Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersetzung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Betriebsratsmitglieds wegen Diebstahlsverdachts
Leitsatz (redaktionell)
1. Die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Lagermitarbeiters kann als Verdachtskündigung jedenfalls dann auf Erkenntnisse aus der Videoüberwachung des Lagers gestützt werden, wenn diese auf einer Betriebsvereinbarung beruht.
2. Besteht aufgrund der Videoüberwachung ein begründeter Verdacht des Diebstahls von Eigentum des Arbeitgebers durch ein Betriebsratsmitglied, so ist der Betriebsrat zur Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses verpflichtet und diese gegebenenfalls gerichtlich zu ersetzen.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1; BetrVG § 103 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Aachen (Entscheidung vom 07.03.2017; Aktenzeichen 4 BV 47/16) |
Tenor
I.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Aachen vom 07.03.2017 - 4 BV 47/16 - abgeändert.
Die Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung des Beteiligten zu 3 wird gemäß § 103 Abs. 2 BetrVG ersetzt.
II.
Die Rechtsbeschwerde wird für den Betriebsrat und den Beteiligten zu 3 zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Ersetzung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung eines Betriebsratsmitglieds.
Die Antragstellerin betreibt einen Großhandel mit Computern und Computerteilen und beschäftigt insgesamt ca. 400 Arbeitnehmer. Das Betriebsratsmitglied S , geboren am 1968, verheiratet, drei Kinder, ist bei ihr seit dem 04.11.1996 als Lagermitarbeiter in dem Warenlager G Weg zu einem monatlichen Bruttogehalt von zuletzt ca. 2.309,00 EUR beschäftigt.
Das Lager G Weg wird videoüberwacht. In der "Betriebsvereinbarung über Kameraeinsatz im Lagerbereich" vom 05.12.2003 heißt es auszugsweise:
"(...)
§ 4 Zweck des Kamerasystems
Die durch das Kamerasystem angefertigten Aufnahmen dienen ausschließlich der Regulierung von Konflikten mit Kunden/Lieferanten (...) sowie der "Beweisführung" in einem begründeten Diebstahlsverdacht. Eine Überwachung des Verhaltens und der Ordnung der Mitarbeiter findet nicht statt. Ebenso soll durch die Aufnahmen geklärt werden, ob und wann a -Eigentum vorsätzlich beschädigt wird. Ist dies der Fall, ist der Betriebsrat zwingend hinzuzuziehen.
§ 5 Installation und Nutzung des Kamerasystems
1.
In einem Grundrissplan des Lagers wird die genaue Lage aller Kameras verzeichnet. Dieser Plan ist Bestandteil dieser Betriebsvereinbarung.
2.
Für jede installierte Kamera wird ein genauer Aufnahmebereich festgelegt. Hierzu werden Referenzbilder angelegt. Die Referenzbilder sind Bestandteil dieser Betriebsvereinbarung.
3.
(...)
4.
Nicht benötigte Film und Foto/Standbildaufnahmen, die durch das Kamerasystem angelegt wurden, werden spätestens nach 14 Werktagen gelöscht.
(...)"
Die Antragstellerin hegt gegen den Beteiligten S nach der Auswertung einer Videoaufzeichnung aus dem Lager den Verdacht, er habe am 07.10.2016 80 sog. SSD-Festplatten im Wert von 23.984,80 EUR, die später bei einem B Onlinehändler sichergestellt wurden und die dieser von einem polnischen Lieferanten erhalten haben will, in ihrem Warenlager G Weg beiseite geschafft.
Die Auswertung der Videoaufzeichnung aus dem Lager hatte zunächst der Leiter des Wareneingangs, der Zeuge Ferreira vorgenommen. Am 20.10.2016 spielte Herr F dem Beteiligten S die Videoaufzeichnung vom 07.10.2016 vor.
Am 26.10.2016 bat die Antragstellerin den Beteiligten S zu einer Anhörung in Anwesenheit ihres Verfahrensbevollmächtigten, des Personalleiters H sowie der Betriebsratsmitglieder St , Ste und M , denen die Videoaufzeichnung vom 07.10.2016 zuvor vorgespielt worden war. Der Beteiligte erklärte, zu dem Verdacht der Entwendung von Eigentum der Antragstellerin keine Aussage machen zu wollen. Die näheren Umstände sind zwischen den Beteiligten streitig.
Mit Schreiben vom 27.10.2016 bat die Antragstellerin den Betriebsrat wegen des Verdachts des Diebstahls von 80 SSD-Festplatten um Zustimmung zu der von ihr beabsichtigten außerordentlichen fristlosen Kündigung des Herrn S .
Mit Schreiben vom 31.10.2016 verweigerte der Betriebsrat die Zustimmung zu der Kündigung.
Mit ihrem am 03.11.2016 bei dem Arbeitsrecht A eingereichten Antrag begehrt die Antragstellerin die Ersetzung der Zustimmung.
Die Antragstellerin hat behauptet, am 05.10.2016 seien die 80 SSD-Festplatten als Teil einer Lieferung von insgesamt 100 Festplatten bei ihrem Eingangslager W angeliefert worden. Von diesen Festplatten habe der Mitarbeiter A die später abhanden gekommenen 80 Festplatten getrennt, in blaue Kunststoffboxen gelegt und gescannt. Daraufhin seien sie als Verpackungseinheit V (acht Verpackungseinheiten zu jeweils zehn Stück in zwei blauen Kunststoffbehältern) am 06.10.2016 um 7.30 Uhr in das Warenlager G Weg verbracht worden. Dies ergebe sich aus einem Screenshot des Warenwirtschaftssystems.
Am 14.10.2016 habe sie den Verlust der Festplatten festgestellt. Nachdem Nachforschungen im Warenlager fruchtlos geblieben seie...