So arbeiten Teams und ganze Unternehmen selbstorganisiert
Die heutige Wirtschaftswelt zeichnet sich durch einen ständigen und gleichzeitig unvorhersehbaren Wandel aus. Dave Snowden stellt diese Situation mit seinem Cynefin-Modell treffend dar. Das Modell unterscheidet vier Domänen von Problemstellungen: einfach (simple), kompliziert (complicated), komplex (complex) und chaotisch (chaotic). Während einfache und komplizierte Probleme mit klassischen Methoden des Projektmanagements zu lösen sind, ist das für komplexe und chaotische Situationen nicht mehr möglich. Organisationen reagieren darauf mit dem Ruf nach Agilität, veränderter Führung und einer Flexibilisierung der Strukturen. Dabei schwingt die Forderung nach deutlich eigenverantwortlicherem Arbeiten und mehr Selbstorganisation mit.
Unsere Erfahrung aus Beratungsprojekten zeigt, dass das einfache Umsetzen erfolgreicher Beispiele selbstorganisierten Arbeitens anderer Unternehmen schnell zu einem Scheitern führt. Als Antwort darauf haben wir ein Modell entwickelt, das auf die Voraussetzungen schaut, die selbstorganisiertes oder auch agiles Arbeiten fördern und einen ganzheitlichen Blick auf dieses Veränderungsvorhaben wirft. Das Modell umfasst die fünf Handlungsfelder "Sinn und Zweck", "Kultur“, "Führung“, "Prozesse und Strukturen" sowie "Mitarbeiterkompetenzen“.
Selbstorganisiertes Arbeiten - Definition
Doch was bedeutet Selbstorganisation eigentlich konkret? Es lassen sich dabei drei Stufen des selbstorganisierten Arbeitens unterscheiden. Auf der niedrigsten Stufe entscheiden die Teammitglieder eigenständig, wie sie ihre Arbeit am besten erledigen. Auf der zweiten Stufe entscheiden sie zusätzlich auch über die Güte der Arbeitsinhalte, setzen also eigene Standards und kontrollieren sich selbst. Auf der dritten Stufe agiert das Team eigenständig unternehmerisch und entscheidet über die eigenen Arbeitsinhalte, Ziele und Art der Bearbeitung. Auf dieser Stufe sind die Führungsrollen flexibel auf verschiedene Personen aufgeteilt. Je nach Unternehmens- oder Teamkontext ist eine andere Stufe der Selbstorganisation passend. Die entscheidende Frage lautet daher: Wie viel Selbstorganisation ist für ein Unternehmen verkraftbar und wie viel Selbstorganisation ist überhaupt notwendig?
Selbstorganisation - Organisationsform
Wenn zum Beispiel von Mitarbeitern hauptsächlich die Umsetzung feststehender Aufgaben nach klaren Routinen gefordert wird, ist eine eher klassisch geführte Organisationsform per Weisung und Kontrolle gut geeignet. Zu große Freiräume und Selbstorganisation könnten zu einer Überlastung der Organisation führen. Gleichzeitig führt eine zu straffe Steuerung von Mitarbeitern, die eigentlich gestalterisch tätig sein sollen, dazu, dass eine Art Schattenorganisation entsteht und Mitarbeiter mühsam versuchen, um das System herum zu arbeiten. Hier würde eine erhöhte Selbstorganisation ein agiles und effizientes Netzwerk ermöglichen.
Übrigens braucht es nicht unbedingt Modelle wie Netzwerkorganisation oder Holacracy. Hierarchien und selbstorganisiertes Arbeiten sind per se kein Widerspruch. Selbstorganisiertes Arbeiten kann auch in Strukturen mit hierarchischer Führung funktionieren. Jede Führungskraft muss für sich entscheiden, welcher Grad an selbstorganisiertem und eigenverantwortlichem Arbeiten für ihren Bereich geeignet ist.
Selbstorganisiertes Arbeiten - Voraussetzungen
Wie bei anderen Veränderungen in der Arbeitsweise auch, kommt es bei der Einführung von selbstorganisiertem Arbeiten schnell zur Überforderung, wenn es plötzlich an Strukturen, Orientierung und generell Führung mangelt und gleichzeitig die Mitarbeiterkompetenzen, um die Freiräume zu füllen, noch nicht ausreichend ausgeprägt sind. Wir sehen fünf Handlungsfelder, die im Auge zu behalten sind, um die nötigen Voraussetzungen zu schaffen.
Sinn und Zweck: In selbstorganisierten Teams wird von Mitarbeitern mehr verlangt, als „einfach nur ihre Arbeit zu machen” im Sinne von Anweisungen befolgen, ohne viel nachzudenken. Sie sollen Verantwortung für das große Ganze übernehmen und Entscheidungen im Sinne des Teams oder der Organisation treffen. Das ist viel verlangt und wird von Mitarbeitern nur dann geleistet, wenn das Handeln insgesamt als sinnvoll und zweckdienlich erachtet wird. Die Motivationsgrundlage verschiebt sich von der Führungskraft („Ich mache das, weil der Chef das von mir verlangt“) hin zum Sinn der Organisation („Ich mache das, weil es dem Sinn und Zweck der Organisation dient“). Wenn die Mitarbeiter nicht wissen, wofür sie arbeiten und was das Ziel ist – wie sollen sie sich dann selbstorganisiert auf dieses Ziel hinbewegen?
Handlungsimpulse für Führungskräfte:
- Definieren Sie den Sinn und Zweck Ihrer Organisation oder Ihres Teams in einem einfachen, kurzen Satz.
- Diskutieren Sie den Sinn und Zweck mit Ihren Mitarbeitern, Kunden und Kollegen.
Kultur: Die Kultur eines Unternehmens oder eines Teams ist sehr wichtig und entscheidet mit, ob selbstorganisiertes Arbeiten funktioniert. Zur Kultur zählen das vorherrschende Menschenbild, das Gefühl von Verbundenheit, Sicherheit und Gewissheit, aber auch das Vorhandensein einer Fehlerkultur und ein Bewusstsein für den Kunden. Selbstorganisiertes Arbeiten setzt voraus, dass Menschen Verantwortung für Aufgaben übernehmen, die gegebenenfalls noch neu sind. Sie sollen fortan Entscheidungen auch unter Unsicherheit treffen, was oft schon Führungskräften schwerfällt. In selbstorganisiertem Arbeiten müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich jedoch sicher fühlen, auch Fehler machen zu dürfen. Gleichzeitig braucht es eine Kultur, in der Kolleginnen und Kollegen sich untereinander Feedback geben, damit gemeinsam gelernt werden kann. Eine unzureichende Fehlerkultur behindert die Einführung von Selbstorganisation deutlich.
Handlungsimpulse für Führungskräfte:
- Reflektieren Sie Ihren Umgang mit Fehlern von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
- Thematisieren Sie „Fehlerkultur” mit Ihrem Team.
- Führen Sie einen Workshop zum Thema „Fehlerkultur” mit Ihrem Team durch.
- Gehen Sie sparsam mit Regeln um. Stellen Sie nach Möglichkeit nur Regeln auf, bei deren Nichteinhaltung die Existenz des Bereichs/Unternehmens auf dem Spiel stehen könnte.
Führung: Auch wenn es für manche einen Widerspruch darstellt, so kommt dem Thema Führung in selbstorganisierten Kontexten eine sehr hohe Bedeutung zu. Allerdings verändern sich die Aufgaben und die Rolle der Führungskraft. Zudem braucht es ein verändertes Feedback- und Delegationsverhalten. Führungskräfte sollten ihrem Team dabei eher coachend und beratend zur Seite stehen. In selbstorganisierten Teams arbeiten Führungskräfte für die Mitarbeiter und nicht die Mitarbeiter für die Führungskraft.
Handlungsimpulse für Führungskräfte:
- Stellen Sie Fragen, anstatt selbst die Antworten zu geben.
- Fragen Sie sich, mit welcher Haltung Sie führen: Arbeiten
- Sie für das Team oder das Team für Sie? Welche Haltung ist hilfreicher für die Umsetzung von Selbstorganisation?
- Machen Sie sich Gedanken dazu, wie Sie Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrer Entwicklung fördern können.
- Geben Sie entwicklungsförderliches Feedback.
Mitarbeiterkompetenzen: Wenn bestimmte Kompetenzen der Mitarbeiter unzureichend ausgeprägt sind, kann dies zur Überforderung und zum Scheitern des selbstorganisierten Arbeitens führen – auch wenn die Unternehmens- und Führungskultur stimmen. Wichtig sind unter anderem Moderations-, Methoden-, Konflikt- und Kommunikationskompetenz. Das Team muss fähig sein, seine Konflikte eigenständig zu lösen. Dazu braucht es auch den Mut, Missstände und Spannungsfelder konstruktiv anzusprechen und zu bearbeiten.
Handlungsimpulse für Führungskräfte:
- Schaffen Sie Gelegenheiten, in denen Mitarbeiter ihren Unmut und ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen können.
- Entwickeln Sie gemeinsam Prozesse, wie Konflikte ohne den frühen Eingriff der Hierarchie gelöst werden können.
- Schulen Sie sich und Ihre Mitarbeiter in Konfliktkompetenzen und in Metakommunikation.
- Stärken Sie die Verbundenheit in Ihrem Team. Dies erhöht die Bereitschaft, konstruktiv zu streiten.
Prozesse und Strukturen: Hierbei geht es unter anderem um den Aufbau des Vergütungssystems, um interne Transparenz und Entscheidungsbefugnisse. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benötigen Informationen über ihren Bereich und das gesamte Unternehmen, um unternehmerisch und selbstorganisiert handeln zu können. Dies führt dazu, dass eigene Entscheidungen mit Blick auf das große Ganze getroffen werden können. Wenn beispielsweise eine Mitarbeiterin Zugriff auf die Finanzkennzahlen ihrer Filiale hat (Kosten, Umsatz, Gewinnziele et cetera), dann kann sie Entscheidungen in diesem Sinne treffen.
Handlungsimpulse für Führungskräfte:
- Erläutern Sie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, warum Sie bestimmte Entscheidungen getroffen haben.
- Binden Sie Ihre Mitarbeiter in Entscheidungen mit ein.
- Schaffen Sie möglichst viel Transparenz über Informationen, die wichtig für unternehmerisches Handeln sind.
- Fragen Sie Ihre Mitarbeiter, welche Informationen für sie hilfreich wären.
- Machen Sie Informationen für alle leicht zugänglich, beispielsweise durch ein Intranet.
Selbstcheck: Selbstorganisations-Readiness
Die Einführung von agilen und selbstorganisierten Ansätzen ist kein einfaches Vorhaben. Führungskräfte und Teams sollten ihre jeweiligen Voraussetzungen kennen, um mögliche Überforderungen bei der Einführung zu vermeiden. Mit dem Konzept der fünf Handlungsfelder und der Beschreibungen der Perspektiven erhalten die Führungskraft und ihr Team konkretes Handwerkszeug für den Start und praktische Impulse für die weitere Entwicklung. Um zu ermitteln, inwieweit ein Unternehmen oder Team bereit für selbstorganisiertes Arbeiten ist, haben wir zudem einen sogenannten „ Selbstorganisations-Readiness-Fragebogen“ entwickelt. Es handelt sich hierbei um einen Leitfaden, der Führungskräfte und ihre Teams zur Reflexion und zum gemeinsamen Nachdenken anregen soll. Die Selbsteinschätzung bildet die Basis für einen dialogorientierten Prozess der Veränderung. Der Führungskraft und dem Team wird durch die Selbsteinschätzung deutlich, an welchen Bereichen sie noch arbeiten müssen, um selbstorganisiertes Arbeiten möglichst effektiv einzuführen. Hierbei bietet sich auch die Unterstützung durch interne Personalentwickler oder externe Berater an. In einem dazugehörigen Handbuch gibt es zu allen Handlungsfeldern weitere Ausführungen und Handlungsimpulse für Führungskräfte und Teams.
Workshop zum Thema Selbstorganisation
Am 21. August veranstaltet das Beratungshaus und Weiterbildungsinstitut System Worx in München einen Workshop zum Thema „Selbstorganisation und Führung“.
Über die Autoren:
Jaakko Johannsen ist Diplom-Psychologe sowie Gründer und Partner von System Worx.
Sven Lübbers ist Wirtschaftspsychologe und als Berater, Trainer und Coach bei System Worx tätig.
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Antwort: Wir nutzen den Fragebogen für Einzelassessments. Das Ausfüllen regt einerseits zur Selbstreflexion an, anderseits vermitteln die konkreten Beispiele je Perspektive ein Bild, also eine Vorstellung davon, was bei selbstorganisiertem Arbeiten von Wichtigkeit ist. In Team-Workshops füllt jede Teilgruppe ein Handlungsfeld aus und stellen die Einschätzungen denen der Führungskraft gegenüber. Daraus entwickelt sich meist ein lebhafter Dialog, der oft von allein zu ersten Maßnahmenideen führt.
Vielleicht gibt es noch weitere Fragen?
HG J.Johannsen