Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen B. Begleitperson. Erforderlichkeit von verkehrsmittel-spezifischen Herausforderungen. Barrieren durch soziale Begleiterscheinungen nicht ausreichend. Angst vor Menschenansammlungen. Phobie vor Verkehrs- und Personenkontrollen. Merkzeichen H als mögliche Voraussetzung für Merkzeichen B. Hilfsbedarf für eine "Reihe von Verrichtungen". Einschränkung der Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln als "einzelne Verrichtung"

 

Orientierungssatz

1. Das Merkzeichen B (Begleitperson) ist nicht zuzuerkennen, wenn sich die Herausforderungen für den behinderten Menschen nicht aus den konkreten verkehrsmittel-spezifischen Zustands- und Fahrtbedingungen öffentlicher Verkehrsmittel ergeben, sondern nur aus (auch woanders auftretenden) Begleiterscheinungen (hier: Phobie vor Verkehrs- und Personenkontrollen, welche bei Menschenansammlungen wahrscheinlicher sind).

2. Das Merkzeichen B kommt - soweit der behinderte Mensch nicht über das Merkzeichen G (erhebliche Gehbehinderung) oder das Merkzeichen Gl (Gehörlosigkeit) verfügt - ohnehin nicht in Betracht, wenn der schwerbehinderte Mensch einen Hilfsbedarf allein für die Nutzung des öffentlichen Verkehrs aufweist. Ist nur die Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln eingeschränkt, fehlt es an einem Hilfsbedarf für "eine Reihe von Verrichtungen" iS von § 33b Abs 3 S 4 EStG für das Merkzeichen H (Hilflosigkeit), welches dann für die Zuerkennung des Merkzeichens B erforderlich ist.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 11.04.2023; Aktenzeichen B 9 SB 8/22 BH)

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 6. Juni 2019 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) und der Merkzeichen „B“ und „H“.

Die 1978 geborene Klägerin stellte erstmals mit Schreiben vom 14. März 2015 einen Antrag auf Anerkennung einer Behinderung bei dem beklagten Land. Das beklagte Land zog diverse medizinische Unterlagen bei (Sachverständigengutachten zur Prüfung der Erwerbsfähigkeit nach dem SGB II von dem Psychiater und Psychotherapeuten Dr. K. vom 23. Februar 2015, Stellungnahme der Neurologin und Psychiaterin Dr. R. (Deutsche Rentenversicherung Hessen) nach Aktenlage vom 21. Mai 2015 (unter Auswertung von psychiatrischen Berichten von Dr. D. vom 2. Juni 2008 und 6. Mai 2015), Stellungnahme Dr. S. (ärztliche Untersuchungsstelle der Deutschen Rentenversicherung Hessen) vom 17. Juni 2015 und Gutachten des MDK vom 14. Oktober 2015). Aus der Stellungnahme von Dr. S. vom 17. Juni 2015 ergibt sich, dass es bereits 2002 zu Verhaltensauffälligkeiten der Klägerin in Form von aggressiven Handlungen gegenüber Polizei und Militär gekommen sei. Dr. K. stellte in seinem Gutachten vom 23. Februar 2015 die Diagnose Autismus, höchstwahrscheinlich vom Untertypus eines hochfunktionalen Autismus mit sehr stark ausgeprägter Einschränkung der Fähigkeiten im sozialen Bereich; außerdem bestehe der Verdacht auf phasenweise auftretende begleitende depressive Episoden im Rahmen der Grunderkrankung sowie auf kombinierte Persönlichkeitsstörung mit unreifen und wahnhaften Anteilen. Mit Bescheid vom 16. Oktober 2015 lehnte die Pflegekasse basierend auf dem MDK-Gutachten vom 14. Oktober 2015 Leistungen ab, da keine Pflegebedürftigkeit bei der Klägerin bestehe.

Nach versorgungsärztlicher Auswertung der Unterlagen stellte das beklagte Land bei der Klägerin mit Bescheid vom 3. November 2015 einen GdB von 50 fest und berücksichtigte hierbei als Funktionsbeeinträchtigung „seelische Störungen“. Die Voraussetzungen zur Feststellung von Merkzeichen lägen nicht vor.

Der hiergegen von der Klägerin eingelegte Widerspruch wurde von dem beklagten Land mit Widerspruchsbescheid vom 13. November 2015 zurückgewiesen und der Bescheid wurde bestandskräftig. Es folgten eine später widerrufene Verzichtserklärung der Klägerin auf die Feststellung nach dem Schwerbehindertenrecht, woraufhin der GdB schließlich mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 4. Juli 2016 erneut - wie bereits mit Bescheid vom 3. November 2015 festgestellt - mit 50 festgestellt wurde, und ein erfolgloses Neufeststellungsverfahren (Bescheid vom 21. Oktober 2016, Widerspruchsbescheid vom 17. November 2016), in dessen Rahmen weitere ärztliche Atteste und Befundunterlagen vorgelegt wurden. Der Psychiater Dr. C. (Vitos Gießen-Marburg gGmbH (Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie)), bei dem sich die Klägerin seit Dezember 2015 in ambulanter psychiatrischer Behandlung befindet, teilte insoweit in einem fachärztlichen Attest vom 26. April 2016 mit, dass die Verdachtsdiagnose eines Asperger-Syndroms bei der Klägerin bestätigt wurde, ohne komorbide psychische Störungen. Außerdem wurde ein weiterer ausführlicherer Arztbrief von Dr. C. und Kollegen vom 27. Juni 2016 vorgelegt sowie eine Bescheinigung des Diplom-Psychologen F. vom 6. Oktober 2...

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