Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen der Sperrwirkung eines Tarifvertrages gegenüber einer Betriebsvereinbarung
Leitsatz (amtlich)
Eine Betriebsvereinbarung ist nur dann wegen Verstoßes gegen die Sperrwirkung eines Tarifvertrages (§ 77 Abs. 3 BetrVG) ganz oder teilweise unwirksam, wenn sie Gegenstände von Tarifverträgen oder deren Anwendbarkeit eigenständig regelt. An einer eigenständigen Regelung (z. B. zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit) fehlt es, wenn eine Betriebsvereinbarung eine tarifvertragliche Bestimmung lediglich deklaratorisch wiedergibt und auf dieser Grundlage Festlegungen für den Betrieb (z. B. zur Schichtplanung) trifft.
Normenkette
BetrVG § 77 Abs. 3; BGB §§ 123, 313
Verfahrensgang
ArbG Schwerin (Entscheidung vom 24.02.2022; Aktenzeichen 5 BV 19/21) |
Tenor
1. Auf die Beschwerde der Arbeitgeberin (Beteiligte zu 2) wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Schwerin vom 24.02.2022 - 5 BV 19/21 - abgeändert, soweit das Arbeitsgericht die Beteiligte zu 2 verpflichtet hat, die Ziffer 10.1 der Betriebsvereinbarung "Schichtplangestaltung (zur Regelung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten und Lage der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeiten und Pausen auf die einzelnen Wochentage gemäß § 87 I Ziff. 2 und 3 BetrVG)" vom 22.06.2021 dergestalt umzusetzen, dass als Sollarbeitszeit 39 Stunden pro Woche zu Grunde gelegt und entsprechend im Arbeitszeitkonto berechnet werden. Insoweit wird der Antrag des Betriebsrats (Beteiligter zu 1) zurückgewiesen.
2. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
A.
Die Beteiligten streiten im Anschluss an ein vorangegangenes Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung nunmehr im Hauptsacheverfahren über die Durchführung einer Betriebsvereinbarung zur Schichtplanung, insbesondere über die Wirksamkeit dieser Betriebsvereinbarung.
Die Arbeitgeberin stellt Lebensmittel bzw. Vorprodukte hierfür her. Sie beschäftigt zurzeit 60 - 70 Arbeitnehmer, die zum Teil in Schichtsystemen arbeiten.
Am 04.03.2019 schloss die Arbeitgeberin mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) einen Haustarifvertrag, in dem es u. a. heißt:
"...
§ 6 Entgeltzahlung
...
Bis zum 31.12.2021 werden die Samstagszuschläge in Höhe von 20 Prozent gezahlt.
...
§ 10 Schlussbestimmungen
Dieser Tarifvertrag tritt am 01.02.2019 in Kraft. Er kann mit einer Frist von 1 Monat, frühestens zum 31.12.2022 gekündigt werden.
Zum 01.01.2022 wird der Manteltarifvertrag (MTV) der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009 übernommen.
..."
Der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009 (im Folgenden nur: MTV) sieht eine 39-Stunden-Woche vor, während bei der Arbeitgeberin bislang eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden galt. Nach § 5 MTV erhalten Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen Zuschläge für Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit. Zuschläge für Samstagsarbeit sind nach dem MTV nicht zu zahlen. Einzelne Arbeitnehmer verfügen jedoch über eine arbeitsvertragliche Zusage zur Zahlung von Samstagszuschlägen.
Zwischen Februar und Mai 2021 fanden insgesamt vier Einigungsstellensitzungen zur künftigen Schichtplangestaltung statt, in denen eine Betriebsvereinbarung erarbeitet wurde.
Mit E-Mail vom 21.06.2021 übersandte die Arbeitgeberin der NGG einen Entwurf zur Ergänzung des Haustarifvertrages in Form einer Protokollnotiz mit dem folgenden Inhalt:
"...
1. Der Manteltarifvertrag für die Obst und gemüseverarbeitende Industrie vom 14.03.2019 wird für die in Schichtarbeit beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Betrieb S. mit Ausnahme der Zuschlagsregelungen in § 5 MTV ab dem 01.07.2021 in Kraft gesetzt.
2. Der den in Schichtarbeit beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewährte Samstagszuschlag entfällt zum 30.06.2021 dauerhaft ersatzlos. Sollten einzelvertragliche Regelungen die Gewährung des Samstagszuschlages bestimmen, kann eine Verrechnung mit den durch den Tarifvertrag gewährten Vergünstigungen vorgenommen werden.
...."
Am 22.06.2021 unterzeichneten die Beteiligten die folgende
"Betriebsvereinbarung
Schichtplangestaltung (zur Regelung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten und Lage der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeiten und Pausen auf die einzelnen Wochentage gemäß § 87 I Ziff. 2 und 3 BetrVG)
...
2 Lage der Arbeitszeit, Beginn und Ende
2.1
Die Arbeit wird geleistet in
- Vollzeit/Teilzeit,
- Schichtarbeit oder
- Gleitzeit.
Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte beträgt derzeit 40 Stunden pro Woche. Ab Januar 2022 reduziert sich die Arbeitszeit für alle Beschäftigten (mit Ausnahme der AT-Angestellten im Sinne von § 1 Buchst. c MTV) auf 39 Stunden pro Woche. Für Teile der Belegschaft gilt die 39-Stunden-Woche bereits mit Abschluss dieser Betriebsvereinbarung. Einzelheiten dazu ergeben sich aus Ziffer 10.1 dieser Betriebsvereinbarung. D...