Leitsatz (amtlich)

1. Widersprüche in der Beweiswürdigung von Zeugenaussagen durch das Erstgericht können Zweifel an der Richtigkeit der entscheidungserheblichen Tatsachen begründen und eine erneute Beweisaufnahme gebieten (§§ 398, 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

2. Der Anscheinsbeweis gegen den von hinten Auffahrenden setzt voraus, dass beide Fahrzeuge - unstreitig oder erwiesenermaßen - so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können.

3. Bleibt bei einem Auffahrunfall - wegen eines unstreitigen oder ernsthaft möglichen Fahrstreifenwechsels als Unfallursache - der Unfallhergang im Einzelnen ungeklärt, ist der Schaden hälftig zu teilen.

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Urteil vom 03.09.2004; Aktenzeichen 24 O 268/03)

 

Tenor

Auf die Berufung der Kläger, die im Übrigen zurückgewiesen wird, wird das am 3.9.2004 verkündete Urteil des LG Berlin - 24 O 268/03 - teilweise abgeändert:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger zu 1) 1.064,50 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz aus 1.019,50 EUR seit dem 28.3.2003, aus 45 EUR seit dem 1.7.2003 sowie aus 1.728,65 EUR für den Zeitraum vom 28.3.2003 bis zum 5.11.2004 und weitere 200 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 28.3.2003 und an die Klägerin zu 2) 200 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 28.3.2003 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger zu 1) 52 %, die Klägerin zu 2) 3 % und die Beklagten 45 % zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

A. Die Berufung der Kläger hat nur zum Teil Erfolg.

1. Zu Unrecht ist das LG in dem angefochtenen Urteil davon ausgegangen, dass dem Kläger zu 1) ein Anspruch auf Ersatz des ihm bei dem Unfall vom 7.12.2002 entstandenen Schadens sowie den Klägern ein Anspruch auf Schmerzensgeld für die bei dem fraglichen Unfall erlittenen Verletzungen nicht zusteht.

a) Dabei rügt die Berufung zunächst zu Recht, dass die Beweiswürdigung des LG nicht frei von Widersprüchen ist.

Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen.

Dies ist nicht der Fall, wenn das Gericht des ersten Rechtszuges sich bei der Tatsachenfest-stellung an die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO gehalten hat und das Berufungsgericht keinen Anlass sieht, vom Ergebnis der Beweiswürdigung abzuweichen.

§ 286 ZPO fordert den Richter auf, den Sachverhalt auf Grundlage des Parteivorbringens möglichst vollständig aufzuklären (BGH v. 26.3.1997 - IV ZR 91/96, MDR 1997, 638 = NJW 1997, 1988). Er hat die in erheblicher Weise beantragten Beweise erschöpfend zu erheben und sich in der Urteilsbegründung mit dem Prozessstoff und dem Beweisergebnis umfassend und widerspruchsfrei auseinanderzusetzen (BGH v. 15.3.2000 - VIII ZR 31/99, MDR 2000, 716 = NJW 2000, 2024; OLG Karlsruhe v. 20.2.2003 - 12 U 211/02, OLGReport Karlsruhe 2003, 376 = DAR 2004, 223). Dabei ist es nicht erforderlich, auf jedes einzelne Parteivorbringen ausführlich einzugehen; es genügt, das nach der Gesamtheit der Gründe eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat (Thomas/Putzo, ZPO, 25. Aufl. 2003, § 286 Rz. 3, Rz. 5, Rz. 6, m.w.N.).

Auch wenn der Richter im Rahmen seiner Überzeugungsbildung einer Partei mehr Glauben schenken darf, als einem beeideten Zeugen oder trotz mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil einer Beweisbehauptung als erwiesen ansehen kann (KG, Urt. v. 3.11.2003 - 22 U 136/03, KGReport Berlin 2004, 38 = MDR 2004, 533), können Widersprüche bei der Beweis-würdigung dazu führen, dass Anlass besteht, von dieser abzuweichen.

Das LG hat in seiner äußerst kurzen Beweiswürdigung allein darauf abgestellt, dass durch die Aussage der Zeugin ..., der Kläger habe von der rechten in die linke Spur wechseln müssen und kurze Zeit danach sei der Anstoß erfolgt, bewiesen sei, der Unfall habe sich im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel des Klägers ereignet. Die Aussage des Zeugen ... sei nicht geeignet gewesen, diese Angaben in Zweifel zu ziehen, da der Zeuge angegeben hatte, der Kläger zu 1) sei bereits "ein paar Minuten" in der linken Spur gewesen, als das Pannenfahrzeug in Sicht gekommen sei. Diese Zeitangabe sei nach Auffassung des LG viel zu unbestimmt gewesen.

Das LG verkennt, dass die Angabe "kurze Zeit" ebenfalls ungenau und keinesfalls bestimmter ist, als die Angabe "ein paar Minuten". Dies gilt umso mehr, wenn, wie hier, die Zeugin keine Angaben dazu gemacht hat, welcher Zeitraum für sie bei dem zu beschreibenden Sachverhalt eine "kurze Zeit" darstellt. Dies können nach dem üblichen Sprachgebrauch je nach Fall, nur einige Sekunden, mehrere Minuten, oder auch wenige Tage sein. Wenn das LG diesem Teil der Aussage der ...

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