Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Berufungsbegründung. Tarifautonomie und weiter Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien. Sachliche Gründe für die unterschiedliche Höhe des tariflichen Zuschlags bei Nachtarbeit und bei Nachtschichtarbeit

 

Leitsatz (amtlich)

1) Weist ein mit der Berufung angegriffenes Urteil Ansprüche wegen Nicht-Einhaltung von Ausschlussfristen zurück, muss sich die Berufungsbegründung damit auseinandersetzen. Geschieht dieses nicht, ist die Berufung hinsichtlich dieser Ansprüche unzulässig.

2) Es liegen hinreichende Differenzierungsgründe für die unterschiedliche Höhe der Zulagen für Nachtarbeit und für Nachtschichtarbeit nach § 9 MTV Brauereien Hamburg und Schleswig-Holstein vor.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Den Tarifvertragsparteien als selbstständigen Grundrechtsträgern kommt durch die in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum bei ihrer Normsetzung zu. Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten, betroffenen Interessen und Rechtsfolgen.

2. Der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- und Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkordanz herstellen und gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen unterbinden.

3. Sieht ein Tarifvertrag für regelmäßige Nachtschichtarbeit einen Zuschlag von 25% vor, für unregelmäßige oder sonstige Nachtarbeit, die keine Schichtarbeit ist, von 50%, muss ein sachlich vertretbarer Grund für diese Differenzierung gegeben sein.

4. Die Tarifsystematik, die für das regelmäßige Schichtsystem andere Vorteile (bezahlte Pausen, zusätzliche Freizeittage, nicht anrechenbarer Zuschlag) vorsieht, liegt nicht außerhalb einer "am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise". Denn die Tarifvertragsparteien wollten die Schichtarbeit einschließlich der Nachtarbeit in Schichten als regelmäßige Arbeitsform geregelt haben, für die sie ein differenziertes Regelungssystem geschaffen haben. Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit war darin nur als Ausnahme vorgesehen. Dies ist ein hinreichender Differenzierungsgrund.

 

Normenkette

ArbZG § 6 Abs. 5; TVG § 1; GG Art. 3; ZPO § 520; GG Art. 9 Abs. 3; MTV für die Arbeitnehmer/innen in den Brauereien in Hamburg und Schleswig-Holstein § 5 Nr. 4 Fassung: 2005-10-29, § 7 Nr. 1b Fassung: 2005-10-29, § 8 Nr. 2 und Nr. 5-6 Fassung: 2005-10-29, § 9 Nr. 1 Fassung: 2005-10-29

 

Verfahrensgang

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 27.11.2019; Aktenzeichen 17 Ca 288/19)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 09.12.2020; Aktenzeichen 10 AZR 334/20)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 27. November 2019 (17 Ca 288/19) wird auf seine Kosten hinsichtlich der Anträge zu 1 und 2 als unzulässig verworfen und im Übrigen zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen, soweit die Berufung hinsichtlich des Antrags zu 3 zurückgewiesen wurde.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe tariflicher Nachtarbeitszuschläge für in Nachtschichten geleistete Arbeitsstunden.

Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem 1. September 2018 beschäftigt. Er ist Mitglied der G1 die Beklagte Mitglied im B1. Auf das Arbeitsverhältnis finden der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer/innen in den Brauereien in Hamburg und Schleswig-Holstein vom 29. Oktober 2005 (im folgenden MTV) sowie der entsprechende Entgelttarifvertrag Anwendung. Der Bruttostundenlohn des Klägers beträgt 21,98 €.

Im MTV Brauereien ist unter anderem geregelt:

"§ 5 Regelung der Arbeitszeit

[...]

4. Werden Beschäftigte im Drei-Schicht-System (Früh-, Spät-, Nachtschicht in beliebiger Folge) beschäftigt, so haben sie innerhalb ihrer Schicht Anspruch auf eine bezahlte Pause von 30 Minuten Dauer.

[...]

§ 7 Zusätzlich bezahlte Freizeit

[...]

2. Schichtfreizeit

2.1 Zur Abgeltung der in Nachtschicht oder in Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsel auftretenden Erschwernisse und Belastungen wird ein Ausgleich durch bezahlte Freizeit gegeben.

2.2 Beschäftigte, die im Drei-Schicht-System oder ausschließlich in Nachtschicht arbeiten erhalten jährlich vier Arbeitstage bezahlte Schichtfreizeit.

2.3 Beschäftigte, die im Zwei-Schicht-System (Früh-/Spät-, Früh-/Nacht- oder Spät-/Nachtschicht) arbeiten, erhalten jährlich drei Arbeitstage bezahlte Schichtfreizeit.

Bei teilweiser Schichtleistung im Jahr erfolgt anteilige Gewährung.

2.4 Urlaub, Krankheit und sonstige bezahlte Fehlzeiten führen dabei nicht zu Kürzungen.

§ 8 Mehr-, Nacht-, Schicht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit

1. Mehrarbeit ist jede über die betriebliche durch Schicht- oder Arbeitsplätze geplante tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeit. Notwendige Mehrarbeit ist im Einvernehmen mit dem Betriebsrat zu leisten.

2. Jede angefangene halbe Stunde angeordneter Mehrarbeit wird als halbe Überstunde bezahlt.

Bei Mehrarbeit von mehr als 1 ½ Stun...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge