Nrn. 1000, 1003, 1010 VV RVG, §§ 91 Abs. 2 S. 1, 103, 104, 106 ZPO

Leitsatz

  1. Zu den Voraussetzungen für das Entstehen einer Zusatzgebühr nach Nr. 1000 VV, insbesondere zu der Frage, ob der Formulierung "besonders umfangreiche Beweisaufnahme" eine eigenständige Bedeutung zukommt.
  2. Der unterbevollmächtigte Terminsvertreter hat eine Einigungsgebühr nach Nrn. 1000, 1003 VV verdient, wenn er im Termin an der Verhandlung, Formulierung und Protokollierung eines Vergleichs mitgewirkt hat, der zwar zunächst widerrufen, später aber unter Mitwirkung des Hauptbevollmächtigten letztlich doch noch wortgleich abgeschlossen wurde.

OLG Hamburg, Beschl. v. 4.11.2022 – 4 W 96/22

I. Sachverhalt

Die auswärtige Klägerin machte, vertreten durch einen an ihrem Geschäftssitz ansässigen Prozessbevollmächtigten, vor dem LG Hamburg gegen die beiden Beklagten Schadensersatzansprüche geltend. Die vier Verhandlungstermine vor dem LG Hamburg nahm ein von der Klägerin beauftragter ortsansässiger Rechtsanwalt als Terminsvertreter wahr.

Im ersten Verhandlungstermin vom 11.3.2020 boten die Beklagten im Vergleichswege an, 25 % des geltend gemachten Schadens zu regulieren. Im zweiten, umfangreichen Termin vom 8.1.2021 hat das LG Hamburg den Beklagten zu 2 ausführlich angehört und einen ersten Zeugen vernommen. Im Anschluss hieran schlossen die Parteien in diesem Termin einen Widerrufsvergleich, der im Wesentlichen dem Angebot der Beklagten folgte, 25 % des geltend gemachten Schadens zu regulieren. Kurze Zeit später widerrief der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Vergleich.

Sowohl im dritten Termin vom 30.6.2021, als auch im vierten Termin vom 11.2.2022 hat das LG Hamburg jeweils einen weiteren Zeugen vernommen. Im letzten Termin wies das Gericht sodann die Parteien darauf hin, dass nunmehr ein Sachverständigengutachten erforderlich sei. Das Gericht regte an, den in der Verhandlung am 8.1.2021 geschlossenen Vergleich erneut abzuschließen. Nach Zustimmung beider Parteien protokollierte das LG Hamburg dann am 3.8.2022 gem. § 278 Abs. 6 ZPO wortgleich den ursprünglich schon am 8.1.2021 geschlossenen und später von der Klägerin widerrufenen Vergleich.

Im Kostenfestsetzungsverfahren hat die Klägerin – soweit hier von Interesse – für den Terminsvertreter eine Zusatzgebühr nach Nr. 1010 VV, sowie für den Terminsvertreter und den Hauptbevollmächtigten jeweils eine 1,3-Einigungsgebühr nach Nrn. 1000, 1003 VV zur Kostenausgleichung angemeldet. Diesem Antrag hat der Rechtspfleger des LG Hamburg in seinem nach Ausgleichung ergangenen Kostenfestsetzungsbeschluss entsprochen.

Mit ihrer hiergegen gerichteten sofortigen Beschwerde haben die Beklagten geltend gemacht, die Zusatzgebühr nach Nr. 1010 VV sei nicht entstanden, weil die Voraussetzung einer "besonders umfangreichen Beweisaufnahme" nicht vorliege. Eine Einigungsgebühr für den Terminsvertreter sei ebenfalls nicht angefallen, weil der unter Mitwirkung des Terminsvertreters in der mündlichen Verhandlung vom 8.1.2021 geschlossene Vergleich widerrufen worden sei und die wesentlich später erfolgte Einigung schriftlich und ohne Mitwirkung des Terminsvertreters zustande gekommen sei. Die Klägerin hat ihren Kostenfestsetzungsantrag verteidigt.

Die sofortige Beschwerde hatte vor dem OLG Hamburg keinen Erfolg.

II. Zusatzgebühr Nr. 1010 VV

1. Gesetzliche Voraussetzungen

Nach Nr. 1010 VV fällt für besonders umfangreiche Beweisaufnahmen in Angelegenheiten, in denen sich die Gebühren nach Teil 3 VV richten und mindestens drei gerichtliche Termine stattfinden, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen werden, eine 0,3-Gebühr an. Vorliegend wurde in den Terminen vom 8.1.2021, 30.6.2021 und 11.2.2022 jeweils ein Zeuge vernommen. Damit waren nach Auffassung des OLG Hamburg die Voraussetzungen für den Anfall der Zusatzgebühr erfüllt.

2. "Besonders umfangreiche Beweisaufnahme"

Insbesondere in der Lit. ist es umstritten, ob der gesetzlichen Formulierung "besonders umfangreiche Beweisaufnahme" in Nr. 1010 VV eine eigenständige Bedeutung zukommt und deshalb im Kostenfestsetzungsverfahren gesondert zu prüfen ist oder ob eine "besonders umfangreiche Beweisaufnahme" bereits dann gegeben ist, wenn drei gerichtliche Termine stattgefunden haben, in denen Zeugen oder Sachverständige vernommen wurden.

a) Besonderer Umfang der Beweisaufnahme im Einzelfall zu prüfen

Nach einer Auffassung ergibt sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut, der den besonderen Umfang und die Mindestanzahl der Beweistermine kumulativ benennt, dass der besondere Umfang der Beweisaufnahme im Einzelfall geprüft werden muss (NK-GK/Hagen Schneider, 3. Aufl., 2021, Nr. 1010 VV Rn 4; Riedel/Sußbauer/Schütz, RVG, 10. Aufl., 2015, Nr. 1010 VV Rn 5; Hartung/Schons/Enders, RVG, 3. Aufl., 2017, Nr. 1010 VV Rn 10; Toussaint/Uhl, Kostenrecht, 54. Aufl., 2024, Nr. 1010 VV Rn 10f; Schneider/Thiel, AGS 2013, 53, 54).

b) Besonderer Umfang der Beweisaufnahme indiziert

Nach der wohl überwiegenden Gegenauffassung ist der besondere Umfang der Beweisaufnahme durch die Durchführung von mindestens drei Beweisterminen indiziert. Die Regelung, da...

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