Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt und bei Krankheit. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Überbrückungsleistungen. Umfang. Härtefall. Erbringung von anderen Leistungen bzw von Leistungen für einen längeren Zeitraum. verfassungskonforme Auslegung

 

Leitsatz (amtlich)

§ 23 Abs 3 S 5 und 6 SGB XII sind dahingehend verfassungskonform auszulegen, dass die Härtefallregelung jeden während des tatsächlichen Aufenthalts entstehenden Bedarfsfall der Leistungen nach dem Dritten und Fünften Kapitel erfassen muss. Auch bei nicht befristeten besonderen Bedarfslagen und damit für die tatsächliche Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet sind existenzsichernde Sozialleistungen zu gewähren; werden darüber hinaus andere Bedarfe als die nach Absatz 3 Satz 5 typisierend vorgesehenen geltend gemacht und liegen sie tatsächlich vor, sind auch diese in verfassungskonformer Auslegung des Satzes 6 für die Zeit des tatsächlichen Aufenthalts längstens bis zur vollziehbaren Ausreisepflicht zu decken. Der Unterschied zu Leistungen nach dem Dritten Kapitel besteht mithin darin, dass die bedürftige Person von dem pauschalierten Leistungsmodell des Dritten Kapitels auf die Anmeldung des individuellen Bedarfs insbesondere im Bereich der soziokulturellen Existenz verwiesen wird und im Falle der fehlenden Darlegung des Bedarfes auch nicht von der Pauschalierung profitieren kann.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 20.10.2020; Aktenzeichen B 8 SO 15/20 R)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. April 2018 wie folgt abgeändert: Der Bescheid vom 10. November 2016, geändert durch die Bescheide vom 16. und 17. März 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März 2017 wird über das angenommene Teilanerkenntnis hinaus aufgehoben, soweit Überbrückungsleistungen für alle Kläger für den Zeitraum vom 1. März 2017 bis einschließlich 14. März 2017 abgelehnt wurden. Der Beklagte wird verurteilt, den Klägern Überbrückungsleistungen nach Maßgabe der Entscheidungsgründe zur Auslegung von § 23 Abs. 3 Sätze 5 und 6 SGB XII für den Zeitraum vom 1. März 2017 bis einschließlich 14. März 2017 zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

II. Die außergerichtlichen Kosten der Kläger hat der Beklagte in erster Instanz vollständig, in der Berufungsinstanz zu ¼ zu tragen.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist im Anschluss an ein erstinstanzlich in der mündlichen Verhandlung vom Beklagten abgegebenes und den Klägern angenommenes Teilanerkenntnis die Gewährung von Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII) allein noch für die Zeit vom 1. Februar 2017 bis 31. März 2017 im Streit.

Der 1992 geborene Kläger zu 1), die 1994 geborene Klägerin zu 2), der 2014 in A-Stadt geborene Kläger zu 3) und der 2016 geborene Kläger zu 4) sind bulgarische Staatsangehörige. Die Kläger zu 3) und 4) sind die gemeinsamen Kinder der Kläger zu 1) und 2). Der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) sind seit dem 1. März 2017 miteinander verheiratet. Sie wohnten jedenfalls bis 31. März 2017 in der F-Straße in FX-Stadt.

Der Kläger zu 1) ist im April 2012 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, um im elterlichen Betrieb eines Schrotthandels mitzuarbeiten. Im Juni 2012 reiste die Klägerin zu 2) aus Bulgarien in die Bundesrepublik Deutschland ein. In der Zeit vom 8. Dezember 2015 bis 21. April 2016 war der Kläger zu 1) bei der Fa. G. Service GmbH in A-Stadt geringfügig beschäftigt. Ihm wurde nach seinen unwidersprochen gebliebenen Angaben betriebsbedingt gekündigt.

Am 13. Juni 2016 beantragte der Kläger zu 1) für sich und zunächst für die Klägerin zu 2) und den Kläger zu 3) Arbeitslosengeld II. Mit Bescheid vom 27. Oktober 2016 bewilligte das Jobcenter für den Zeitraum bis 20. Oktober 2016 Leistungen. Der Bescheid enthielt die Ankündigung, über den Anspruch des zwischenzeitlich geborenen Klägers zu 4) für September 2016 neu zu entscheiden. Für Oktober 2016 wurden Leistungen bewilligt.

Die Kläger beantragten am 8. November 2016 mittels Formularantrag beim Beklagten Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII.

Der Kläger zu 1) meldete am 4. Januar 2017 ein Gewerbe in Gestalt eines „Schrotthandels auf Bestellung (ohne Lagerung unter der Betriebsstättenanschrift)“ beim Magistrat der Stadt F-Stadt an. Er zeigte am 12. Januar 2017 dem Regierungspräsidium Kassel die gewerbliche Sammlung von Altmetallen gemäß § 18 Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrWG) an. Im Januar und Februar 2017 hatte er keine Einnahmen aus selbstständiger Tätigkeit. Ausweislich einer im Berufungsverfahren vorgelegten Belegübersicht der Fa. Rohstoffgroßhandel H. GmbH (Bl. 183 d.A.) gab es im März 2017 Gutschriften für Schrottlieferungen i.H.v. 192,46 € (15. März 2017), 191,13 € (17. März 2017) und 194,05 € (23. März 2017). Der Kläger quittierte den Erhalt des letztgenannten Betrages. Im April 2017 standen Einnahmen i...

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