Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Änderungskündigung. Betriebsratsanhörung. TV Ratio. Sozialauswahl. Voraussetzungen der Anwendung des TV Ratio. Anforderungen an die Darlegung des auswahlrelevanten Personenkreises bei Durchführung einer Sozialauswahl im Rahmen einer betriebsbedingten Änderungskündigung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Durchführung einer Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG kommt nicht in Betracht, wenn der gekündigte Arbeitnehmer sich keiner betrieblichen Struktur mit vorhandenem Betriebsrat zuordnen lässt.
2. Die Anwendung des Tarifvertrages Rationalisierungsschutz und Beschäftigungssicherung (TV Ratio) setzt voraus, dass der von einer Rationalisierungsmaßnahme betroffene Arbeitnehmer durch die rechtsverbindliche Versetzung in die Vermittlungs- und Qualifizierungseinheit Vivento Transfermitarbeiter geworden ist.
3. Für die Durchführung einer Sozialauswahl im Rahmen einer betriebsbedingten Änderungskündigung ist in Ermangelung eines auswahlrelevanten Personenkreises dann kein Raum, wenn die von dem Kläger als weniger sozial schutzwürdig benannten Arbeitnehmer selbst keinen bei dem Arbeitgeber tatsächlich vorhandenen Arbeitsplätzen zugeordnet werden können und sich deshalb ebenfalls in individuellen Vermittlungsmaßnahmen befinden.
Normenkette
KSchG §§ 2, 1; BetrVG § 102 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Neubrandenburg (Entscheidung vom 03.02.2011; Aktenzeichen 4 Ca 472/10) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichtes Neubrandenburg vom 03.02.2011 - 4 Ca 472/10 - abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreites.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Rechtswirksamkeit einer betriebsbedingten Änderungskündigung vom 27.04.2010 mit Wirkung zum 30.11.2010.
Der Kläger war seit dem 15.07.1985 bei der Beklagten bzw. der Rechtsvorgängerin ausweislich des Arbeitsvertrages vom 15.02.1985 (Bl. 40/41 Band I d. A.) als "Monteur im allgemeinen Netzbau" beschäftigt. Die Eingruppierung des Klägers erfolgte in die Entgeltgruppe T 3.
Mit Schreiben vom 27.04.2010 sprach die Beklagte gegenüber dem Kläger eine Änderungskündigung aus (Bl. 8/9 Band I d.A.) und bot ihm ab dem 01.12.2010 die Übernahme der Tätigkeit als Sekretär im Fachbereich Corporate Procurement Strategy (Einkauf) am Arbeitsort in A-Stadt (Wertigkeit der Stelle T 3 bei einer tariflichen Wochenarbeitszeit von 34 Stunden) mit den folgenden Aufgabeninhalten an:
- allgemeine Sekretariats- und Büroaufgaben
- Terminkalender des Leiters führen
- Besprechungen vor- und nachbereiten
- Informations- und Präsentationsunterlagen erstellen
- Standardberichte erstellen
- Bürobedarf bestellen und verwalten
- Nachweise/Statistiken (auch Personalnachweise) führen
- E-Mail Account selbständig auslesen
- Dienstreisen organisieren und nachbereiten
- Tagesmappen erstellen.
Der Kläger nahm dieses Angebot nicht unter dem Vorbehalt der Überprüfung der Sozialwidrigkeit an. Seine gegen die Änderungskündigung gerichtete Klage ging am 14.05.2010 bei dem Arbeitsgericht Neubrandenburg ein.
In einem vorhergehenden Verfahren stritten die Parteien vor dem Arbeitsgericht Neubrandenburg (3 Ca 165/06) um die Rechtmäßigkeit einer ordentlichen Kündigung vom 23.01.2006 zum 31.08.2006. Hintergrund dieser Kündigung war die Auffassung der Beklagten, der Kläger habe als Mitarbeiter des Qualifizierungs- und Vermittlungsbetriebes V. trotz vorhergehender Abmahnung ein zumutbares Vermittlungsangebot in Anwendung des Tarifvertrages Rationalisierungsschutz und Beschäftigungssicherung (künftig TV Ratio) an die V. C. S. GmbH (VCS) mit einem Dauerarbeitsplatz als Fachkraft Technik nicht angenommen.
Mit Urteil vom 08.08.2006 gab das Arbeitsgericht Neubrandenburg der Klage unter Hinweis darauf statt, die Beklagte habe eine Versetzung des Klägers in den Qualifizierungs- und Vermittlungsbetrieb V. (bzw. den Vorgängereinheiten PMS und PSA) weder hinreichend dargelegt noch unter Beweis gestellt. Dem diesbezüglichen Vertrag sei der Kläger substantiiert entgegengetreten. Deshalb sei die Kammer davon ausgegangen, dass eine Versetzung des Klägers in die PSA bzw. V. nicht erfolgt sei. Mithin könne nicht festgestellt werden, dass der Kläger dem Regelungsbereich des TV Ratio unterfalle, so dass die Beklagte sich zur Rechtfertigung der Kündigung nicht auf die Vorgaben des TV Ratio berufen könne.
Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten blieb erfolglos. Der Kläger müsse zwar aufgrund seines tatsächlichen Einsatzes und der ihm bekannten Entwicklung gewusst haben, dass er in den Betrieb V. versetzt worden sei. Er habe damit den Regelungen des TV Ratio unterlegen und ein zumutbares Vermittlungsangebot nicht angenommen. Jedoch sei die Kündigung rechtsunwirksam, da dem Kläger kein zweites Vermittlungsangebot unterbreitet worden sei.
Mit Urteil vom 19.09.2008 - 2 AZR 414/07 - hob des Bundesarbeitsgericht die Entscheidung des LAG M/V vom 25.04.2007 auf und verwies die Rechtssache zur erneuten Verhandlung an das Landesarbeitsgeri...