Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Besondere Zuständigkeit, wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden. Begriff ‚Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag’. Aufforderung zur Zahlung der jährlichen Beiträge, die ein Rechtsanwalt einer Rechtsanwaltskammer schuldet
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 Art. 7 Nr. 1 Buchst. a
Beteiligte
Ordre des avocats du barreau de Dinant |
Ordre des avocats du barreau de Dinant |
Tenor
Art. 1 Nr. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass ein Rechtsstreit über die Verpflichtung eines Rechtsanwalts zur Entrichtung von Jahresbeiträgen, die er der Rechtsanwaltskammer schuldet, der er angehört, nur unter der Voraussetzung in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, dass die Kammer, indem sie von dem Rechtsanwalt die Erfüllung dieser Verpflichtung verlangt, nach dem anwendbaren nationalen Recht nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse handelt, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Art. 7 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 ist dahin auszulegen, dass eine Klage, mit der eine Rechtsanwaltskammer die Verurteilung eines ihrer Mitglieder zur Zahlung der von ihm geschuldeten Jahresbeiträge begehrt, die im Wesentlichen der Finanzierung von Leistungen wie etwa Versicherungsdienstleistungen dienen, als Klage über einen „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag” im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, sofern diese Beiträge die Gegenleistung für Leistungen sind, die diese Kammer ihren Mitgliedern erbringt und diese Leistungen von dem betroffenen Mitglied freiwillig vereinbart wurden, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de premiére instance de Namur (Gericht erster Instanz von Namur, Belgien) mit Entscheidung vom 21. Juni 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juni 2018, in dem Verfahren
Ordre des avocats du barreau de Dinant
gegen
JN
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie des Richters L. Bay Larsen,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Varrone, avvocato dello Stato,
- der litauischen Regierung, vertreten durch R. Krasuckaité und G. Taluntyté als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. Juli 2019
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Ordre des avocats du barreau de Dinant (Rechtsanwaltskammer Dinant, Belgien, im Folgenden: Rechtsanwaltskammer) und JN wegen unterbliebener Zahlung geschuldeter Jahresbeiträge an die Kammer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:
„Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie gilt insbesondere nicht für Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten oder die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte (acta iure imperii).”
Rz. 4
Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.”
Rz. 5
In Art. 7 dieser Verordnung heißt es:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:
1. a) wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;
…”
Belgisches Recht
Rz. 6
Art. 428 Abs. 1 des Code judiciaire (Gerichtsgesetzbuch) bestimmt:
„Niemand kann den Rechtsanwaltstitel tragen oder den Rechtsanwaltsberuf ausüben, wenn er nicht Belgier oder Staatsangehöriger ei...