Rz. 116
Eine grobe Fahrlässigkeit kann bei einem sog. Augenblicksversagen fehlen, wenn dem Versicherungsnehmer ein einmaliger "Ausrutscher" unterläuft, der "auf ein bei der menschlichen Unzulänglichkeit typisches einmaliges Versagen" zurückzuführen ist (BGH VersR 1989, 840). Aufgrund dieses Grundsatzes nahm die Rechtsprechung der Instanzgerichte bei Rotlichtverstößen immer häufiger ein solches "Augenblicksversagen" an bis zur Entscheidung des BGH vom 8.7.1992 (VersR 1992, 1085):
Zitat
Darin hinterfragte der BGH die bisherige Praxis kritisch und wies darauf hin, dass ein "Augenblicksversagen" lediglich bedeute, dass der Handelnde nur für kurze Zeit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Dies sei jedoch im Straßenverkehr in einer Vielzahl von Fällen unbewusster Fahrlässigkeit gegeben und reiche allein nicht aus, den Schuldvorwurf der (subjektiv) groben Fahrlässigkeit herabzustufen. Das Überfahren einer Kreuzung berge hohe Gefahren, insbesondere wenn sie durch Rotlicht gesperrt ist. Deshalb seien an Verkehrsteilnehmer besonders hohe Anforderungen zu stellen. Von einem durchschnittlichen Kraftfahrer "kann und muss verlangt werden, dass er an die Kreuzung jedenfalls mit einem Mindestmaß an Konzentration heranfährt, das es ihm ermöglicht, die Verkehrssignalanlage wahrzunehmen und zu beachten. Er darf sich nicht von weniger wichtigen Vorgängen und Eindrücken ablenken lassen". Vielmehr müssten weitere, in der Person des Handelnden liegende besondere Umstände hinzukommen, welche den Grund des momentanen Versagens in milderem Licht erscheinen ließen.
Rz. 117
Aufgrund der hohen Anforderungen, welche diese Entscheidung stellt, war fast davon ausgegangen worden, dass das "Augenblicksversagen" durch den BGH faktisch abgeschafft wäre. Sodann hat der BGH erstmals wieder in seiner Entscheidung vom 29.1.2003 (BGH VersR 2003, 364) die Annahme eines "Augenblicksversagens" bei einem Rotlichtverstoß durch das Berufungsgericht gebilligt. Der BGH führt bereits im Leitsatz deutlich an, aus seiner Entscheidung vom 8.7.1992 ergebe sich kein Grundsatz, nach dem das Nichtbeachten des Rotlichts einer Verkehrsampel stets als grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalls anzusehen sei. Dem neuen Urteil lag folgender Fall zugrunde:
Zitat
Der Versicherungsnehmer fuhr im Ort in eine weitläufige Kreuzung ein, obwohl die für ihn maßgebliche Ampel Rotlicht zeigte. Es kam zum Unfall mit einem von rechts herankommenden Fahrzeug.
Der Versicherungsnehmer behauptete, er habe sich bei Rot der Ampel genähert und habe auf der linken Geradeausspur an erster Stelle gehalten. Direkt neben ihm auf der Linksabbiegerspur habe er einen Arbeitskollegen erkannt und gegrüßt. Als er wieder nach rechts schaute, habe er "Grün" gesehen und sei in der Meinung losgefahren, das Umschalten während des Hinüberschauens zum Arbeitskollegen verpasst zu haben. Seinen Irrtum könne er sich nur durch eine Missdeutung eines anderen Ampelelements oder der im Rückspiegel zu sehenden Ampel erklären.
Das Berufungsgericht hatte dem Versicherungsnehmer nach Parteianhörung und Vernehmung des Arbeitskollegen als Zeugen geglaubt. Es nahm keine grobe Fahrlässigkeit an und wurde vom BGH bestätigt.
Rz. 118
Entscheidend ist an dem Fall bei Zugrundelegung der Anforderungen, welche der BGH bereits in seiner Entscheidung vom 8.7.1992 aufgestellt hat, dass hier der Grund des kurzfristigen Versagens in milderem Licht erschien (überraschend Arbeitskollegen gesehen und dadurch kurzzeitig abgelenkt).
Beachte
Aufgrund der Rechtsprechung des BGH sollte bei Geltendmachung eines "Augenblicksversagens" stets umfassend zum Grund des Rotlichtverstoßes (Motivation, Ursache der Ablenkung, Konzentrationsstörung etc.) vorgetragen werden. Lassen sich nachvollziehbare besondere Umstände vortragen und ggf. beweisen, besteht die Chance, dass aufgrund eines "Augenblicksversagens" keine grobe Fahrlässigkeit angenommen wird.
Rz. 119
Allerdings bleibt nach der VVG-Reform 2008 fraglich, wie die Rechtsprechung künftig überhaupt mit dem Problem des "Augenblicksversagens" umgehen wird. Seinerzeit bestand der Hintergrund in der als ungerechtfertigt erscheinenden vollständigen Leistungsfreiheit nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip.
Rz. 120
Da besonderen Umständen nach neuem Recht im Rahmen der Leistungsquote gem. § 81 Abs. 2 VVG Rechnung getragen werden kann, bleibt fraglich, inwieweit derartige Fälle künftig noch als nicht grob fahrlässig – mit der Folge der vollständigen Leistungspflicht des Kaskoversicherers – anerkannt werden.