Inzwischen gibt es über fast alles eine eigene Statistik. Natürlich untersuchen Expertinnen und Experten auch, wie viele Unternehmen ihre internen Transformationsprozesse erfolgreich umsetzen. Leider beziehen sich diese Erhebungen oftmals nur auf Organisationen, die freiwillig in eine solche Veränderung gestartet sind. Bei Betrieben, die keine Wahl hatten, die sich nach dem Motto "Change it or die" verändern mussten, bleibt die Frage nach Erfolg oder Scheitern meist unbeantwortet.
Wege, wie Veränderung ins Rollen kommt
Doch auch bei diesen freiwilligen Initiativen sieht die Erfolgsquote mau aus. Auch ohne genaue Statistik wissen erfahrene Berufstätige, dass drei von vier Veränderungsprozessen in die Hose gehen. Im Klartext: 75 Prozent dieser Change-Projekte scheitern. Was für eine mentale Bankrotterklärung!
Und der rote Faden zieht sich weiter. Denn jede sinnvolle kulturelle Weiterbildung – zum Thema Werte, Führungsprinzipien, Kulturwandel oder Leadership – trägt in ihrer Konsequenz Veränderungen ins System. Daraus lässt sich leicht ableiten, dass ein ebenso großer Anteil gut gemeinter Weiterbildungsmaßnahmen scheitert. Doch warum geben Unternehmen mit bestem Gewissen viele Millionen aus, wenn so wenig in die Praxis transferiert wird? Was stimmt da nicht? Was muss sich ändern?
Schauen wir uns zuerst an, warum Veränderung überhaupt angestoßen wird. Es gibt vier grundsätzliche Antriebe, aus denen heraus Menschen und damit auch Unternehmen sich verändern:
- Wenn jemand genügend gelitten hat – dann musst du. Der Schmerz treibt an.
- Wenn jemand genügend gesehen hat – dann bist du inspiriert. Ein Vorbild zieht mit.
- Wenn jemand genügend gelernt hat – dann willst du. Kompetenz gibt Selbstvertrauen.
- Wenn jemand genügend erlebt hat – dann bist du befähigt. Weisheit zeigt den Weg.
Schmerz als Antrieb - so verpönt wie sein Ruf?
Nummer eins ist eine klare "Weg-von"-Motivation. Die kennt jeder, der sich schon einmal mit Motivation beschäftigt hat. Leid ist ein sehr starker Motor. Eine starke Kraft. Die Krux jedoch: "Schmerz als Antrieb" ist sozial unerwünscht. Gilt als schlecht. Als negativ und böse. Deshalb wollen wir nichts damit zu tun haben und können diesen Antrieb schwer wahrnehmen, ohne darüber zu urteilen. Aus diesem Grund gibt es "Deadlines" (man beachte das Wort!), Kontrollsysteme oder Verträge.
Inzwischen belegen immer mehr Untersuchungen, dass das Vermeiden von Schmerz etwa 60 Prozent unserer Antriebsenergie ausmacht. Damit wird klar: Wer die Weg-vom-Schmerz-Motivation in Veränderungsprozessen nicht nutzt, verzichtet auf 60 Prozent der gesamten Antriebsenergie! Jetzt höre ich schon den moralischen Aufschrei praxisferner Theoretiker, die im Idealismus feststecken …
Kommen wir zu den drei anderen Antriebskräften: Vorbild, Kompetenz und Weisheit (gesunder Menschenverstand). Sie machen gemeinsam die restlichen 40 Prozent der Antriebsenergie aus. Bei diesem Trio geht es um die sozial erwünschte, von vielen bevorzugte Hin-zu-Motivation. Und jetzt wird klar, wie wenig Antrieb Menschen spüren, wenn wir nur auf Vorbilder, nur auf Kompetenzen oder nur auf den gesunden Menschenverstand setzen.
Unternehmen lassen die Antriebsenergie verpuffen
Warum scheitern nun so viele Veränderungsprojekte in der Praxis? Weil Unternehmen sich nicht an diesen Erkenntnissen orientieren. Weil sie den Großteil der Antriebsenergie verpuffen lassen. So entstehen 80 Prozent aller Umsetzungsschwächen. Diese Schwächen kommen aus der mentalen Tiefe und zeigen sich im Alltag auf verschiedenen Ebenen.
Sichtbar wird die fehlende Energie zum Beispiel durch falsche Erwartungen, durch mangelnde Klarheit über die möglichen Ergebnisse, durch schwankende Entschlossenheit oder vorgetäuschtes Interesse der Hauptentscheider. Sie zeigt sich durch Manipulationsversuche, durch Überlegenheitsgefühle, durch die Verwechslung von Interessen- und Einflussbereich – und vor allem durch die Überschätzung von Werkzeugen und die Unterschätzung mentaler Zustände.
Die Liste der Symptome ist lang. Doch wer sie erkennt und sich mit ihnen beschäftigt, landet bald beim beschriebenen Kern der Sache. Mit der Folge: Es entsteht ein tieferes Verständnis. Sodass sich die mentale Haltung der Beteiligten flexibel an die Veränderungen anpasst. Diese Fähigkeit und Klarheit wünsche ich Ihnen für Ihren nächsten Transformationsprozess.
Über den Kolumnisten: Boris Grundl ist Führungskräftetrainer und gilt bei Managern und Managerinnen sowie Medien als "Der Menschenentwickler" (Süddeutsche Zeitung). Er ist Inhaber des Grundl Leadership Instituts, das Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Dafür erforscht, testet und lehrt das Institut hochwertige, praxisrelevante Unterscheidungen - als Voraussetzung für Wahrnehmung und Erkenntnis.