Entscheidungsstichwort (Thema)

Ermessensspielraum bei Umsetzung eines Stilllegungsplans. Berücksichtigung sozialer Auswahlkriterien bei stufenweiser Stilllegung. Wirksamkeit der Kündigung trotz fehlender Sozialauswahl bei vertretbarem Auswahlergebnis. Anforderungen an Prüfungsmaßstab des §125 InsO. Grob fehlerhafte Auswahlentscheidung wegen Verkennung der Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Das Kündigungsschutzgesetz findet auch in der Insolvenz Anwendung.

2. Bei der Entscheidung, welchem Arbeitnehmer zu kündigen und wer weiter zu beschäftigen ist, müssen die Grundsätze der Sozialauswahl berücksichtigt werden.

3. Der Insolvenzverwalter hat bei der Umsetzung eines Stilllegungsplans Ermessensspielraum.

4. Eine Kündigung ist trotz fehlender Sozialauswahl wirksam, wenn das Auswahlergebnis zufällig vertretbar ist.

5. Die Auswahlentscheidung ist am Maßstab des § 125 InsO grob fehlerhaft, weil große Unterschiede in den Personen der Arbeitnehmer nicht durch soziale Auswahlkriterien berücksichtigt worden sind.

 

Normenkette

InsO §§ 113, 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; KSchG § 1 Abs. 3 S. 1; ZPO §§ 233, 234 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Dortmund (Entscheidung vom 16.12.2020; Aktenzeichen 10 Ca 1400/20)

 

Tenor

  1. Dem Beklagten wird wegen Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 16.12.2020 - 10 Ca 1400/20 - Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt.
  2. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 16.12.2020 - 10 Ca 1400/20 - wird zurückgewiesen.
  3. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von zwei ordentlichen, aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigungen.

Die am 02. April "0000" geborene Klägerin ist seit dem 30. August 1976 bei der A Profile GmbH (nachfolgend: Insolvenzschuldnerin) beschäftigt, zuletzt ab dem 01. Februar 2016 als Angestellte in der Abteilung Marketing. Zuvor war sie 35 Jahre in den Bereichen Einkauf und Vertrieb tätig. Ihre durchschnittliche monatliche Bruttovergütung belief sich zuletzt auf 5.517,08 €.

Gegenstand des Unternehmens der Insolvenzschuldnerin sind die Herstellung und der Vertrieb von vorwiegend warmgewalzten und kaltgezogenen Spezialprofilen aus Stahl und sonstigen Stahlerzeugnissen. Die Produktion gliedert sich dabei im Wesentlichen in die Bereiche Walzwerk, Ziehwerk und das sogenannte Technikum (Sondertechnik).

Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 01. März 2020 wurde über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter ernannt. Dieser zeigte am gleichen Tag die drohende Masseunzulänglichkeit an.

Am 27. März 2020 unterzeichneten der Beklagte und der Betriebsrat einen bereits zuvor inhaltlich abgestimmten Interessenausgleich. Dieser sah die betriebsbedingte Kündigung von 61 der damals beschäftigten 396 Arbeitnehmer vor. Die zu kündigenden Arbeitnehmer waren in einer Liste namentlich aufgeführt, darunter auch die Klägerin.

Nach den Regelungen des Interessenausgleichs sollte die Abteilung Marketing geschlossen werden. In dieser Abteilung war neben der Klägerin noch eine weitere Mitarbeiterin beschäftigt, die sich in Mutterschutz bzw. Elternzeit befand und zudem Betriebsratsmitglied war. Im Einkauf sollte von 3 Stellen eine Stelle entfallen. Im Vertrieb sollte ein Abbau von bislang 7 auf 5 Stellen erfolgen. Der Interessenausgleich sah dabei eine Sozialauswahl innerhalb bestimmter Vergleichsgruppen vor, wobei im Interessenausgleich insgesamt 79 Vergleichsgruppen gebildet wurden, u. a. die Vergleichsgruppe "61. Sachbearbeiter Einkauf", die Vergleichsgruppe "62. Vertrieb" und die Vergleichsgruppe "64. Marketing".

Mit Schreiben vom 26. März 2020 hörte der Beklagte den Betriebsrat zu beabsichtigten Kündigung der Klägerin an. In dem Anhörungsschreiben führte der Beklagte u. a. aus, die Klägerin sei im Bereich "Marktanalyse und Marktzugang" beschäftigt und damit der Vergleichsgruppe "64 Marketing" zuzuordnen. Da die Abteilung geschlossen werde, müsste eigentlich beiden in der Abteilung tätigen Mitarbeiterinnen gekündigt werden. Da der Mitarbeiterin B aber ordentlich nicht kündbar sei, müsse für diese nach der Rückkehr aus der Elternzeit ein anderer Arbeitsplatz gefunden werden. Weitere mit der Klägerin vergleichbare Arbeitnehmer gebe es nicht.

Nach Unterzeichnung des Interessenausgleichs kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom 27. März 2020 zum 30. Juni 2020.

Mit E-Mail vom 30. April 2020 teilte der Beklagte dem Betriebsrat mit, dass es leider erforderlich sei, umgehend Verhandlungen über einen erneuten Personalabbau aufzunehmen. Am 29. Juni 2020 unterzeichneten der Beklagte und der Betriebsrat schließlich einen weiteren Interessenausgleich, in dem u. a. folgendes festgehalten ist:

"Vorbemerkungen

...

Der Gläubigerausschuss hat in seiner Sitzung am 24.06.2020 entschieden, das Kaufangebot eines Kaufinteressenten wegen fehlender Nachhaltigkeit nicht an...

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