Rz. 179
In der Praxis des arbeitsrechtlich tätigen Rechtsanwalts kommt typischer Weise die krankheitsbedingte Kündigung unter den personenbedingten Kündigungen am häufigsten vor. Im Gegensatz zu einer sich hartnäckig in den Unternehmen und bei Arbeitnehmern haltenden Meinung kann der Arbeitgeber während der Erkrankung kündigen. Die Kündigung geht auch während der Erkrankung wirksam zu (vgl. § 1 Rdn 65). Allerdings stellt die Rspr. des BAG hohe Anforderungen an eine krankheitsbedingte Kündigung.
Eine Kündigung allein wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten verstößt nicht gegen das AGG. Das AGG schützt nur vor einer Ungleichbehandlung wegen einer Behinderung. Die Begriffe Krankheit und Behinderung können nicht gleichgesetzt werden. Beruhen jedoch krankheitsbedingte Fehlzeiten auf einer Behinderung, kann eine Kündigung gemäß § 7 Abs. 1 AGG i.V.m. § 134 BGB nichtig sein, sofern nicht die Voraussetzungen des § 8 AGG vorliegen. Ferner kann der besondere Schutz, den die Richtlinie 2000/78/EG Menschen mit Behinderungen schafft, in diesem Fall eingreifen.
In der Rechtsprechung des BAG hat sich das folgende Prüfungsschema herausgebildet:
Rz. 180
▪ Negative Gesundheitsprognose
Zunächst ist eine negative Gesundheitsprognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustandes in der Zukunft notwendig. Es müssen zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang rechtfertigen. Die Beweislast trägt der Arbeitgeber. Grundsätzlich wird dies durch ärztliches Sachverständigengutachten eines Arbeitsmediziners bewiesen. Der Arbeitgeber kann auch eine besondere gesundheitliche Anfälligkeit des Arbeitnehmers vortragen, etwa eine psychische Labilität, eine Hypochondrie oder ähnliches. Häufige Erkrankungen in der Vergangenheit können eine Indizwirkung begründen. Das Widerauftreten von Grundleiden indiziert eine hohe Wiederholungsgefahr. Dann hat der Arbeitnehmer seinerseits darzulegen, weshalb mit einer alsbaldigen Genesung zu rechnen ist. Die Indizwirkung entfällt, wenn die Krankheit auf einem Betriebsunfall, einmaligen Ursachen oder einer lang zurückliegenden Krankheit beruht, die seitdem nicht mehr aufgetreten oder aus anderen Gründen ausgeheilt ist.
Rz. 181
▪ Erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen
Die prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung sozial zu rechtfertigen, wenn sie zu konkreten Betriebsablaufstörungen oder zu erheblichen wirtschaftlichen Belastungen, insb. durch hohe Entgeltfortzahlungskosten führen. Diese Voraussetzungen sind regelmäßig gegeben, wenn der Arbeitnehmer für einen längeren Zeitraum als sechs Wochen pro Jahr Entgeltfortzahlung wegen Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit (vgl. § 3 Abs. 1 EFZG) oder Maßnahmen der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation (vgl. § 9 Abs. 1 EFZG) erhält. Maßgeblich sind allein die vorgenannten berücksichtigungsfähigen Krankheitszeiten.
Rz. 182
▪ Interessenabwägung
Im Rahmen der Interessenabwägung ist zu prüfen, ob die vom Arbeitgeber vorgetragene Beeinträchtigungen betrieblicher Interessen aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls vom Arbeitgeber noch hinzunehmen oder ein solches Ausmaß erreicht haben, dass sie ihm nicht mehr zuzumuten sind. Dabei ist allgemein zu berücksichtigen, ob die Erkrankungen auf betriebliche Ursachen zurückzuführen sind, ob bzw. wie lange das Arbeitsverhältnis bisher ungestört verlaufen ist, ferner das Alter und der Familienstand des Arbeitnehmers bzw. sonstige soziale Belange (vgl. Rdn 177). Im Rahmen der Interessenabwägung sind auch etwa eingetretene Betriebsablaufstörungen, insbesondere deren Häufigkeit und Umfang zu berücksichtigen und ob der Arbeitgeber zusätzlich mit den Kosten für eine Personalreserve belastet ist, die allerdings nicht erforderlich ist.
Rz. 183
▪ Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements
§ 167 Abs. 2 SGB IX schreibt die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) vor. Der Arbeitgeber ist danach bei sechswöchiger ununterbrochener oder wiederholter Arbeitsunfähigkeit innerhalb eines Jahres verpflichtet, mit der zuständigen Interessenvertretung nach § 176 SGB IX (insb. Betriebsrat bzw. Personalrat), bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung und der betroffenen Person geeignete Maßnahmen zur Überwindung der Arbeitsunfähigkeit zu klären bzw. zu besprechen, mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Die betroffene Person kann zu den Gesprächen zusätzlich eine Vertrauensperson eigener Wahl hinzuziehen. Die Einzelheiten werden in einem anderen Kapitel behandelt (siehe unten § 7 Rdn 70). Ungeachtet des Regelungsortes im SGB IX gilt diese Vorschrift auch für nicht behinderte Menschen. Die Durchführung eines betrieblichen Wiedereingliederungsmanagements ist keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für die krankheitsbedingte Kün...