Verfahrensgang
LG Bielefeld (Entscheidung vom 09.04.2021; Aktenzeichen 23 T 423/20) |
AG Bielefeld (Entscheidung vom 30.06.2020; Aktenzeichen 90 XIV(B) 53/20) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 23. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld vom 9. April 2021 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Bielefeld vom 30. Juni 2020 den Betroffenen in der Zeit vom 30. Juni 2020 bis 6. August 2020 in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Kreis Borken auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene, ein nigerianischer Staatsangehöriger, reiste 2010 nach Deutschland ein und stellte unter Aliaspersonalien einen Asylantrag, der als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Der Betroffene war sodann flüchtig. Er stellte 2017 unter seinen richtigen Personalien einen verdeckten Asylfolgeantrag. Der Antrag wurde mit bestandskräftigem Bescheid vom 28. November 2017 als unzulässig abgelehnt und dem Betroffenen die Abschiebung angedroht; er ist seit dem 16. Januar 2018 vollziehbar ausreisepflichtig. In der Folge tauchte er erneut unter und wurde am 29. Juni 2020 festgenommen. Am 30. Juni 2020 hat das Amtsgericht Abschiebungshaft bis zum 26. September 2020 angeordnet. Dagegen hat der Betroffene Beschwerde eingelegt. Nachdem er am 6. August 2020 wegen der Einstellung des Flugverkehrs nach Nigeria aus der Haft entlassen worden war, hat das Landgericht die noch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft gerichtete Beschwerde zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.
Rz. 2
II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Rz. 3
1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, ein zulässiger Haftantrag und der Haftgrund der Fluchtgefahr hätten vorgelegen. Die Haftanordnung sei auch nicht wegen einer etwaigen Haftunfähigkeit rechtswidrig gewesen. Sofern der Betroffene einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens geltend mache, greife das nicht durch. Das Gericht müsse den Rechtsanwalt nur beteiligen, wenn er sich im laufenden Verfahren bestellt habe. Hier habe der erst im Laufe der Anhörung nach zufälliger Erwähnung des Betroffenen durch Nachschlagen in der Ausländerakte gefundene Rechtsanwalt D. den Betroffenen zuletzt 2017 im ausländerrechtlichen Verfahren vertreten. Eine Bevollmächtigung im Abschiebungshaftverfahren sei weder dargetan noch ersichtlich gewesen. Den Angaben des Betroffenen bei der Anhörung könne ein (konkludenter) Antrag auf Beiordnung oder Hinzuziehung des Rechtsanwalts nicht entnommen werden.
Rz. 4
2. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 70 Abs. 3 Nr. 3 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Entgegen der Ansicht der beteiligten Behörde ist sie nicht deshalb unzulässig, weil der Betroffene keine ladungsfähige Anschrift angegeben hat. Das führt nur dann zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels, wenn der geordnete Ablauf des Rechtsmittelverfahrens ohne Angabe der ladungsfähigen Anschrift gefährdet ist oder die fehlende Angabe Rückschlüsse auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Betroffenen erlaubt (BGH, Beschlüsse vom 18. Februar 2016 - V ZB 74/15, InfAuslR 2016, 240 Rn. 5 mwN; vom 23. Februar 2021 - XIII ZB 50/20, InfAuslR 2021, 339 Rn. 8 mwN). Das ist hier nicht der Fall. Insbesondere reicht der Umstand, dass der Betroffene sich durch seinen unbekannten Aufenthalt weiteren Maßnahmen der beteiligten Behörde entzieht, nicht aus, um die Rechtsmissbräuchlichkeit seines auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft gerichteten Antrags anzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 1. April 2009 - XII ZB 46/08, NJW-RR 2009, 1009 Rn. 17; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 - V ZB 73/15, juris Rn. 5).
Rz. 5
3. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Dabei kann dahinstehen, ob im Streitfall ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde vorlag. Das Beschwerdegericht hat jedenfalls übersehen, dass das Amtsgericht bei Anordnung der Haft gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen hat. Es hat zu Unrecht angenommen, dass der Betroffene im Rahmen der Anhörung eine Hinzuziehung seines Anwalts nicht verlangt habe, weil es die Feststellungen des Amtsgerichts in dem Nichtabhilfebeschluss vom 12. August 2020 (vollständig) übergangen hat.
Rz. 6
a) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Juli 2014 - V ZB 32/14, InfAuslR 2014, 442 Rn. 8; vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, juris Rn. 7; vom 7. April 2020 - XIII ZB 84/19, juris Rn. 9 mwN). Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Verfahrensbevollmächtigten hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2018 - V ZB 69/18, InfAuslR 2019, 152 Rn. 5; vom 7. April 2020 - XIII ZB 84/19, juris Rn. 9 f.). Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf diesem Fehler beruht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 - V ZB 59/16, InfAuslR 2017, 292 Rn. 7; vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, juris Rn. 7).
Rz. 7
Das Amtsgericht muss einen Verfahrensbevollmächtigten zum Anhörungstermin aber nur laden, wenn der Bevollmächtigte in dem Verfahren zur Entscheidung über den Haftantrag der beteiligten Behörde seine Bestellung angezeigt oder der Betroffene von der Bestellung Mitteilung gemacht hat. Eine solche Mitteilung ist nicht entbehrlich, wenn der Verfahrensbevollmächtigte den Betroffenen in einem vorhergehenden ausländerrechtlichen Verfahren vertreten hat. Dabei handelt es sich um ein anderes Verfahren, das vor einem anderen Gericht geführt wird, so dass sich die Vollmacht auf das Freiheitsentziehungsverfahren nicht erstreckt, § 11 Satz 5 FamFG, §§ 81, 82 ZPO (BGH, Beschlüsse vom 1. Dezember 2011 - V ZB 73/11, InfAuslR 2012, 98 Rn. 10; vom 22. August 2019 - V ZB 144/17, InfAuslR 2020, 30 Rn. 9 mwN). Erklärt der Betroffene daher trotz Belehrung über sein Recht, einen Rechtsanwalt zu der Anhörung hinzuzuziehen, nicht, dass er durch einen Rechtsanwalt vertreten werde und seine Hinzuziehung wünsche, muss er nicht nochmals ausdrücklich danach gefragt werden, ob er eine Vertretung durch den im verwaltungsgerichtlichen Verfahren tätigen Rechtsanwalt wünsche (BGH, Beschluss vom 26. Januar 2021 - XIII ZB 14/20, juris Rn. 16 f.).
Rz. 8
b) Danach hat das Amtsgericht im vorliegenden Fall gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen. Entgegen der Annahme des Beschwerdegerichts hat der Betroffene die Hinzuziehung seines Anwalts in der Anhörung verlangt.
Rz. 9
aa) Eine allgemeine Belehrung des Betroffenen über sein Recht, einen Anwalt zu der Anhörung hinzuzuziehen, war nicht erfolgt. Im Zuge der Anhörung sprach der Betroffene sodann von seinem Anwalt. Das Amtsgericht hat in der Nichtabhilfeentscheidung vom 12. August 2020 dazu ausgeführt, nach den "heutigen Angaben der [die Anhörung durchführenden] Richterin am Amtsgericht (...) wurde im Zuge der Anhörung trotz der nur rudimentären Namensangaben, mit der der Betroffene seinen Anwalt bezeichnen konnte, erfolgreich der Anwalt ermittelt. Sodann wurde versucht, ihn anzurufen. Er war nicht erreichbar." Unter diesen Umständen erschließe sich nicht, was das Gericht noch habe tun können.
Rz. 10
bb) Aus diesen vom Beschwerdegericht vollständig übergangenen Feststellungen ergibt sich, dass das Gericht versucht hat, den Rechtsanwalt zu erreichen, was sich nur erklären lässt, wenn der Betroffene die Hinzuziehung seines Rechtsanwalts wünschte. Konnte dieser nicht erreicht werden, hätte das Amtsgericht nach den obigen Maßstäben zumindest klären müssen, ob der Betroffene auf sein Recht, den Anwalt hinzuziehen, verzichten wollte (vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 123/19, juris Rn. 10 ff.; vom 23. März 2021 - XIII ZB 66/20, juris Rn. 8 ff.). War dies nicht der Fall, hätte es unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG einen neuen Termin bestimmen müssen.
Rz. 11
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
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Fundstellen
NVwZ-RR 2022, 6 |
NVwZ-RR 2022, 883 |