "Wie" stellen, sondern fragen "Was ist möglich?"
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