Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
Rz. 971
Im Sozialversicherungsrecht zeigen sich die Folgen einer Scheinselbstständigkeit besonders drastisch. Es geht um hohe Nachforderungen und Säumniszuschläge.
Denn die unrichtige Behandlung von Arbeitnehmern als freie Mitarbeiter führt dazu, dass der Arbeitgeber keine Sozialversicherungsbeiträge, d.h. weder Arbeitgeber- noch Arbeitnehmeranteile zur Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung abführt. Gleiches gilt für die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung, die der Arbeitgeber allerdings allein zu tragen hat. Da der Arbeitgeber gem. § 28e Abs. 1 SGB IV der Schuldner der gesamten Sozialversicherungsbeiträge einschließlich des Arbeitnehmeranteiles ist, führt dies dazu, dass bei einer "Entdeckung" eines versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses der Arbeitgeber sämtliche Sozialversicherungsbeiträge rückwirkend ab Beginn des Beschäftigungsverhältnisses i.R.d. Verjährungsregelung (§ 25 SGB IV) nachzuzahlen hat.
Dabei können sich die Rentenversicherungsträger auf Ermittlungsergebnisse der Hauptzollämter stützen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt v. 13.10.2022 – L 3 BA 9/18, juris Rn 40; LSG Niedersachsen-Bremen v. 26.6.2019 – L 1 R 623/16, www.sozialgerichtsbarkeit.de; LSG Chemnitz v. 26.4.2017 – L 1 KR 9/12, juris Ls.1; LSG Chemnitz v. 22.4.2016 – L 1 KR 228/11, juris Ls. 1). Eigene Ermittlungen der Rentenversicherungsträger im Hinblick auf die Beitragsfestsetzung sind indes geboten, wenn aus den Ermittlungen des Hauptzollamts bspw. ersichtlich wäre, dass namentlich bekannte, ohne größeren Verwaltungsaufwand befragbare Personen als Arbeitnehmer infrage kommen könnten und wenn für diese Personen dennoch Beiträge in Form eines Beitragssummenbescheide festgesetzt worden wären. In derartigen oder sonstigen weiteren Fällen sind eigene Ermittlungen erforderlich (vgl. LSG Chemnitz v. 22.4.2016 – L 1 KR 228/11, juris; LSG Schleswig v.7.9.2015 – L 5 KR 147/15 B ER; LSG München v. 31.7.2015 – L 7 R 506/15 B ER; LSG Dresden v. 4.12.2014 – L 1 KR 161/14 B ER; weitergehend im Sinne eines anderen Maßstabs LSG München v. 21.3.2013 – L 5 R 605/13 B ER).
Rz. 972
Praxishinweis
"Entdeckt" werden kann die unzutreffende Einordnung des Beschäftigten als Selbstständigen im Wesentlichen durch fünf Wege:
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Ein Beteiligter leitet ein Verfahren auf Feststellung des Erwerbsstatus nach § 7a Abs. 1 SGB IV n.F. ein (Anm.: Ab 1.4.2022 gilt das neue Statusfeststellungsverfahren, welches das seit 1.1.1999 eingeführte Anfrageverfahren ersetzt; anstelle der Sozialversicherungspflicht wird nunmehr – neu ab 1.4.2022 – der Erwerbsstatus festgestellt). |
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Der Arbeitgeber erhält eine Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV. |
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Betriebsprüfungen außerhalb des vierjährigen Prüfungszeitraums werden vielfach auf Veranlassung der bei den Hauptzollämtern angesiedelten Finanzkontrolle Schwarzarbeit durchgeführt; sehr häufig geht es um den Tatbestand der Scheinselbstständigkeit (vgl. Diepenbrock, NZA 2016, 127). |
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Informationen nach einer Lohnsteueraußenprüfung durch Übersenden von Lohnsteueraußenprüfungsberichten im Rahmen von § 31 Abs. 2 AO. |
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Der ehemalige Mitarbeiter beantragt Arbeitslosengeld (s. Fall Lenroxx/Deutsche Telekom), und es erfolgt eine Ermittlung von Amts wegen gem. § 20 Abs. 1 S. 1 SGB X, ob ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis während der Beschäftigung vorlag oder nicht. |
Rz. 973
Praxishinweis bei Verweigerung einer angesetzten Betriebsprüfung
Eine sozialversicherungsrechtliche Betriebsprüfung beim Arbeitgeber kann durch die Deutsche Rentenversicherung Bund auch mit Zwangsmitteln – gegebenenfalls sogar durch Ersatzzwangshaft – durchgesetzt werden (vgl. LSG Baden-Württemberg v. 27.5.2015 – L 4 R 1167/15 B fünf Tage Ersatzzwangshaft).