Entscheidungsstichwort (Thema)
Testierfähigkeit. Testament
Leitsatz (redaktionell)
Die für die Testamentserrichtung durch leseunfähige Personen geltenden Vorschriften (§ 2233 Abs. 2, § 2247 Abs. 4 BGB) sind nicht nur im Fall der Blindheit sondern auch bei Sehbehinderung anwendbar. Zweck des Gesetzes ist der Schutz von Personen, die Geschriebenes nicht lesen können. Die Fähigkeit zu lesen kann schon bei hochgradiger Sehschwäche fehlen.
Normenkette
BGB § 2229 Abs. 4, §§ 2233, 2247 Abs. 4, § 2233 Abs. 2
Tenor
I. Die weitere Beschwerde der Beteiligten zu 1 gegen den Beschluß des Landgerichts München II vom 15. November 1993 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligte zu 1 hat der Beteiligten zu 2 die im Verfahren der weiteren Beschwerde entstandenen Kosten zu erstatten.
III. Der Geschäftswert des Verfahrens der weiteren Beschwerde wird auf 140 000 DM festgesetzt.
Gründe
I.
Die im Jahr 1991 im Alter von 91 Jahren verstorbene Erblasserin war Witwe und hatte keine Kinder. Sie hinterließ mehrere letztwillige Verfügungen. Ein nur in Ablichtung vorliegendes eigenhändig geschriebenes und unterzeichnetes Schriftstück trägt die Überschrift „Mein letzter Wille” und das Datum des 12.11.1972. Zur Niederschrift des Notars Dr. K. errichtete die Erblasserin am 18.12.1987 ein Testament, mit dem sie sämtliche bisher errichteten Verfügungen von Todes wegen widerrief und ihren Nachlaß unter ihrer Schwester, einer weiteren Verwandten und den Eheleuten Wilhelm und Johanna Pa. aufteilte.
In einem weiteren, vor dem Notar Dr. W. errichteten notariellen Testament vom 17.2.1988 widerrief die Erblasserin das vorangegangene notarielle Testament sowie alle bisher errichteten letztwilligen Verfügungen. Sie setzte ihre Schwester zur Alleinerbin ein und bestimmte deren Stieftochter, die Beteiligte zu 2, zur Ersatzerbin. Den Eheleuten Wilhelm und Johanna Pa. (Beteiligte zu 1) wandte sie Geldvermächtnisse zu.
Eine weitere, auf die obere Hälfte eines DIN-A4-Blattes von der Erblasserin niedergeschriebene letztwillige Verfügung lautet:
Testament
Ich setzte die Eheleute Willi
und Hanna Pa. zu
meine AlleinErben ein
…
6 November
1989
Unter diesem Text befindet sich ein Stempel des Verfahrensbevollmächtigten der Beteiligten zu 1 sowie die von ihm niedergeschriebene und unterzeichnete Bestätigung, daß die Erblasserin obiges Testament im Kreisaltersheim am 6.11.1989, 15.30 Uhr, in seiner Gegenwart errichtet habe.
Im Juni 1988 war für die Erblasserin eine Gebrechlichkeitspflegschaft angeordnet worden. Ihr Pfleger war Wilhelm Pa., bis er am 16.2.1990 durch das Vormundschaftsgericht entlassen wurde. Die an seiner Stelle bestellte Pflegerin führte das Amt bis zum Tod der Erblasserin.
Vor dem Nachlaßgericht haben die Eheleute Pa. aufgrund des privatschriftlichen Testaments vom 6.11.1989 einen Erbschein beantragt, wonach sie die Erblasserin je zur Hälfte beerbt hätten. Die Schwester der Erblasserin, ist am 15.1.1991 nachverstorben und von der Beteiligten zu 2 allein beerbt worden. Diese hat geltend gemacht, aufgrund Gesetzes und nach dem notariellen Testament vom 17.2.1988 sei ihre Rechtsvorgängerin als Alleinerbin berufen. Sie hat einen entsprechenden Erbscheinsantrag gestellt. Das Testament vom 6.11.1989 sei unwirksam, weil die Erblasserin nicht mehr testierfähig und nicht mehr imstande gewesen sei, Geschriebenes zu lesen. Außerdem hat die Beteiligte zu 2 dieses Testament wegen Irrtums angefochten.
Das Nachlaßgericht hat nach Durchführung von Ermittlungen mit Beschluß vom 30.3.1992 den Erbscheinsantrag der Beteiligten zu 2 zurückgewiesen und die Erteilung eines Erbscheins gemäß dem Antrag der Eheleute Pa. angekündigt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Anfechtung des Testaments vom 6.11.1989 greife nicht durch. Eine Testierunfähigkeit der Erblasserin am 6.11.1989 sei nicht belegbar. Die Erblasserin könne zwar am 24.3.1990 testierunfähig gewesen sein, als sie im Pflegschaftsverfahren richterlich angehört worden sei. Dies lasse jedoch keinen Rückschluß auf ihren geistigen Gesundheitszustand zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung zu.
Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 2 hat das Landgericht mit Beschluß vom 15.11.1993 die Entscheidung des Nachlaßgerichts aufgehoben und die Sache zur anderweiten Behandlung und Entscheidung an dieses zurückverwiesen. Hiergegen hat die Beteiligte zu 1, deren Ehemann Wilhelm Pa. nachverstorben und von ihr allein beerbt worden ist, weitere Beschwerde eingelegt. Die Beteiligte zu 2 tritt dem Rechtsmittel entgegen.
II.
1. Die weitere Beschwerde ist zulässig. Gegen eine Beschwerdeentscheidung des Landgerichts, die den Beschluß des Amtsgerichts aufhebt und die Sache an dieses zurückverweist, ist die weitere Beschwerde statthaft (§ 27 Abs. 1 FGG; BayObLG FamRZ 1985, 839/840). Die Beschwerdeberechtigung (§ 29 Abs. 4, § 20 Abs. 1 FGG) der Beteiligten zu 1 ergibt sich aus dem Umstand, daß der vom Landgericht aufgehobene Vorbescheid des Nachlaßgerichts die Erteilung eines Erbscheins entsprechend dem von ihr und ihrem nachverstorbenen Ehemann gestellten Antrag ang...